Triggerwarnung: Dieser Artikel enthält plastische Beschreibungen von Selbstmord. Achtung, dieser Inhalt kann verstören.
An einem kalten Januartag im Jahr 2007 legte mein Vater sich auf die Gleise. Ich war 26, mitten im Studium und ahnte nichts. Ich saß gerade in der Uni-Bibliothek und lernte, als eine SMS meiner Stiefmutter kam. „Ruf mich bitte zurück.“ Wir hatten lange keinen Kontakt mehr gehabt. Also war sofort klar, dass etwas nicht stimmte. Ich bin raus aus der Bibliothek und habe sie angerufen. „Papa ist tot“, sagte sie, „er hat sich vor den Zug geworfen.“
Wenn man eine solche Nachricht bekommt, begreift man sie nicht sofort. Es ist komplett surreal. Unfassbar. Als würde auf einmal ein Außerirdischer vor dir stehen und „Hallo!“ rufen. Meine Stiefmutter sagte am Telefon, ich solle nach Hause gehen, sie hätte den Verwandten Bescheid gegeben. Ich fühlte mich wie in einer schlechten Fernsehsendung. Es war absurd, meine Tante, meinen Onkel und meine Stiefmutter zu treffen, die mit ernsten Worten die Lage diskutierten. Es war absurd, dass für mich als Einzelkind auf einmal der ganze Organisationsmist anfiel, dass ein Leichenbestatter im Zimmer saß und fragte, ob ich lieber einen gepolsterten oder einen ungepolsterten Sarg für meinen Vater wollte und der die Vorzüge von Eichenholz erklärte. Ich hörte allen zu und wollte rufen: „Okay, the joke is over, ihr könnt jetzt wieder gehen!“
Aber es war kein Witz. Die Polizei gab mir einen Aktenkoffer, den mein Vater dabei gehabt hatte, als er sich vor den Zug warf. Darin war ein frisch abgepacktes Seil. Er hat sich anscheinend Gedanken gemacht.
Ein Freund meines Vaters half mir, seine Wohnung auszuräumen. Danach stand er lange am Fenster in den leeren Räumen. Plötzlich brach er in Tränen aus. „Ich habe mit deinem Vater deine Mutter zu Grabe getragen, jetzt muss ich deinen Vater begraben, aber dich werde ich nicht begraben“, sagte er mir. Ich wusste natürlich, warum er das sagte. Denn auch meine Mutter hatte Selbstmord begangen, als ich anderthalb war.
Wir waren keine normale Familie
Ich bin mit meiner Stiefmutter in dem Glauben aufgewachsen, dass das meine richtige Mutter wäre. Wir waren wie eine ganz normale Familie. Aber instinktiv wusste ich, glaube ich, schon immer, dass bei uns etwas nicht stimmt. In unserer Kleinstadt in Baden-Württemberg war das mehr oder weniger ein offenes Geheimnis. In der Schule habe ich mich einmal mit einem Klassenkameraden gezofft. Er rief: „Du hast keine Mutter!“ Die Lehrerin ging sofort dazwischen und hat uns getrennt. Solche Szenen gab es ein paar Mal. Aber was dahintersteckte, erfuhr ich erst viel später.
Als ich 18 war, kriselte es in der Beziehung zwischen meinem Vater und meiner Stiefmutter. Das hat uns alle drei voneinander entfremdet. Vielleicht war mein Vater deswegen auf einmal bereit, mir die Wahrheit zu sagen. Wir trafen uns in einer Bar, setzten uns, bestellten Bier und er sagte gerade heraus: „Deine Mutter ist nicht deine richtige Mutter.“ Es hat mich nicht krass umgehauen, das zu hören. Ich war auch nicht sauer, dass er mir erst jetzt davon erzählte, sondern erleichtert. Weil ich wusste, dass mein Instinkt mich nicht betrogen hatte.
Mein Vater erzählte, wie meine leibliche Mutter nach meiner Geburt manisch-depressiv wurde. Manche Frauen bekommen eine Wochenbettdepression, die aber meistens nach vier bis sechs Wochen vorbei ist. Bei meiner Mutter war es anders. Sie war abwechselnd super gut drauf und glücklich, aber dann lag sie wieder tagelang im Bett und kam nicht raus. Im November ’82, da war sie 31, hat sie ihr Auto abgedichtet, sich hineingesetzt, den Zündschlüssel umgedreht und gewartet, bis sie an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben war.
Mein Vater meinte an dem Abend in der Bar, wenn ich Fragen hätte, könnte ich jederzeit auf ihn zukommen. Ich habe ihn aber nicht noch einmal darauf angesprochen. Ich hatte einfach kein Bedürfnis. Klar habe ich mir Fotos von meiner Mutter angesehen. Fotos von der Hochzeit, ein Babybuch mit Bildern von mir. Als ich ihr Gesicht sah, dachte ich: „Ja, das ist meine Mutter.“ Ich erinnere mich nicht an sie. Aber ich glaube, ich würde sie erkennen, wenn ich ihr auf der Straße begegnen würde. Ein gewisses Vermissen ist da. Manchmal frage ich mich, was passiert wäre, wenn sie sich nicht umgebracht hätte.
Ich glaube, dass mein Vater den Selbstmord seiner Frau nie richtig verwunden hat. Dass er sich den Rest seines Lebens gefragt hat, ob er es hätte verhindern können. Einmal meinte er zu mir, Geld und Besitz seien wenig wert, wenn man merkt, wie ein Mensch seelisch und psychisch zugrunde gehe und man nichts dagegen machen könne. Er hat sich sehr um meine Mutter bemüht. Während sie krank war, musste er Geld verdienen, den Haushalt und meine Erziehung schmeißen. Er ging mit ihr zu Spezialisten, aber letztlich konnte ihr niemand helfen. Mein Vater hat mir gesagt: „Leute, die ihrem Leben ein Ende setzen wollen, holst du nicht mehr zurück.“
„Ich war fertig mit der Welt“
Ich war immer der Meinung, mein Vater sei nicht der Typ, der seinem Leben ein Ende setzen könnte. Ich bin unglaublich gut mit ihm ausgekommen, er war ein großartiger Kerl. Aber ich kannte ihn auch nur bedingt. Er entsprach schon einem gewissen Männerklischee, weil er nie erzählt hat, wie es ihm ging. Wenn ich nicht auf ihn zukam und ihn direkt gefragt habe, blieb er stumm. In der Zeit vor seinem Selbstmord hatte er beruflich extrem viel Stress. Er hat geraucht wie ein Schlot, obwohl er es eigentlich längst aufgegeben hatte, und hat kaum gegessen. Ich war sehr mit meinem Studium beschäftigt, aber ich habe ihm gesagt, dass er jederzeit zu mir kommen könne, wenn es ihm schlecht ginge. Natürlich habe ich mir hinterher die Frage gestellt, ob ich nicht mehr hätte machen müssen.
Nach dem Selbstmord meines Vaters war ich eine Weile ziemlich aggressiv unterwegs. Eigentlich bin ich ja ein normaler Mittelschichtsjunge, habe nie Probleme gemacht. Aber nach seinem Tod war ich fertig mit der Welt. Da war noch nicht einmal Trauer, sondern nur diese Hoffnungslosigkeit und diffuse Wut. Alles war Scheiße, alles Müll. Beim Ausgehen habe ich Leute angepöbelt, wollte Schlägereien provozieren. Meine Freunde haben mich immer wieder davor retten müssen. Später haben sie mir gesagt, wenn ich in einen Raum kam, habe sich die ganze Atmosphäre verändert. Diesem Typen wollte man nicht zu nahe kommen. Meine Freundin sagte: „Wenn du so bist, fällt es mir schwer, mit dir zusammen zu sein.“ Die Beziehung ging dann auch kaputt.
Es ist hart genug, wenn Menschen eines natürlichen Todes sterben oder durch einen Unfall. Aber immerhin weiß man dann, woran es lag. Bei Leuten, die sich umbringen, weiß man nicht, wie es dazu kommt, dass die Person gar keinen Lichtblick mehr sieht, keinen Halt in der Familie. Es ist eine einsame und absolute Entscheidung, ein finaler Schlussstrich. Sie reden nicht mit dir. Mein Vater hat mir zwar einen Abschiedsbrief geschrieben, aber darin stand nur, ich solle auf mich aufpassen und darauf achten, wem ich mein Vertrauen schenke. Er hat wohl schlechte Erfahrungen mit Kollegen gemacht. Aber das „Warum“ hat er nicht wirklich beantwortet. So etwas lässt dich wahnsinnig hilflos zurück. Das war auch der unterbewusste Trieb dafür, dass ich so aggressiv geworden bin.
Es gab ein einziges Kondolenzschreiben, das mir geholfen hat (die anderen waren alle gleich). Ein Studienkollege meines Vaters schrieb mir: „Ihr Vater hat sich nur deswegen getraut, sich das Leben zu nehmen, weil Sie auf eigenen Füßen stehen. Er wusste, dass er Sie im Stich lassen kann, ohne dass Sie deshalb den Halt verlieren.“ Das war der einzige Brief, den ich mehrmals gelesen habe. Ich wusste, da war etwas dran.
Ich habe Verschiedenes ausprobiert, auch Selbsthilfegruppen. Aber ich habe schnell gemerkt, dass ich es nicht ertrage, mit diesen Leuten in einem Raum zu sein. Da ist so ein krasser Vibe, so niedergeschlagen, so fertig, ich konnte da nicht rumhängen. Letztlich bin ich zweieinhalb Jahre jede Woche zu einem Therapeuten gegangen. Das war extrem anstrengend, hat mich aber sehr aufgefangen.
Natürlich habe ich mir Gedanken gemacht, ob Selbstmord bei mir in der Familie liegt. Es gibt Leute, die sagen, dass die Tendenz vererbbar ist, andere behaupten das Gegenteil. Ich weiß es nicht. Aber ich habe mich schon gefragt: „Wie sollst du enden? Zerbrichst du auch irgendwann daran?“ Zwei Selbstmörder als Eltern zu haben, wertet das eigene Leben nicht unbedingt auf. Anscheinend warst du ja nicht Grund genug für deine Eltern, am Leben zu bleiben. Das ist schon ein Scheißgefühl.
Aber jetzt, fast zehn Jahre später, kann ich sagen, dass ich die Kurve gekriegt habe – und dass meine Geschichte so tragisch dann auch wieder nicht ist. Immerhin lebe ich in Deutschland, bin gesund und habe Kohle auf dem Konto. Leute wachsen in viel größerer Scheiße auf, Flüchtlinge zum Beispiel. Im Vergleich dazu habe ich ein ziemlich gutes Leben. Ich habe eine Freundin und eine kleine Tochter. Meine Freundin kennt meine Geschichte natürlich, aber sie weiß auch, dass ich anders bin als meine Eltern. Gerade weil sie sich umgebracht haben, weiß ich sehr genau, was das bedeutet. Das würde ich meiner Tochter nie antun. Ich bin nicht besonders gläubig, aber ich finde, wir können uns nicht entscheiden, wann wir gehen. Das steht uns nicht zu. Egal, wie hoffnungslos man sich fühlt. Das Leben ist ein Geschenk.
Wenn meine Kleine gleich mit dem Mittagsschlaf fertig ist, fahren wir mit ihr an den See. Ich mache mir keine Sorgen um mich.
(Name in Jan geändert)
Dieser Text ist Teil meiner Serie „Was ich wirklich denke“. Haben Sie einen interessanten Beruf oder sind in einer besonderen oder herausfordernden Lebenssituation und möchten uns und anderen_ anonym erzählen, was sie dabei wirklich denken? Die Polizistin, die berichten will, wie sie sich wirklich fühlt bei einem lebensgefährlichen Einsatz? Die Wissenschaftlerin, die für ihre Arbeit Tiere tötet? Oder der Ehemann, der seit Jahren eine Affäre hat und nicht mehr rauskommt? Dann schreiben Sie mir: theresa@krautreporter.de
Illustration: Sibylle Jazra für Krautreporter
Dieser Text soll keinesfalls für Suizid als Weg zur Bewältigung von Problemen werben, sondern das Schicksal eines Mannes aufzeigen. Bitte sprecht mit anderen Menschen darüber, wenn ihr an Selbstmord denkt. Hier gibt es Hilfsangebote, ihr könnt anonym bleiben. Ruft dort an, schreibt eine E-Mail oder nutzt die Möglichkeit zum Chat oder zum persönlichen Gespräch.