Stirb an einem anderen Tag, Jon Snow
Leben und Lieben

Stirb an einem anderen Tag, Jon Snow

Bei „Game of Thrones” ist niemand unsterblich. Die Frage, ob das auch für Jon Snow gilt, hat sich zum ultimativen Cliffhanger entwickelt. Und lässt daran zweifeln, was Produzenten erfolgreicher Serien inzwischen eigentlich wichtiger ist: Ihre Geschichte? Oder die Inszenierung für den größtmöglichen Netztumult?

Profilbild von Peer Schader

Dieser Text enthält Spoiler zum Ende der fünften und zum Start der sechsten Staffel von „Game of Thrones“ sowie zur sechsten Staffel von „The Walking Dead“.


Zehn Monate dauert das Rätsel nun schon, und wer gedacht hat, dass es zu Beginn der neuen Episoden von „Game of Thrones“ in der Nacht auf Montag ein für alle Mal gelöst würde, der war nach 48 Minuten ziemlich enttäuscht. Jon Snow ist immer noch tot. Und gleichzeitig lebendiger als jemals zuvor.

Seit der überraschenden Meuterei der Nachtwache gegen ihren Anführer, der in der letzten Szene der weltweit erfolgreichen Fantasyserie erdolcht im Schnee lag (Ausschnitt bei Youtube), diskutieren die Fans, ob das wirklich sein Ende war. Unter dem Hashtag #IsJonSnowDead kursieren ständig neue Theorien, wie eine Rückkehr funktionieren könnte, in klickträchtiger Regelmäßigkeit zusammengefasst von zahlreichen Online-Medien. Dass Snow-Darsteller Kit Harington schon frühzeitig am Dreh für die nächste Staffel paparazzifotografiert wurde, heizte die Spekulationen weiter an. Selbst Siri hat sich ein paar Antworten dafür zurechtgelegt, dass iPhone-Besitzer ihr die Frage stellen. Und in einem sekundengenau analysierten Trailer zur neuen Staffel entdeckten hartnäckige „Thrones“-Zuschauer einen Reiter mit wehendem Haar, der eigentlich nur Snow sein könne.

Die Autoren des HBO-Erfolgs haben im Juni 2014 allerdings nicht nur die ultimative Publikumsliebling-Meuchelei der neueren Seriengeschichte erfunden. Sondern damit auch eine Cliffhanger-Methode etabliert, die vielen anderen Serien ein schreckliches Vorbild sein könnte. Eben, weil sie so großartig funktioniert hat.

Ein bekanntes Gesicht, ein Datum, kein weiteres Wort notwendig: So warb HBO für den Start der sechsten "Game of Thrones"-Staffel.

Ein bekanntes Gesicht, ein Datum, kein weiteres Wort notwendig: So warb HBO für den Start der sechsten “Game of Thrones”-Staffel. © 2016 Home Box Office, Inc. All rights reserved / Sky

Von Anfang an wollte sich die Saga um Krieg und Herrschaft im Königreich Westeros nicht an die üblichen Serienregeln halten. Als Eddard Stark, zunächst wichtigster Sympathieträger der Erzählung, kurz vor Ende der ersten Staffel in King’s Landing exekutiert wurde, war das eine unmissverständliche Ansage an die Zuschauer. Sie lautete: Ihr müsst hier mit allem rechnen. Niemand ist sicher. Selbst Charaktere, von denen ihr annehmt, dass sie unabkömmlich scheinen, können eines unerwarteten Todes sterben. Weil es im Kampf um Macht und Land keine Unverwundbarkeiten geben kann, egal auf welcher Seite.

Keine Schonzeit für Hauptcharaktere

Seit jeher definieren sich herausragende Serien auch darüber, wie sie mit dem (möglichen) Tod entscheidender Protagonisten umgehen – wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise.

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Für das – ebenfalls bei HBO gelaufene – „Six Feet Under“ war der Tod gar Hauptthema der Erzählung. Selbst wenn das Ableben zentraler Charaktere lange ein Tabu blieb: Die Serie ist auch deshalb so deutlich in Erinnerung geblieben, weil sie sich entschied, exakt damit zu enden. In der finalen Episode werden die Zuschauer in kurzer Abfolge an unterschiedliche Punkte in die Zukunft versetzt, um dabei zu sein, wie sämtliche Protagonisten unter den unterschiedlichsten Umständen ihren letzten Atemzug nehmen. (Bei einer Retrospektive des New Yorker Tribeca Film Festival erklärte Serienschöpfer Alan Ball gerade, welche erstaunlich apokalyptischen Alternativen damals im Autorenkreis diskutiert worden sind.)

Bei „Lost“ gehörte das Ableben wichtiger Figuren ganz wesentlich zur Inszenierung der Inselmystik, und der ungewöhnliche Erzählrhythmus erlaubte es mit seinem Wechsel zwischen Zeiten und Realitäten, dass mancher Tote zumindest in seiner körperlichen Hülle noch lange sehr lebendig schien.

„Game of Thrones“ wiederum hat mit ungeheurer Wucht die Gewissheit etabliert, dass es keine Schonzeit für Charaktere mehr gibt. In letzter Konsequenz müsste das natürlich auch für Jon Snow gelten. Obwohl er in fünf Staffeln mit unzähligen Andeutungen zum vielleicht wichtigsten Charakter von Westeros aufgebaut worden ist; obwohl er die bedeutendsten Schlachten geschlagen und dem Untergang seiner Welt in Gestalt der furchteinflößenden White Walkers ins Auge gesehen hat.

Es glaubt nur niemand so recht dran.

Oder, wie’s Seth MacFarlane, Schöpfer der (in keiner Weise vergleichbaren) Trickserie „Family Guy“ formuliert hat, nachdem die Serie den beliebten Familienhund Brian in Staffel zwölf erst sterben ließ, um ihn wenige Folgen darauf zurückkehren zu lassen:

https://twitter.com/sethmacfarlane/status/412407556942753792

 

Die sechste „Game of Thrones“-Staffel beginnt mit einem Kameraflug durch stockfinstere Nacht, entlang der Eismauer über die Dächer von Castle Black bis zu dem Platz, an dem Jon Snow leichenbleich und mit aufgerissenen Augen reglos im Schnee liegt, während im Hintergrund die Wölfe heulen. Als er von seinen letzten Verbündeten gefunden und weggetragen wird, bleiben nur die Blutlache im Schnee und der Satz: „He’s gone.“

Aber natürlich gibt es schon wieder eine ganze Liste neuer Theorien, wie sich alles noch wenden könnte. Und tatsächlich wäre es mindestens unvernünftig, sich Snows so kurz vor dem (bereits für 2018 angedeuteten Serienfinale) zu entledigen. Es besteht nämlich gar keine Notwendigkeit dafür. Weil es sich als genauso effektiv erwiesen hat, die Zuschauer monatelang alleine über die Möglichkeit diskutieren zu lassen.

Selbst auf die Gefahr hin, damit selbst Verrat an ihnen zu begehen. Wie perfide das funktionieren kann, hat keine Serie zuletzt anschaulicher demonstriert als „The Walking Dead“. Die Verfilmung des Comics von Robert Kirkman, der das Überleben in der Zombie-Apokalypse erzählt, hat einiges gemeinsam mit „Game of Thrones“. Unter anderem die Grundprämisse, dass von Anfang an (fast) keiner der Charaktere unentbehrlich ist. In jeder Staffel hat die Serie Protagonisten geopfert, die zuvor vom Publikum über viele Folgen begleitet worden sind – teilweise geradezu kunstvoll inszeniert und mit eigens dafür etablierten parallelen Handlungssträngen (wie im ersten Teil von Staffel fünf, als Beth im Krankenhaus aufwacht und sich in der neuen Gruppe durchsetzen muss).

Der große Bluff bei Walking Dead

Doch der Spielraum ist kleiner geworden. Je länger die Serie läuft, desto schwieriger wird es, Protagonisten zu verabschieden, für die die Zuschauer hauptsächlich einschalten. Deshalb war der Moment, als ausgerechnet Publikumsliebling Glenn in der dritten Folge der sechsten Staffel in eine Horde Zombies stürzte und – scheinbar – augenblicklich die Gedärme aus dem Leib gerissen bekam, so effektiv und schockierend (Ausschnitt bei Youtube – Vorsicht, sehr blutig!).

Weil zu diesem Zeitpunkt niemand damit gerechnet hatte – also genau das, was die Serie stets bezweckt. Mit dem kleinen Unterschied, dass es sich diesmal als Bluff herausstellte.

Ganze fünf Folgen ließen die Autoren ihr Publikum im Glauben, Glenn werde nicht mehr wiederkommen. Sogar der Name von Darsteller Steven Yeun wurde aus dem Vorspann entfernt. Bis der Spuk schließlich in Folge 7 aufgelöst wurde (Ausschnitt bei Youtube): Nach dem Sturz in die Horde hatte Glenn sich unter einen Müllcontainer in Sicherheit bringen können, der zerfetzte Körper, den die Zuschauer sahen, gehörte seinem Begleiter, der für den Sturz verantwortlich war.

Mit diesem billigen Trick hat die Serie eines ihrer grundlegenden Prinzipien nachhaltig beschädigt: Alles ist möglich – seit dieser Staffel kann es notfalls aber auch wieder rückgängig gemacht werden, wenn alle ausreichend in die Irre geführt worden sind und öffentlich darüber diskutiert haben.

Denn genau darum wird es den Autoren in erster Linie gegangen sein, selbst wenn die Produktion es im Nachhinein anders zu verkaufen versucht:

https://twitter.com/EW/status/697831252364300288

 

Wer die sechste Staffel zu Ende gesehen hat, weiß: Die Inszenierung für den größtmöglichen Netztumult ist keine Ausnahme mehr. Als die Gruppe in der letzten Folge vom neuen Superschurken Negan gefangen genommen wird, tötet dieser einen der Protagonisten brutal mit einem stacheldrahtumwickelten Baseballschläger – es bleibt jedoch offen, wen. Denn die finale Szene ist aus der Perspektive des Opfers gedreht. (Möglicherweise eine der widerlichsten Gewaltmomente der kompletten Serie.)

Sind Serientode ein erzählerisches Mittel oder Werbegag?

Diesmal ist klar: Egal, wer getroffen wurde, er oder sie wird das unmöglich überleben. Also wird im Netz hitzig darüber diskutiert, von wem sich die Fans verabschieden müssen. Doch noch von Glenn, den es in diesem Moment in der (oftmals abweichenden) Comic-Vorlage trifft? Es könne doch kein Zufall sein, dass Darsteller Yeun schon ein neues Engagement habe, das eventuell mit den Dreharbeiten für die nächste Staffel kollidieren würde. Was davon stimmt, ist letztlich irrelevant. Sender und Produzenten haben das, was sie wollten, bereits erreicht.

Ähnlich wie bei „Game of Thrones“ wird im Netz weiter über eine Serie geredet, die für die kommenden Monate gar nicht im Programm laufen wird, und jedes neue Engagement eines Darstellers, jedes unscharfe Handyfoto ist ein Anlass, der Diskussion noch einmal einen neuen Schub zu geben.

Genau das ist aber das Problem: Dass der Tod eines Protagonisten augenscheinlich nicht mehr – wie lange Zeit üblich – in erster Linie als erzählerisches Mittel eingesetzt wird: um das Publikum aus seiner Erwartungshaltung zu reißen, um einer Geschichte zusätzliche Dramatik zu verleihen, um zu schildern, wie die übrigen Protagonisten unter diesem gewaltigen Eindruck zu zerbrechen drohen. Sondern zunehmend für den Werbeeffekt.

Der ultimative Cliffhanger

Vor einer Woche maßregelte Süddeutsche.de „Game of Thrones“-Fans, es stehe ihnen nicht zu einzufordern, was mit den Protagonisten ihrer Lieblingsserie geschehen solle (der Autor nennt Diskutanten „faul“, „uninspiriert“, „überfordert“ und „lächerlich“). „Es ist dreist, eine kreative Entscheidung der Macher von fiktiven Produktionen zu kritisieren. Es ist eine Unverschämtheit gegenüber den Autoren, die sich über Monate und Jahre eine Story überlegen, die in sich schlüssig, aufregend und unterhaltsam ist.“ Das Publikum sollte lieber die Klappe halten und die Künstler ihre Arbeit machen lassen.

Das ist nicht nur naiv, weil es die Kalkulation der Verantwortlichen übersieht; sondern auch unnötig. Weil es suggeriert, dass wir gefälligst dabei zuzusehen haben, wie Autoren im Zweifel entscheidende Erzählprinzipien opfern, wenn sich dafür ein Jon-Snow-Moment produzieren lässt – ein Cliffhanger, der für die Vermarktung einer Serie wertvoller als es jede noch so teure Werbekampagne.

Der Jon-Snow-Moment.

Der Jon-Snow-Moment. Foto: © 2015 Home Box Office, Inc. All rights reserved / Sky

Kann sein, dass Snow in „Game of Thrones“ wieder aufersteht; kann sein, dass Glenns Tage bei „The Walking Dead“ endgültig vorüber sind. Aber was ist das alles wert, wenn es am Ende gar nicht mehr darum geht, die mitreißendste Geschichte zu erzählen? Sondern bloß, bis zum Start der nächsten Staffel das größtmögliche Theater darum zu veranstalten.


Aufmacherfoto: Jon Snow (Kit Harington) / © 2015 Home Box Office, Inc. All rights reserved / Sky.