Bin ich normal, wenn ich mich als Erwachsene nicht erwachsen genug fühle?
Leben und Lieben

Bin ich normal, wenn ich mich als Erwachsene nicht erwachsen genug fühle?

Bin ich normal? Diese Kolumne beantwortet eure Fragen nach Durchschnitt und Ausnahme. In dieser Folge gehe ich der Frage von Krautreporter-Leserin Marie nach, ob es normal ist, sich nicht erwachsen zu fühlen, obwohl man es eigentlich ist.

Profilbild von Kolumne von Susan Mücke

Früher war es so: Erwachsen war, wer eine Ausbildung abgeschlossen hatte, zu Hause ausgezogen und finanziell unabhängig war, der geheiratet und Kinder in die Welt gesetzt hatte. Diese Stationen sind heute jedoch nicht mehr so klar bestimmten Lebensaltern zuzuordnen. In den letzten Jahren sind die Grenzen immer fließender geworden. Die einen wohnen noch mit 29 Jahren zu Hause, andere jobben erst, bevor sie eine Ausbildung anfangen, viele Frauen bekommen erst mit 40 Kinder, einige Männer hängen ihr Leben lang am finanziellen Tropf der Eltern. Sind oder fühlen sie sich deshalb nicht erwachsen?

Krautreporter-Leserin Marie ist 43 Jahre alt, dem Alter nach also erwachsen, fühlt sich aber nicht so. Ihr wichtigster Punkt: „Ich würde gerne gefestigt(er) sein. Ich würde gerne eine Selbstsicherheit haben, die ich aber vermisse.“ Dabei lässt ihr Lebenslauf vermuten, dass sie selbstbewusster und durchsetzungsstärker ist als viele ihrer Altersgenossinnen: „Ich bin Akademikerin, komme aus Österreich, lebe als Single und ohne Kind in Berlin und Hamburg. Bis vor Kurzem war ich arbeitslos. Ich habe in meinem Leben ziemlich viel in Bildung investiert, viel Geld, viel Zeit und Energie – und befinde mich im dritten Postdoc-Projekt, das mir jetzt zwar schon Geld und etwas Sicherheit gibt, aber nur für zwei Jahre. Und für diese Stelle muss ich nun wieder pendeln oder umziehen.“ Was ihr Liebesleben betrifft, so hat sie einige Beziehungen hinter sich, „die sehr unterschiedlich waren, von zusammenlebend und lange (zehn Jahre) bis unverbindlich und gelegentlich sehen. Ich war mit einer Frau liiert, das war meine letzte Beziehung, und zuvor über zehn Jahre mit einem verheirateten Mann in einer Liebesbeziehung.“

Konsumenten sollen sich wie kleine Kinder verhalten

Du vermutest, liebe Marie, dass viele Menschen mit dem Gefühl herumlaufen, klein und unwissend, unselbständig und hilfsbedürftig zu sein, dass die Gründe dafür aber nicht unbedingt in der Psychologie, sondern in der Gesellschaft zu suchen sind. Ich denke, viele Leser werden dem zustimmen. Ich finde das einen spannenden Gedanken, so wie du, zu fragen, ob nicht Kapitalismus und Konsumgesellschaft uns alle zu Kindern macht oder als solche hält. Dieser Frage ist der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber vor einiger Zeit in seinem Buch „Consumed!“ nachgegangen. In einem Interview erklärt er: „Erwachsene müssen sich, damit sie konsumieren, so impulsiv wie kleine Kinder verhalten: ‚Ich will! Ich will! Ich will!‘ Sie werden so infantilisiert.“

Was das Erwachsensein betrifft, geht es Krautreporter-Leserin Therese ähnlich. Sie schreibt: „Wenn mich jemand unvorbereitet fragt, wie alt ich bin, habe ich das Glück, dass ich 1980 geboren wurde, ich muss also nicht groß rechnen, sondern weiß, wir haben 2016, also muss ich 36 sein. Aber normalerweise ist es mir nicht bewusst und ich muss kurz darüber nachdenken. Hinzu kommt, dass ich das Kindchenschema sehr gut bediene. Ich sehe deutlich jünger aus (in der Regel werde ich auf 26 geschätzt, niemals jedoch auf über 30) und fühle mich auch eher wie Mitte/Ende 20.“

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Alkohol trinken, zur Wahl gehen, Auto fahren – mit 18 Jahren gilt man in Deutschland als volljährig. Nach Ansicht von Psychologen aber setzt die tatsächliche biologische Reife erst später ein. Gehirn und Nervensystem sind erst mit Anfang 20 erwachsen. Die soziale Reife kann sogar noch später einsetzen. Martin Pinquart von der Uni Marburg etwa nennt drei Kriterien, nach denen man erwachsen ist: „Erstens: die Altersgrenze. Zweitens: der Vollzug von Rollenübergängen ins Erwachsenenalter. Und drittens: die psychosoziale Reife, die zeigt, ob jemand Verantwortung übernimmt für das eigene Verhalten.“ Nur weil jemand 18 Jahre alt ist, heißt das also nicht, dass er automatisch erwachsen ist.

Zwischen Jugend und Erwachsensein gibt es eine Zwischenstufe

„Emerging Adults“ nennt der US-Psychologe Jeffrey Jensen Arnett jene 20- bis 30-Jährigen, die immer später erwachsen werden. Dabei handelt es sich um eine Zwischenstufe zwischen Jugend und Erwachsenenalter. Übrigens bezeichnen Experten 25 auch als das neue 18. In Großbritannien sollen dementsprechend künftig Patienten von 0 bis 25 Jahren in der Jugendpsychiatrie behandelt werden. Derzeit liegt das Höchstalter ebenso wie in Deutschland bei 18 Jahren (in Ausnahmefällen bei 21).

Wie kann ich deine Frage nun mit Hilfe von Daten beantworten, liebe Marie? Das geht eigentlich nur über Umwege. Für eine frühere Kolumne über Egoismus hatte ich mir die Shell-Jugendstudie angesehen, in der Jugendliche und junge Erwachsene regelmäßig danach befragt werden, wie sie leben, was sie denken und was ihnen wichtig ist. Die jungen Leute haben in der jüngsten Befragung ziemlich vernünftige Dinge geäußert, Beruf und Familie seien ihnen wichtig, auch wenn der Kinderwunsch, vor allem bei jungen Männern, leicht zurückgeht und derzeit nur noch 64 Prozent Nachwuchs wollen (2005 waren es noch 69 Prozent). Sie streben Jobs mit gutem Einkommen und Aufstiegschancen an. Das klingt doch ziemlich erwachsen, aber auch ein bisschen nach dem, was dich am „Erwachsensein“ stört, liebe Therese. Denn du verbindest damit „ein biederes Leben, das wenig Spaß zulässt und dem eine gewisse Leichtigkeit fehlt“. Aber muss das sein? Und gilt oder fühlt man sich deshalb weniger erwachsen? Zahlenmäßig ist das schwer zu greifen.

Denn äußere Lebensereignisse, die statistisch in der Regel gut erfasst sind, können nur bedingt zu Rate gezogen werden. Auch Therese baut ein Haus, hat einen festen Job als IT-Beraterin und gemeinsam mit ihrem Freund eine kleine Tochter, für die sie in jeglicher Hinsicht Verantwortung übernimmt.

Wie Peter Pan das Leben als ewiges Spiel nehmen

Für Männer, die nicht erwachsen werden, gibt es einen Fachbegriff. Der amerikanische Familientherapeut Dan Kiley hat für sie den Begriff Peter Pan Syndrom geprägt, angelehnt an den Haupthelden der gleichnamigen Kindergeschichte, der das Leben als ewiges Spiel nimmt, und der am Ende einsam zurückblickt. Wohl jeder kennt einen solchen Peter Pan und ist von ihm genervt oder amüsiert, zumindest aber fasziniert. Ein ähnlicher Begriff für ewige Mädchen existiert meines Wissens nicht, auch wenn es sie zweifelsohne gibt.

Interessant finde ich die Beobachtung des britischen Soziologen Frank Furedi, dass sich „immer mehr junge Erwachsene Kinderfilme im Kino“ anschauen und dass „von den Zuschauern des Kinderprogramms in Amerika 25 Prozent nicht mehr als Kinder zu bezeichnen sind“. Das heißt natürlich nicht, dass all jene nicht erwachsen werden wollen, aber doch zumindest, dass sie gerne in kindliche Welten abtauchen, so wie du, Therese, die gerne albern ist, wie du schreibst, deine Tochter „mit blöden Geräuschen und Grimassen zum Lachen“ bringst und auch deinen Kollegen wünschst, dass sie mal „was Verrücktes machen und etwas Selbstloses tun, nur um jemand anderen zum Lachen zu bringen“.

Abschließend möchte ich noch statistische Schlaglichter auf einige Aspekte werfen, die mit Erwachsensein zu tun haben. Nehmen wir zunächst den Alkoholkonsum. Die Zahl der Komatrinker ist in den vergangenen Jahren zurückgegangen. 13 Prozent weniger Jugendliche mussten im Jahr 2013 stationär behandelt werden. Dennoch landeten immer noch durchschnittlich 336 Jungen und junge Männer (je 100.000 Einwohner) wegen Alkoholmissbrauchs im Krankenhaus. Bei den Mädchen und jungen Frauen waren es 253. Und fast jeder fünfte Jugendliche betrinkt sich mindestens einmal im Monat.

Junge Erwachsene sind auch besonders häufig für Unfälle im Straßenverkehr verantwortlich. Fast jeder fünfte Unfall mit Personenschaden (19,8 Prozent) durch einen PKW wurde von einem 18- bis 24-Jährigen verursacht. Meistens ist eine „nicht angepasste Geschwindigkeit“ dafür verantwortlich.

Deine Frage, liebe Marie, lässt sich also nicht ohne Weiteres beantworten, denn es gibt keine Norm, wie sich ein Erwachsener fühlen sollte, wenn er erwachsen ist, und auch keine Erhebung dazu. Schon das Erwachsensein auf einen Begriff zu bringen ist schwer, denn es ist immer ein individuelles Zusammenspiel aus sozialer, psychischer, biologischer und altersmäßiger Reife. Festzuhalten bleibt aber, dass die Grenzen zwischen Kindheit, Jugend und Erwachsensein immer fließender werden, da sich gleichzeitig die äußeren Wegmarken verschieben. Insofern ist es wirklich nicht unnormal, wenn man sich als Erwachsene nicht immer so fühlt.

Zum Abschluss möchte ich deshalb dich, Marie, selbst noch einmal zu Wort kommen lassen, da du ein paar spannende Vermutungen anstellst: „Ich frage mich, wo sind die, die sich erwachsen fühlen, wer sind sie und warum fühlen sie sich so? Mal habe ich den Verdacht, dass Menschen, die nicht so wohlgesonnen aufgewachsen sind (wie ich, die als Kind alles hatte und um nichts kämpfen musste), sich eher erwachsen und reif fühlen, aus Erfahrung eben. Dann wieder habe ich den Verdacht, jene, die weniger kämpfen mussten und mehr beruflichen Erfolg hatten als ich, (weil sie mehr Glück oder Akademiker-Eltern hatten oder männlich sind usw.) sich deshalb auch früher anerkannt fühlten und daher erwachsen. Mal denke ich, die, die sich erwachsen fühlen, denken darüber gar nicht nach. Es ist also wirklich total normal, sich erwachsen zu fühlen, deshalb fällts auch niemandem auf.“


Aufmacherfoto: Hugh Grant als Will Freeman (38) und Nicholas Hoult als Marcus (12) im Film „About a Boy“ (© Universal Pictures)

Redaktion: Vera Fröhlich.