„Bei Menschen, die ich mag, will ich mich nicht aufdrängen“, schreibt mir Krautreporter-Leserin Simone. „Ein Anruf aus dem Nichts erscheint mir fast schon so übergriffig wie das Klingeln an ihrer Tür, ohne mich vorher anzumelden. Kunden und Auftraggeber hingegen rufe ich an, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass ich sie stören könnte“, erklärt Simone. „Aufgrund der Existenz von Messenger-Diensten steigt für mich die Hemmschwelle, jemanden wirklich anzurufen und damit unmittelbar zu stören.“
Die 30 Jahre alte Doktorandin der Soziologie beschreibt damit ein Gefühl, das sicherlich viele Menschen teilen – die Furcht, im unpassenden Moment anzurufen, ungelegen zu sein, „einen Gesprächspartner unter Druck zu setzen, tatsächlich unmittelbar erreichbar sein und reagieren zu müssen“. Sie selbst fühlt sich von den meisten Anrufern wirklich gestört, die sie aus heiterem Himmel kontaktieren, hat aber ein schlechtes Gewissen, „ein Telefonat wegzudrücken oder klingeln zu lassen, bis der Anrufende aufgibt“.
Meine Freundin L. hingegen fürchtet sich vor jedem Anruf, den sie bei Ämtern, Ärzten oder Unbekannten tätigen muss. Sie weicht dem aus, geht persönlich vorbei, lässt ihren Freund das erledigen oder schreibt, wenn möglich, eine E-Mail. Spontan, Freunde und Bekannte anzurufen, macht ihr wiederum nichts aus.
Ein noch größeres Problem aber hat Krautreporter-Leserin P., die vor jeglichen Telefonaten, mit wem auch immer, Angst hat.
Vor 155 Jahren hat der Physiker Philipp Reis im hessischen Friedrichsdorf das erste funktionstüchtige Telefon erfunden und tatsächlich damit etwas übertragen. Doch während sein Apparat damals noch kaum jemanden interessierte, können wir heute im Alltag nicht mehr vollständig darauf verzichten. Die Deutschen sind ein Volk der Vieltelefonierer. Jeder Bundesbürger hat im vergangenen Jahr durchschnittlich knapp 60 Stunden am Telefon verbracht, d.h. fast zweieinhalb Tage oder durchschnittlich neun Minuten täglich. Das hat der Branchenverband Bitkom auf Basis von Daten der Bundesnetzagentur ermittelt. Berechnet man ein, dass Menschen wie P. nur sehr wenig telefonieren, müssen andere noch sehr viel mehr Lebenszeit am Hörer verbringen.
Laut Statistischem Bundesamt gibt es kaum einen Haushalt ohne Festnetztelefon, 91,5 Prozent besitzen eines. Hinzu kommen Mobiltelefone: Nach einer repräsentativen Umfrage im Bitkom-Auftrag haben 87 Prozent aller über 14-Jährigen mindestens ein Handy.
Doch während den meisten Anrufe etwa beim Amt oder Terminvereinbarungen beim Arzt einfach nur unangenehm sind, lösen sie bei einigen unkontrollierbare Ängste aus. Für sie werden Telefonate zum Horrortrip, egal, ob sie jemanden anrufen sollen oder angerufen werden. Sie erröten, zittern, schwitzen, bekommen Herzklopfen, Übelkeit, Durchfall, Muskelverspannungen. Eine klinische Diagnose Telefonphobie gibt es zwar nicht, ebenso keine konkreten statistischen Daten, dennoch ist die Angststörung bei Psychotherapeuten bekannt. Die Telefonierangst macht auch vor Prominenten nicht Halt. So hat die Schauspielerin Keira Knightley der Zeitschrift „TV Spielfilm“ berichtet, dass sie seit Jahren darunter leide und vollkommen glücklich sei, „wenn ich zu Hause sitze, einen Film gucke und meine Freunde einfach vorbeikommen und ein Glas Wein mit mir trinken“.
Experten rechnen die Telefonphobie zu den sogenannten Sozialen Phobien. Darunter versteht man klinisch bedeutsame, anhaltende Angst- und Vermeidungsreaktionen bis hin zu Panikattacken, die durch soziale oder Leistungssituationen ausgelöst werden. Die Phobie ist von einfacher Schüchternheit abzugrenzen, die eine Wesensart und keine Krankheit ist. Betroffene wie du, liebe P., leiden so sehr darunter, dass sie privat und beruflich erheblich eingeschränkt sind.
3,6 Prozent der Frauen und 1,9 Prozent der Männer leiden darunter. Europaweit sind es nach einer Studie von Hans-Ulrich Wittchen vom Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie der TU Dresden durchschnittlich 2,3 Prozent. Etwa 11 Prozent der Deutschen erkranken irgendwann in ihrem Leben einmal daran. Häufig treten Soziale Phobien wie die anderen Angststörungen zusammen mit Depression und Alkohol- oder Drogenabhängigkeit auf. Viele Menschen leiden nach Ansicht von Experten zudem unter ähnlichen Symptomen, müssen aber nicht behandelt werden.
Typische Auslöser sind: mit oder vor anderen zu sprechen, an Veranstaltungen teilzunehmen, dort womöglich eine Rede zu halten, gemeinsame Essen, Prüfungen zu absolvieren oder eben zu telefonieren. Die Phobiker können zwar sehen, dass ihre Angst unbegründet oder übertrieben ist, sind aber nicht in der Lage, sie einzudämmen. Das Ausmaß der Beeinträchtigung kann je nach Belastung und Lebensphase schwanken. Bleibt sie unbehandelt, kann sie jedoch lebenslang anhalten. Erstaunlicherweise empfinden Telefonphobiker einen direkten Kontakt als weit weniger anstrengend als die indirekte Kommunikation. Dennoch sind E-Mails für sie das erste Mittel der Wahl, um Telefongesprächen aus dem Weg zu gehen.
Im Gegensatz zu anderen Angststörungen erkranken die Betroffenen bereits früh, durchschnittlich mit Anfang 20. Generalisierte Angststörungen (Männer: 39,3 Jahre, Frauen: 33,6 Jahre) oder Panikstörungen (Männer: 35,2, Frauen: 29,2) treten eher später auf. Auffällig ist, dass häufig Jugendliche an Sozialer Phobie erkranken, nämlich mehr als jeder zehnte zwischen 14 und 20 Jahren. Dabei sind junge Frauen doppelt so oft betroffen wie Männer.
Soziale Phobien verursachen unter den psychischen Erkrankungen die meisten Krankentage. Bei Männern sind es durchschnittlich knapp anderthalb Arbeitswochen im Monat, bei Frauen gut zwei Tage. Erkrankte müssen auch durchschnittlich länger zu Hause bleiben als bei körperlichen Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Beschwerden oder Magen-Darm-Erkrankungen.
Deutschlandweit existieren nach Angaben des Bundesverbands der Selbsthilfe etwa 50 Sozialphobie-Gruppen. In den günstigsten Fällen kommt auf 17.500 (Bremen) bzw. 19.750 (Niedersachsen) Betroffene eine Selbsthilfegruppe. Im ungünstigsten Fall (Bayern) sind es 145.800, wobei natürlich nur ein geringer Teil von ihnen tatsächlich auch die Gruppen besucht.
Die Antwort auf deine Frage, liebe P., muss wohl heißen: Die meisten Menschen haben keine Angst vor Anrufen jeglicher Art. Aber sehr viele kennen das unangenehme Gefühl, das manche Telefonate auslösen können, gerade weil man sein Gegenüber nicht sehen und dessen Reaktion nicht einschätzen kann.
Aufmacherfoto: Grace Kelly im Film „Bei Anruf Mord“ (© Warner Bros.)