Ehrlich gesagt, versuche ich nicht immer, objektiv zu sein. Wenn mir ein Kandidat total unsympathisch ist, lehne ich ihn vielleicht ab, auch wenn er für die Stelle gepasst hätte. Dann rede ich mir ein, dass er sowieso nicht für die Firma geeignet gewesen wäre. Obwohl ich ihn vielleicht einfach nicht mag und ihm deswegen keine Chance geben will. Wahrscheinlich ist das nicht so, wie man es eigentlich machen sollte. Andererseits denke ich, dass einer, den ich überhaupt nicht mag, bei den Arbeitskollegen wahrscheinlich auch nicht gut ankommen würde.
Skype-Interview vor einem vermüllten Zimmer
Wenn Firmen mich beauftragen, passende Mitarbeiter für sie zu finden, führe ich mit den Kandidaten Skype-Interviews. Dabei muss ich nicht nur herausfinden, was die Leute für Qualifikationen haben, sondern auch, was sie für Menschen sind, was hinter der Fassade steckt. Das mache ich, um zu verstehen, ob sie zu der Firma passen, für die ich suche. Dafür muss ich sie aus dem Konzept bringen. Es ist interessant zu sehen, wie die Bewerber reagieren, wenn sie gerade routiniert ihren Lebenslauf erzählen und dann eine überraschende Frage kommt. Ich frage zum Beispiel, was ihr schlimmster Arbeitstag war und wie sie damit umgegangen sind. Oder ich frage sie zwei Fragen auf einmal – „Worauf legst du bei deiner Arbeit am meisten Wert und was wolltest du als Kind werden?“ – und schaue dann, ob sie beides beantworten, ob sie von einem Thema zum anderen springen können oder ob sie eine Frage vergessen.
Es gibt immer wieder skurrile Momente
Wenn meine Interviewpartner sich zum Beispiel extra einen Anzug für das Video-Interview anziehen, um einen guten Eindruck zu machen, aber überhaupt nicht darauf achten, vor welchem Hintergrund sie sitzen. Dann sehe ich zum Beispiel den Typ im Anzug vor einem total vermüllten Zimmer. Oder vor gruseligen grünen Tapeten mit Hirschgeweihen und ausgestopften Wildtieren. Andere wiederum stellen extra beeindruckende Bücher ins Regal hinter sich, damit ich denke: „Oh, der liest gerade etwas über Extreme Programming! Toller Typ.“
Ich selbst habe aber auch schon lustige Fehler gemacht. Einmal habe ich einen Kandidaten in Russland anrufen wollen, aber seinen Namen bei Skype falsch angegeben. Erst mal habe ich mich gewundert, dass der Mann so schlecht Englisch konnte. Er schien aber sehr an dem Job interessiert. Nach einer Weile stellte sich heraus, dass ich einen 15-jährigen Ukrainer am anderen Ende der Leitung hatte.
„Hands-On!“ – „Go-Getter!“ – „Teamplayer!“
Vor ein paar Jahren haben Berliner Startups noch sehr versucht, Silicon-Valley-Firmen 1:1 nachzumachen. Das hatte oft lächerliche Ergebnisse. Es wurden Zitate von Steve Jobs und Gandhi an die Wände gemalt, externe Coaches eingeflogen und diese typischen Team-Events organisiert, bei denen sich die Leute durch die Wildnis jagen oder von der Tischkante in die Arme der Kollegen fallen lassen. Das ist mittlerweile weniger geworden, aber Fremd-Scham ist schon Teil meines Berufs.
Was sicher auch daran liegt, dass ich so viel von der Branche und den Menschen darin sehe. Da merkt man schnell, wie sich bestimmte Muster wiederholen, wie die Leute versuchen, sich darzustellen und wie schief das oft geht. Allein die Bewerbungen, die manche schicken! Ich reagiere schon fast allergisch auf Worte wie „Hands-On“, „Go-Getter“ und „Teamplayer“. Besonders die Amerikaner werfen gerne mit solchen Phrasen um sich. Oder die Leute versuchen, sich als die perfekten Startup-Mitarbeiter darzustellen, die alles können, nach dem Job noch mit den Kollegen Bier trinken gehen und nie Freizeit brauchen.
Manche schreiben auch nur: „Hiermit bewerbe ich mich bei ihrer Firma.“ Man weiß aber nicht, wofür. Das sind dann so die Asperger-Kandidaten.
Gerade bei den jüngeren Software-Typen gibt es außerdem das Phänomen, dass sie mit total überzogenen Forderungen kommen. Die wissen, dass ihr Job der am meisten nachgefragte ist und denken, sie könnten ganz viel Geld verlangen, auch wenn sie erst seit einem Jahr aus der Uni raus sind.
400.000 Euro pro Jahr Gehaltsforderung – nicht verhandelbar!
Der extremste Fall war ein Kandidat, der eine Bewerbung mit sechs eng beschriebenen Seiten geschickt hat, in deren Mitte extra hervorgehoben seine Gehaltsforderung stand: 400.000 Euro pro Jahr plus sämtliche Benefits – nicht verhandelbar! Gleichzeitig meinte er, dass er nicht in die Details gehen müsse, was seine Qualifikationen betrifft. Der Text war ein zerstückelter wirrer Gedankenstrom, wo diverse Themen angeschnitten, aber nichts zu Ende geführt wurde. Der Kandidat hat es geschafft, sich gleichzeitig selbst zu beweihräuchern und nichts über sein Leben auszusagen. Er wurde dann abgelehnt.
Manchmal, wenn ich privat mit Menschen rede, merke ich, dass ich jetzt tiefere Gespräche führe. Weil ich mir wegen meines Jobs auch mehr Gedanken darüber mache. Zum Beispiel darüber, was für Auswirkungen es hat, wenn ich eine Frage stelle. Natürlich ist ein Gespräch auf einer Party anders als eine Jobsituation. Bei letzterer bin ich ja in einer Machtposition und sitze am längeren Hebel, die Leute müssen die Fragen beantworten. Aber ich weiß: Wenn man hinter die Fassade eines Menschen kommen will, ist es immer gut, sie nach Ereignissen aus der Vergangenheit zu fragen. Es ist schwieriger, sich etwas auszudenken, wenn man sich zurückerinnert.
(Name in Ludwig geändert)
Dieser Text ist der Beginn meiner neuen Serie „Was ich wirklich denke“. Haben Sie einen interessanten Beruf oder sind in einer besonderen oder herausfordernden Lebenssituation und möchten uns und anderen_ anonym erzählen, was sie dabei wirklich denken? Die Polizistin, die berichten will, wie sie sich wirklich fühlt bei einem lebensgefährlichen Einsatz? Die Wissenschaftlerin, die für ihre Arbeit Tiere tötet? Oder der Ehemann, der seit Jahren eine Affäre hat und nicht mehr rauskommt?Dann schreiben Sie mir: theresa@krautreporter.de
Illustration: Sibylle Jazra für Krautreporter.