Eine Goldene Regel beim Hosenkauf lautet: Jeans prinzipiell etwas zu eng kaufen, da sie sich beim Tragen meist etwas ausdehnen und dann bis zum nächsten Waschen zu weit sind. Das gilt besonders für solche mit Stretchanteil. Etwas zu klein gekauft, passen sie nach dem ersten Tragen meist perfekt.
Trotzdem hat Krautreporter-Leserin Katy sich bei ihrem letzten Shoppingbummel gewundert: „Die Jeans-Größen einer bestimmten Marke haben mir immer gepasst. Und obwohl ich mich figürlich nicht verändert habe, kriege ich die plötzlich nicht mehr über die Oberschenkel. Als ich das Freundinnen erzählt habe, sagten die ebenfalls, sie hätten den Eindruck, dass die Größen nicht mehr stimmen.“ Die 36-Jährige ist 165 Zentimeter groß, wiegt 65 Kilogramm und trägt oben Konfektionsgröße 38, unten 38/40. Damit ist sie weder zu dick noch zu dünn, meine ich. Die selbstständige Grafikerin beschreibt sich selbst als „nicht dünn, aber sportlich“.
Wenn sie schon Schwierigkeiten hat, eine geeignete Hose zu finden, wie geht es dann erst molligeren Menschen, fragt sie sich: „Die Trend-Marken gehen bis Inch-Größe 32, manchmal 33, danach kommt nichts mehr.“ Noch schlimmer war es, als Katy vor dreieinhalb Jahren schwanger war. „Damals habe ich eine Umstandshose gesucht, nicht zu teuer, deshalb H&M. Knüller dort: Die Umstandshosen hatten alle den Schnitt skinny. Skinny für Schwangere, was für eine Ironie. Normalerweise sollte man dort in seiner angestammten Konfektionsgröße bleiben, ich musste allerdings eine 44 kaufen, damit das halbwegs funktioniert hat.“
Die Mutter einer dreijährigen Tochter fragt sich deshalb, ob die Jeansgrößen in den vergangenen Jahren kleiner geworden sind.
Eine kleine Umfrage unter Krautreporter-Kollegen hat ergeben, dass viele in der Vergangenheit ähnliche Erfahrungen gemacht haben, dass Schnitte nicht mehr passten, die früher gut saßen oder Konfektionsgrößen sich mutmaßlich verändert haben. Aber ist das rein subjektiv? Der Blick in die Zahlen soll helfen.
Das Hohensteiner Institut hat vor sechs Jahren im Auftrag der Textilindustrie die Deutschen vermessen. Zur repräsentativen Reihenmessung („Size Germany“) baten sie 13.362 Männer, Frauen und Kinder im Alter von 6 bis 87 Jahren. An bundesweit 31 Messstandorten ermittelten die Vermesser deren exakte Körpermaße. Das Ergebnis: Die Deutschen werden immer größer und kräftiger. Bei den Frauen zwischen 14 und 70 Jahren nahm die Körperhöhe im Vergleich zu vorherigen Messungen um mehr als einen halben Zentimeter zu, von 165,2 Zentimeter im Jahr 1994 auf 165,8 2009. Im Vergleich zu 1972 (162,1 Zentimeter) waren es sogar 3,7 Zentimeter.
Der Brustumfang ist seit 1994 um 2,3 Zentimeter gewachsen, die Taille gar um mehr als 4 und die Hüfte um knapp 2 Zentimeter.
Die Herren waren zuletzt im Jahr 1980 vermessen worden. Auch sie sind in der Zwischenzeit tüchtig gewachsen - Wohlstand sei dank.
Die Ergebnisse der Messung von 1980 wurden nie in die Praxis umgesetzt, weil sich die Branche nicht über eine neue Größensystematik für die Herrenkonfektion einigen konnte. Deshalb beruhten die Kleidergrößen bis in die 2000er Jahre hinein im Prinzip auf den Ergebnissen aus den Zeiten des Wirtschaftswunders. Das führte zu erheblichen Passformproblemen besonders bei jungen Männern, denn die Textilindustrie orientierte sich an längst überholten Maßtabellen. Erst die letzte „Size Germany“ fand Eingang in die Konfektionsgrößen der Hersteller. Sie führten unter anderem kurze und lange Größen auch für Männer ein, die für Frauen schon lange existierten.
Mehr als 100 Geldgeber haben die Reihenmessung 2009 finanziert: mehr als 80 bekannte Marken für Wäsche, Ober- und Sportbekleidung sowie die großen Kaufhäuser und fast alle in Deutschland produzierenden Automobilhersteller. Aus dem Datenpool haben die Experten in Baden-Württemberg neue Maßtabellen erstellt, die der Industrie als Grundlage dienen können. Sie sind nicht zuletzt auch grundlegend dafür, wie groß vom OP-Tisch bis hin zum Stuhl zahlreiche Möbel dimensioniert und Sitze und Bedienkomfort im Auto angepasst werden müssen.
Was die einzelnen Textilunternehmen nun aus den Zahlen machen, bleibt ihr teilweise bestgehütetes Geheimnis. Die Branche lässt sich nicht gern in die Maße gucken. Nicht zuletzt spiegelt sich das auch auf EU-Ebene wider. Die Europäische Union hat zwar vor gut 20 Jahren eine Norm EN 13402 eingeführt, um die Kleidergrößen zu vereinheitlichen, aber kaum ein Textilhersteller hält sich daran, muss er auch nicht. Ein Grund dafür ist die europaweit differierende Körpergröße der Menschen, wobei ein Nord-Süd-Gefälle besteht, das man auch in den Konfektionsgrößen wiederfindet. Beispiel: Wer in Deutschland 38 trägt, so wie du, Katy, der sollte in Italien zur 44 greifen und in Frankreich zur 40. Hinzu kommt, dass die Länder weltweit unterschiedlich vorgehen, um Kleidergrößen zu bestimmen. In Russland beispielsweise ergibt sich Größe 38 daraus, dass der Brustumfang durch zwei geteilt wird. Eine Frau mit einem Brustumfang von 76 Zentimeter trägt demnach Größe 38. In Deutschland aber werden davon noch sechs Zentimeter abgezogen (88 Zentimeter Brustumfang = Größe 38). In Spanien und Italien ist der Sprung zur nächsten Größe außerdem kleiner als hierzulande, wo die nächste nach vier Zentimetern beginnt.
Erstaunlich: Nach der Messung von 1994 ging die Größe 38 von 88 Zentimeter Brustumfang, 72 Taille und 97 Hüfte aus, in den 1960er Jahren waren das noch 88-68-90. Ziel der Unternehmen ist es, die Größe beizubehalten. Sie verändern lieber die Maße und nehmen bei der Hüfte einen Zentimeter weg und fügen bei der Taille einen Zentimeter hinzu. Die Größe 38 ist also heute tatsächlich eine andere als noch vor einigen Jahren. Und sie fällt von Firma zu Firma unterschiedlich aus.
Psychologie ist dabei alles. Ich habe in einem Artikel gelesen, dass Modehäuser mitunter einfach eine 38 zu einer 36 erklären, damit sich die Kundin wohler, das heißt schlanker fühlt. Sie zeichnen ihre Hosen dann einfach kleiner aus. Umgekehrt passiert das jedoch seltener, denn kein Unternehmen möchte seiner Kundin mit Größe 40 zumuten, plötzlich eine 42 zu tragen.
Was aber sagen nun die Jeanshersteller selbst dazu? Ich habe beim deutschen Unternehmen Mustang nachgefragt. Die Produktmanager dort haben mir vier interessante Erklärungsansätze genannt. Das sind sie:
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Die Einzelhändler straffen heute ihr Sortiment immer stärker. Das heißt: Randgrößen verschwinden häufig von der Fläche, da für den Händler in erster Linie die LUG (Lagerumschlagshäufigkeit, d. Red.) zählt.
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Unternehmen wie beispielsweise S. Oliver, Tom Tailor, verkaufen mittlerweile ebenfalls viele Denims, sind aber eben keine echten Jeanser. Das hier angebotene Sortiment hört daher oft schon bei einer Bundweite von 32 Inch auf.
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Es gibt mittlerweile so gut wie keine Non-Stretch-Denims auf den Flächen mehr. Entsprechend spielt sich alles im Stretch- und Superstretch-Bereich ab. Hier erscheinen Tragegefühl und Optik deutlich schmaler und machen vielleicht einen kleineren Eindruck – sollten aber aufgrund der hohen Elastizität dennoch passen.
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Auch wenn immer neue Passformen und Beinsilhouetten hinzukommen, ist der Großteil der angebotenen Hosen immer noch skinny, skinny, skinny. Ein Non-Stretch-Kunde mit der Vorliebe für Straight Cuts wird auf der Suche nach einer neuen Denim sicher das Gefühl haben, die Hosen seien alle schmaler als früher.
Bei all diesen Parametern muss der Kunde erst einmal durchblicken - beziehungsweise: sich wohl oder übel durchprobieren. Insofern, liebe Katy, stimmt dein Eindruck dahingehend, dass die Kleidergrößen sich verändert haben.
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