Haben Sie heute schon Ihre Topfpflanzen gegossen? Wieder nicht? Dann holen Sie das besser schleunigst nach, falls Sie in nächster Zeit ruhig schlafen wollen. Weil das sonst nämlich schwer wird, sobald Sie die schwedische Mystery-Serie „Jordskott“ bei Arte gesehen haben.
Die ist nämlich die konsequente Fortsetzung der „Twin Peaks“-Erkenntnis, dass das Grauen keineswegs in den Straßenschluchten der Großstädte zuhause ist; da macht es allenfalls Urlaub. Seinen festen Wohnsitz hat es hingegen in kleinen Dörfern fernab der Zivilisation, die von rätselhaften Geheimnisträgern bewohnt werden. So wie der kleine schwedische Ort Silverhöjd, in den Kommissarin Eva Thörnblad aus Stockholm zurückkehrt, damit sie sich um den Nachlass ihres kürzlich verstorbenen Vaters kümmern kann, zu dem sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte.
Kein Sonnenschein, nirgends
Die Heimkehr fällt Eva schwer, weil dort vor vielen Jahren ihre Tochter Josefine spurlos verschwunden ist. Als plötzlich ein geisterhaftes Mädchen auftaucht, das kein Wort spricht, Josefine aber zum Verwechseln ähnlich sieht, versucht Eva herauszufinden, was passiert ist. Zugleich verschwinden in Silverhöjd weitere Kinder (Trailer ansehen).
Eva ahnt, dass das etwas mit der Firma ihres Vaters zu tun haben könnte, die große Teile des angrenzenden Walds für die Zellulose-Verarbeitung roden will. Bis der sich scheinbar zu wehren beginnt, wie es der etwas platte deutsche Untertitel („Die Rache des Walds“) suggeriert.
In Schweden gehört „Jordskott“ zu den größten TV-Erfolgen der vergangenen Jahre, die Serie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Das mag auch daran liegen, dass sie mit großer Ernsthaftigkeit eine Mischung aus Mystery-Thriller und Öko-Fabel erzählt, die fest in der Gegenwart verankert ist. Und die Schweden mal nicht als sonnenbeschienene Naturparadieskulisse zeigt, in der gut frisierte Schauspieler Dialoge trivialer Romanzen aufsagen, so wie es das ZDF regelmäßig mit seinen „Inga Lindström“-Filmen praktiziert. Sondern als düsteren Ort voller Lügen, Geheimnisse und kaputter Charaktere, die gemeinsam auf eine selbstverschuldete Katastrophe zuzusteuern scheinen.
Tief verwurzelt in der Erde
Die Serie geht mit einem ziemlichen Schock los: In den ersten fünf Minuten wird Eva quasi erschossen, weil sie in Stockholm bei einem Einsatz eine Geiselnahme im Alleingang beenden will, und der Zuschauer sieht aus der Täterperspektive, wie sie nach hinten wegkippt. Sie überlebt, kriegt eine Job-Auszeit verordnet und fährt zurück in die alte Heimat, wo sie erst die Erinnerung einholt („Warum hast du aufgehört, mich zu suchen?“, fragt Josefine im Spiegelbild des Waldsees, an dem sie verschwunden ist). Und dann die Unerklärbarkeiten der Realität.
Autor Henrik Björn sagt, er habe sich für „Jordskott“ von alten schwedischen Mythen inspirieren lassen. Schon der Vorspann, an dessen Ende der Titel im wahrsten Sinne des Wortes Wurzeln im Bild schlägt, schafft eine besondere Atmosphäre.
https://www.youtube.com/watch?v=B1OiavOxhsg
Dabei ist die eigentliche Stärke der Serie, dass sie sich nicht scheut, das Fantastische mit der Realität zu verschmelzen, in einer (scheinbar) vom Profit getriebenen Welt, die sich viel zu wenig um die Konsequenzen ihres Handelns schert.
Diese Art Was-wäre-wenn-Gedankenspiele scheinen eine Leidenschaft skandinavischer Serienmacher zu sein. Möglicherweise sind sie auch der Grund dafür, dass in Nordeuropa derzeit so viele sehenswerte Fernsehdramen entstehen. Im vergangenen Jahr zeigte Arte bereits die norwegische Produktion „Occupied“, in der ein grüner Ministerpräsident sich dazu entschließt, die Energieerzeugung des Landes vollständig auf regenerative Quellen zu verlagern – und dadurch Russland erzürnt, das mit einer Quasi-Besatzung Norwegens ein Festhalten an der Ölförderung zu erzwingen versucht – toleriert von der EU, die es sich mit den Russen nicht verscherzen will. Die Serie schildert die Entstehung eines norwegischen Widerstands, der auch Gewalt in Kauf nimmt, um die Unabhängigkeit zurückzugewinnen. Und war nach der Ukraine-Krise plötzlich von erschreckender Aktualität.
https://www.youtube.com/watch?v=16FAPzgcwSY
Dass das deutsche Fernsehen Geschichten von ähnlicher Brisanz erzählen könnte, ist so unwahrscheinlich wie eh und je. Der kleine Schwung guter deutscher Serien, mit denen die Sender im vergangenen halben Jahr demonstrieren wollten, dass sie nicht nur Arztserien und Krimis können, ist längst wieder weg. Und die Auftraggeber haben ernüchtert zur Kenntnis genommen, dass längst nicht so viele Zuschauer eingeschaltet haben, wie sie sich erhofft hatten.
Für ihre Referenzserien schaut das deutsche Fernsehen ohnehin lieber zurück als nach vorn: Die Spionageserie „Deutschland 83“, bei der RTL immer noch nicht entschieden hat, ob sie fortgesetzt wird, spielte im Kalten Krieg. ARD und Sky lassen für ihre Mammut-Kooperation „Babylon Berlin“ von Regisseur Tom Tykwer gerade das Berlin der 1920er Jahre in Babelsberg neu aufbauen. Das klingt wahnsinnig faszinierend. Hat aber nichts mit der Gegenwart zu tun, die sich in deutschen Fernsehserien weiterhin von Nonnen, Tierärzten und Vorabend-Ermittlern repräsentieren lassen muss.
(Womöglich ändern ausgerechnet Amazon und Netflix das mit ihren ersten deutschen Eigenproduktionen, die fürs kommende Jahr angekündigt sind.)
Krähen, Irre, leichenblasse Kinder
Nun wird das Gegenteil nicht automatisch zum Geniestreich. Eine der größten Schwächen von „Jordskott“ ist zum Beispiel, dass die durchaus originelle Geschichte für die Inszenierung einmal das komplette Paket der zur Verfügung stehenden Gruseleffekte übergekippt bekommt: Leise flüstert der Wald und die Kamera fliegt zu düsterer Musik über den nebligen See. Geheimnisvolle Erscheinungen haben offensichtlich vereinbart, dass sie ihren Erstauftritt immer im Hoodie mit übergezogener Kapuze absolvieren. Krähen und leichenblass geschminkte Kinder sind ein unverzichtbares Mystery-Muss. Es gibt einen irren Alten, der als einziger die Wahrheit spricht (was natürlich keiner ernst nimmt), überforderte Dorfpolizisten, verwackelte Hinter-den Hecken-Spionierperspektiven. Und das Herzschlag-Gepumpe im Hintergrund nervt irgendwann gewaltig.
Aber irgendwie mag man das „Jordskott“ eher verzeihen als dem deutschen Gruselkumpel „Weinberg“ (siehe Krautreporter vom Dezember, dessen Auflösung im vergangenen Jahr dann doch arg simpel geriet.
Das mag auch daran liegen, dass die „Jordskott“-Hauptdarstellerin Moa Gammel als Tochter-suchende Kommissarin aussieht und agiert als sei sie die schwedische Zwillingsschwester von Carrie Mathison aus „Homeland“. Und dass die Autoren der Versuchung widerstehen, den ganzen Spuk zum Schluss mit einem dummen Traumeffekt als Einbildung zu neutralisieren. Stattdessen steht „Jordskott“ bis zur letzten Minute fest zum Einbruch des Unerklärlichen in die Wirklichkeit. Und gehört schon deswegen zu den sehenswertesten Serien, die dieses Jahr im Fernsehen laufen. Zumindest für alle, die sich langfristig damit anfreunden können, wieder etwas mehr Rücksicht auf ihre Topfpflanzen zu nehmen.
https://www.youtube.com/watch?v=pw4CVI5phIs
Aufmacherfoto: ARTE France / ZDF/ © Palladium Film.