Der Taktik-Spickzettel für dich (und die anderen Sofatrainer)

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Leben und Lieben

Der Taktik-Spickzettel für dich (und die anderen Sofatrainer)

Jaja, was Abseits ist, weiß nun wirklich jedes Kind. Aber wieso war Jürgen Klopp mit Dortmund so erfolgreich? Warum schwärmen alle von dem „Taktiker Pep Guardiola“, und was zur Hölle ist ein Matchplan? Mit diesem Text verstehst du besser, was auf dem Platz passiert.

Profilbild von von Dominik Wurnig, aktualisiert von Tobias Eßer

Diesen Text haben wir am 14. Juni 2018 aktualisiert.


In fast 150 Jahren Fußball hat sich so etwas wie eine Parallelsprache herausgebildet, in der es von Fachausdrücken und Jargon nur so wimmelt. Der Unterschied zu anderen Parallelwelten: Alle zwei Jahre kapert der Fußballwahn (nahezu) die ganze Gesellschaft. Wer aber bei Fußball unter dem Jahr dem Umschaltimpuls folgt, und wer Bundesligaspielen generell aus dem Weg geht, weiß aber wohl auch wenig über die taktischen und strategischen Veränderungen bei der schönsten Nebensache der Welt.

Dieser Guide soll ein Angebot für Schönwetterfans sein, mehr davon zu verstehen, was Schlechtwetterfans und Fußballkommentatoren so sagen. Frei von Jargon versuche ich Fachausdrücke und taktische Konzepte in einfache Wörter zu übersetzen. Wer nie ein Fußballspiel schaut und den Sportteil der Zeitung stets weglegt, sollte vor dem weiterlesen auf die kleine Sprechblase rechts neben diesem Absatz klicken. Dort habe ich die absoluten Grundlagen wie Einwurf oder Abstoß erklärt. Wer hingegen weiß, was ein Einwurf und andere simple Fachausdrücke sind, kann gleich direkt zu den „fortgeschrittenen“ Taktiken wie Gegenpressing oder der Falschen 9 springen.

Die Grundlagen sind drin, Coach. Was kommt jetzt?

So, nun geht es in den anspruchsvolleren Part. Wer Fußball seit Jahren verfolgt oder auch selbst spielt, kennt dies wahrscheinlich auch schon. Für alle Schönwetterfans, die bei Großereignissen einfach Spaß an der Euphorie haben, gibt es hier einige nützliche Infos.

Viele der unten erklärten Taktiken und Strategien sind Mittel, um den Gegner zu besiegen, und wiederum Gegenmittel, um dies zu verhindern. Als Waffe gegen den Ballbesitzfußball wird das Gegenpressing und das Konterspiel eingesetzt. Die falsche 9 ist eine Reaktion auf die raumorientierte Viererkette; der Antizipationskeeper übernimmt Aufgaben des wegfallenden Liberos.

Die Mittel werden hier schematisch und vereinfacht erklärt; kein erfolgreiches Fußballteam setzt nur eine dieser Strategien in reiner Form ein. Ganz im Gegenteil, erfolgreiche Mannschaften kombinieren je nach Spielstand, Gegner und eigenem Personal die Strategien, um zum Erfolg zu kommen. Gerade die Kombination und der richtige Einsatz der raumorientierten Viererkette, des Ballbesitzfußballs, der falschen 9, des Gegenpressings und des schnellen Konters hat Mannschaften wie den FC Barcelona, Bayern München und Juventus Turin sowie die deutsche und die spanische Nationalmannschaft so erfolgreich gemacht.

Raumorientierte Viererkette

Die Viererkette ist eine Formation in der Abwehr, bei der vier Verteidiger auf einer Linie nebeneinander agieren. Ziel ist es, den gleichen Abstand nebeneinander zu halten, um so den Raum möglichst gut abzudecken. Dadurch soll verhindert werden, dass mit einem Pass in der Lücke zwischen den Verteidigern in deren Rücken gespielt wird. Die Verteidiger verschieben unter Einhaltung der gleichen Abstände Richtung ballführendem Spieler, um eine Überzahlsituation herzustellen, auf diesen Druck auszuüben und ihm die Passmöglichkeiten zu verstellen.

Die raumorientierte Viererabwehrkette hat das ältere System rund um den Libero und die Manndeckung (der Verteidiger verfolgt einen zugewiesenen Stürmer auf Schritt und Tritt) abgelöst. Auch die Anforderungen an die Verteidiger änderten sich. Weltklassespieler wie Jerome Boateng oder Sergio Ramos müssen heute nicht nur Angreifer umgrätschen, sondern auch mit schnellen Pässen Angriffe einleiten können. Rund um die Jahrtausendwende wurden beiden Systeme noch leidenschaftlich von deutschen Fußballfans diskutiert.

https://www.youtube.com/watch?v=YdptfWFOLkQ

Der junge Ralf Rangnick erklärt 1998 Fußball-Deutschland die Viererkette, die er erfolgreich beim SSV Ulm einsetzte.

Pressing und Gegenpressing

Meister, Double, Champions League Finale – Trainer Jürgen Klopp war mit der Borussia Dortmund unter anderem deshalb so erfolgreich, weil er das Gegenpressing perfektionierte.

Pressing meint die gezielte Balleroberung der verteidigenden Mannschaft, in dem man den ballführenden Spieler angeht, attackiert, die Passmöglichkeiten zustellt und ihn so zu Fehlern zwingt.

Eine Spezialform des Pressings ist das Gegenpressing. Gemeint ist das sofortige Nachsetzen, nachdem man die Kugel verloren hat. „Der günstigste Moment, den Ball zu erobern, ist direkt nach dem eigenen Ballverlust. Der Gegner muss sich erst orientieren, schauen, wo er den Ball hinspielen könnte. Und zack, ist man schon da”, sagt Klopp über das Gegenpressing im Jahr 2012.

Die komplette Mannschaft ist beim Ballverlust gefordert und muss sich richtig im Raum zu den Gegenspielern positionieren. Anstatt schnell zurückzulaufen, gilt es, den Spieler mit Ball unter Druck zu setzen und ihm die Chance zu nehmen, zu einem Mitspieler zu passen. Da Ballverluste in der Regel in der Offensive passieren, sind besonders die Defensivqualitäten der Stürmer und Mittelfeldspieler gefragt – eigentlich nicht ihre Stärke.

Ziel des Gegenpressings ist es zum einen, die Gegner am Angreifen zu hindern, und zum anderen, sofort nach Rückballeroberung einen neuen Sturmlauf zu starten.

Mehr zum Gegenpressing: Gegenpressing erklärt 1 und Gegenpressing erklärt 2.

https://www.youtube.com/watch?v=EzcdBF5CKmA

Wieso Gegenpressing sehr effektiv sein kann, sieht man auch in dieser WM-Partie zwischen Argentinien und Chile.

Ballbesitzfußball

Das Schlagwort Ballbesitzfußball hört man von Kommentatoren bei Spielen des FC Barcelona und von Bayern München immer wieder. Meistens wird es ausgesprochen, wenn die Spieler zum gefühlten tausendsten Mal den Pass einander in der Mitte des Spielfelds zupassen. Dazu wird die Ballbesitzstatistik eingeblendet: 80 Prozent hat die eigene Mannschaft und nur 20 Prozent der Zeit hat der Gegner den Ball.

Perfektioniert hat dieses System der Trainer Pep Guardiola, der diese Saison Manchester City zur englischen Meisterschaft geführt hat und vorher bei Barcelona und Bayern München auf der Trainerbank saß. „Im Fußball gibt es nur ein Geheimnis: Ich habe den Ball, oder ich habe ihn nicht”, sagt er. „Und wenn wir den Ball nicht haben, müssen wir ihn zurückerobern, weil wir ihn brauchen.” Das Schönste daran: Wer den Ball nicht hat, kann kein Tor schießen.

Dafür braucht Guardiola extrem spielstarke Spieler, die auch in höchster Bedrängnis einen sauberen Pass spielen können, die Kugel schnell annehmen können und notfalls auch mal einen Gegner überspielen. Außerdem bilden die Spieler hierfür Dreiecke aus dem ballführenden Spieler und zwei freistehenden Mitspielern. So hat der Spieler mit dem Ball immer zwei Optionen für den nächsten Pass, und auch der Passempfänger hat sofort zwei Anspielstationen zur Verfügung. Dadurch minimiert man die Wahrscheinlichkeit eines Ballverlustes und kombiniert sich immer näher zum Tor. Erst, wenn sich eine Chance auftut, riskiert man den Lochpass oder versucht den Torschuss.

Mehr zum Dreiecksspiel.

Umschaltspiel (auch Konterspiel)

Ursprünglich war das schnelle Umschaltspiel (auch Konterfußball) eine Waffe der schwächeren Teams: Man überlässt dem spielstärkeren Team weitgehend den Ball, lässt diese „das Spiel machen” und zieht sich weit zurück. Hinten stehen mit einer dichten Abwehr und versuchen, mit schnellen Nadelstichen den Gegner zu überrumpeln.

In den letzten Jahren haben auch starke Teams wie Jürgen Klopps Borussia Dortmund, die Red-Bull-Mannschaften unter Ralf Rangnick und bis 2010 auch Jogi Löws Deutschland stark auf das schnelle Kontern gesetzt. Einfach weil es so effektiv ist. „Auf allen Red-Bull-Trainingsplätzen hängt eine große Uhr. Diese zählt fünf Sekunden. Wenn der Ball dann nicht zurückgewonnen ist beziehungsweise ein Torschuss abgegeben wurde, ertönt ein schriller Piepton”, beschreibt Autor Tobias Escher die Trainingsmethode von Rangnick. So wird den Spieler eingeübt, den schnellsten Weg zum Tor zu finden.

https://www.youtube.com/watch?v=VHGgzCNkz24

Ralf Rangnick erklärt bei einer Trainerkonferenz das schnelle Umschaltspiel.

Falsche 9, Spielmachender Mittelstürmer

Es gibt kaum einen absurderen Begriff im Fußball als die Falsche 9. Zunächst: Was ist gemeint mit der 9? Die Bezeichnung kommt aus den frühen Fußballtagen, als die Rückennummern den Positionen der Spieler entsprachen. 2 war ein Verteidiger, 6 war ein Mittelfeldspieler und 9 der Mittelstürmer nahe dem gegnerischen Tor. Heute können die Spieler die Nummern auf den Trikots selbst wählen, und so spielt Lionel Messi, die berühmteste „Falsche 9”, mit der Nummer 10. So weit, so absurd.

Falsch wird seine Spielweise deshalb genannt, weil er zwar auf dem Papier als Mittelstürmer spielt, in der Praxis aber eher wie ein Spielmacher agiert, der ein Stück weiter hinten (manchmal auch „tiefer“ genannt) spielt. Der zurückfallende Stürmer verwirrt die Verteidiger und erzeugt eine Überzahl im Mittelfeld.

Beim modernen Spiel mit der raumorientierten Viererkette spielen in der Defensive die Verteidiger auf einer Linie und ein wenig weiter vorne das Mittelfeld auf einer Reihe. Der Lieblingsort der Falschen 9 ist zwischen den beiden Formationen, weil dort (a) mehr Platz ist, (b) niemand richtig für ihn zuständig ist und (c) er ein Loch in die Formation reißt, falls ihm doch ein Spieler folgt.

In den Urzeiten des Fußballs gab es mit dem Österreicher Matthias Sindelar und dem Ungarn Nandor Hidegkuti auch schon Stürmer, die mit ähnlicher Spielweise für Verwirrung sorgten. Auch Francesco Totti bei der AS Roma spielt zum Teil auf eine ähnliche Art. Doch niemand hat als spielmachender Stürmer zwischen den Reihen so einen herausragenden Erfolg wie Lionel Messi. Auch Mario Götze und Thomas Müller spielen manchmal wie eine „Falsche 9”.

https://www.youtube.com/watch?v=-ggzpYEIcco?t=1m50s

Joachim Löw über die Falsche 9.

Mehr zur falschen 9: spielverlagerung.de.

Doppel-6

Wie bei der „Falschen 9” bezeichnet die Doppel-6 eine Position am Spielfeld, die früher die Nummer 6 am Rücken trug. Der 6er wird auch defensiver Mittelfeldspieler oder Staubsauger genannt. Im heutigen Fußball ist es eine der wichtigsten, aber für den Zuschauer auch unspektakulärsten Positionen. Der Spanier Sergio Busquets vom FC Barcelona ist einer der bekanntesten und besten 6er der letzten Jahre. In der Defensive sorgt der zentrale Mittelfeldspieler dafür, dass die Abstände zwischen den Reihen eingehalten werden, gibt (oft) die Kommandos für Pressen und Verschieben und erkämpft als Staubsauger den Ball vom Gegner im Mittelfeld. Im Vorwärtsspiel verteilt er den Ball und sichert nach hinten ab. Defensive Mittelfeldspieler gehören oft zu den Spielern, die die größte Distanz während der 90 Minuten zurücklegen (bis zu 13 Kilometer).

Seit der Jahrtausendwende setzen immer mehr Teams zwei zentrale, defensive Mittelfeldspieler ein – die Doppel-6. Ziel ist es, Angriffe durch die Mitte zu unterbinden, da von dort die größte Gefahr ausgeht.

Antizipationskeeper

Seit es den Torleuten in den 1990ern verboten wurde, einen Rückpass in die Hand zu nehmen, werden spielstarke, moderne Keeper immer wichtiger. Manuel Neuer ist der Inbegriff eines Antizipationskeepers (auch mitspielender, moderner Tormann). Anstatt abzuwarten, versucht er Situationen zu antizipieren und möglichst früh einzugreifen. Neuer wartet nicht auf der Linie, sondern bewegt sich auf das Spiel zu, bietet sich den Verteidigern auch mal als Anspielstation an und ist sicher mit dem Ball am Fuß. Vorbei sind die Zeiten, als ein Tormann nicht kicken können musste.

Tiki-Taka

Der Ballbesitzfußball von Pep Guardiola beim FC Barcelona und auch in der spanischen Nationalmannschaft wird in Spanien oft halb verächtlich Tiki-Taka genannt. Der Name kommt von dem Geräusch, das beim Weiterpassen entstehen (Tik-Tak-Tik-Tak).

https://www.youtube.com/watch?v=m1MZJeevZ6E

So sieht das dann im Idealfall aus.

Catenaccio

Catenaccio meint eine sehr defensive, abwartende Spielweise, die man auch mit „Beton anrühren” oder den „Bus vor dem Tor parken” umschreiben könnte. In Italien entwickelt, ist es eine Spielweise, die vor allem für Underdogs wie Griechenland bei der Europameisterschaft 2004 ein Weg zum Erfolg war. Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem Verhindern eines Gegentores („die Null halten”) und dem Erfolg im risikominimierten Konterspiel.

Mehr zum Catenaccio.

Matchplan

Geprägt von Thomas Tuchel, ab Juli 2018 Trainer bei Paris Saint-Germain, bezeichnet der Matchplan die Strategie gegen den nächsten Gegner. Aufbauend auf der Analyse des Kontrahenten, beschreibt er die Taktik und Strategie, individuelle Ausrichtungen, Gefahren und einen Plan B, um das Match zu gewinnen.


Wer mehr über Taktik, Strategie und Fußballentwicklungen wissen will, dem empfehle ich die Seite http://spielverlagerung.de/. Außerdem die kompletten FIFA-Regeln.

Bei der Recherche für diesen Artikel haben mir insbesondere diese Bücher geholfen:

  • Tobias Escher: Vom Libero zur Doppel-Sechs. Eine Taktikgeschichte des deutschen Fußballs. Rowohlt 2016.
  • Martin Rafelt: Vollgas-Fußball. Die Fußballphilosophie des Jürgen Klopp. Werkstatt Verlag 2016.
  • Jonathan Wilson: Revolutionen auf dem Rasen. Eine Geschichte der Fußballtaktik. Werkstatt Verlag 2015.
  • Christoph Biermann: Die Fußball-Matrix. Auf der Suche nach dem perfekten Spiel. KiWi 2013.
  • Christoph Biermann, Ulrich Fuchs: Der Ball ist rund, damit das Spiel die Richtung ändern kann. Wie moderner Fußball funktioniert. KiWi 2012.
  • Die aktuellen Ausgaben der Fußballmagazine 11Freunde und Ballesterer.

Foto: Dominik Wurnig

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Aktualisierung: Tobias Eßer. Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacherbild: Wikipedia / Jason Bagley).