Als wir endlich angekommen sind und ich aussteigen kann, dehydriert und verschwitzt, hievt sich mein Fahrer ebenfalls aus seinem Sitz. Die Stoßdämpfer knarzen, durch die Radkappen der Vorderräder rieselt schwarzer Qualm.
Ich nehme meine Tasche von der Rückbank des Opel Corsa, den er im Schweinsgalopp die 440 Kilometer von Skopje nach Belgrad geritten hat. Er öffnet die Heckklappe. Ich zerre meinen Rucksack aus dem Kofferraum, werfe ihn mir auf die Schulter, der Fahrer schaut mir zuversichtlich in die Augen. Ich sage ihm, dass er ein gieriges Arschloch ist.
„You Are A Greedy Asshole!”
Ein paar Passanten gucken, nichts Besonderes.
Ich bin mir nicht sicher, ob er weiß, was „greedy“ bedeutet, aber „asshole“ versteht er bestimmt, und die beiden „fuck you“, die ich ihm im Weggehen noch zurufe, mit Sicherheit. Das Verrückte ist, dass er aussieht, als würde er überhaupt nicht verstehen, warum ich ihn beschimpfe.
Er breitet die Arme aus, zuckt mit den Schultern. Was hab ich denn falsch gemacht? Als hätte er mich nicht betrogen und als hätte ich nicht gerade fünf stumme Stunden neben ihm sitzen müssen, konzentriert, nicht einzuschlafen oder mir einzupissen.
Ich lernte den Fahrer in Skopje, der Hauptstadt Mazedoniens, kennen. Ich wollte eigentlich nie nach Skopje. Aber Anfang März war ich im Kosovo, um für eine Reportage über einen Kriegshelden zu recherchieren. Ich flog in die Hauptstadt Prishtina, deren Flughafen dummerweise den Namen jenes Kriegshelden trägt, und wollte dann nach getaner Arbeit weiterreisen nach Bukarest.
Das einfachste wäre ein Mietwagen gewesen, bis Bukarest sind es nur 660 Kilometer. Aber da der Kosovo weder in der EU ist noch zum Schengenraum gehört, können die Autoverleiher ihre Wagen nur innerhalb des Landes vermieten. Eine Zugverbindung gibt es nicht.
Ein Fernsehmoderator versuchte, mir einen befreundeten Schleuser zu vermitteln, der mich fahren sollte. Er ist aber bei seiner letzten Reise verhaftet worden. An einen Schleuser zu vermitteln klingt abenteuerlicher als es ist.
Kosovo ist kleiner als Thüringen. Wer will schon sein Leben lang in Thüringen leben? Die Chancen für Kosovaren, legal in die EU einzureisen, sind gering, selbst für Wissenschaftler, Künstler und Studenten. Vor der Schweizer Botschaft in Prishtina stehen sich so viele Menschen die Füße platt, um Visa zu beantragen, dass auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Imbiss eröffnet hat.
Andere tauschen die Handynummern von Schleusern aus, klandestin und traurig und in guter Hoffnung, vielleicht so, wie sich rumänische Frauen in den 80er-Jahren gegenseitig Tipps gegeben haben, wo jemand privat Abtreibungen durchführt.
Blieb nur noch das Flugzeug. Von Prishtina aus gibt es keine Flüge nach Bukarest, also buchte ich einen Flug ab Belgrad. Normalerweise sind es von Prishtina bis Belgrad nur vier bis fünf Stunden Fahrt mit dem Reisebus.
Allerdings akzeptiert Serbien – wie Griechenland, Spanien oder Ungarn ebenfalls – auch 17 Jahre nach Ende des Kosovokrieges und neun Jahre nach dessen Unabhängigkeitserklärung den Kosovo nicht als Staat. Serbien behandelt den Kosovo nach wie vor als eigenes Staatsgebiet.
Und das bedeutet, dass jemand, der auf dem Flughafen in Prishtina gelandet ist und dort einen Stempel der Republik Kosovo, Adem Jashari Airport, in seinen Reisepass gedrückt bekommen hat, nach serbischer Interpretation illegal nach Serbien eingereist ist, da er keinen serbischen Einreisestempel vorweisen kann.
Außerdem erschoss Adem Jashari gern serbische Polizisten. Da kriegen serbische Grenzer nun mal schlechte Laune, wenn sie den Namen auf offiziellen Dokumenten sehen. Ich musste also kurzfristig den Umweg über Skopje nach Belgrad wählen. Zwölf Stunden Busfahrt für einen beschissenen Stempel im Reisepass.
Am Busbahnhof in Skopje musste ich jedoch feststellen, dass der Bus nach Belgrad entgegen der Auskunft des Reisebüros zwei Stunden zu spät abfahren würde, damit ich noch rechtzeitig meinen Flug erwischen konnte.
Kein Mitleid mit einem Rucksack-Touristen
Ich blicke der Dame am Schalter in die Augen, als könnte sie etwas daran ändern. Kann sie natürlich nicht. Und es tut ihr auch kein bisschen leid. Die Frau hat andere Probleme als Mitleid für einen Touristen mit einem Jack-Wolfskin-Rucksack und einem schicken Mantel zu empfinden, der seine Reise scheiße geplant hat.
Aber aus privaten Gründen muss ich am Morgen des nächsten Tages unbedingt in Bukarest sein. Nach Stand der Dinge: unmöglich. Ich bekomme einen merkwürdigen Anfall von Liebesbedürftigkeit und Zorn und würde die Frau mit der kleinkalibrigen Kaltwelle und dem Kostüm aus Asbeststaubfäden hinter ihrer Panzerglasscheibe hervorkommen und mich an ihre sehr breiten Schultern drücken, würde mich das ungemein trösten.
So viel zum Stand meiner Verzweiflung. Ihre Reaktion: Eine langsame Handbewegung, die signalisiert, jetzt den Platz vor der Panzerglasscheibe zu räumen - dabei steht hinter mir noch nicht mal jemand. Ich gehe raus, eine Zigarette rauchen.
Vor dem Eingang des Busbahnhofs fragen mehrere Männer „Taxi?” – „No, thanks.” In der Wartehalle überdenke ich meine Optionen. Es gibt eine Busverbindung nach Bukarest über Sofia, insgesamt 13 Stunden Fahrt. Ich müsste ihn Sofia übernachten. Vor allem aber wäre ich trotzdem nicht rechtzeitig in Bukarest.
Also Taxi? Warum eigentlich nicht? Vielleicht lässt sich einer der Fahrer, die vor dem Busbahnhof stehen, überreden, mich nach Belgrad zu fahren. Mein Flug geht in acht Stunden. Das ist zu schaffen. Ich überlege mir, wo meine finanzielle Schmerzgrenze für den Deal liegen würde, wo sie bei einem Taxifahrer liegen könnte und komme schließlich auf 150 Euro.
Die ersten beiden Taxifahrer verlangen 220 Euro. Ich sage, ich habe nur 120 Euro. „Nee, komm, das sind 500 Kilometer, unter 220 Euro ist nichts zu machen.” Ich weiß, es sind nur 440 Kilometer. Wir könnten uns noch einig werden.
„Nichts für ungut, ich frag jemand anders“, sage ich und gehe zum nächsten Taxifahrer, etwa 50 Meter entfernt. Er verlangt ebenfalls 220 Euro. Ich beginne gerade mit ihm zu handeln, als mich die beiden Männer von vorhin wegziehen.
„Okay, komm, wir machen’s für 180 Euro!” Ich drücke den Preis auf 160 und wir schütteln Hände. Ich komme mir sehr schlau vor. Fahrer kommt gleich, sagen sie. Sie haben einen Kollegen angerufen, der Serbe ist. Für ihn lohnt sich die Fahrt, er kann bei seiner Mutter in Serbien übernachten, sagen sie.
Zehn Minuten später rumpelt der Serbe mit seinem Corsa auf den Bürgersteig vor dem Busbahnhof. Er diskutiert eine Weile mit den beiden Männern, dann geht er auf Toilette. Als er zurückkommt, warten sie auf ihn, einer versucht ihn am Jackenaufschlag festzuhalten. Der Fahrer schüttelt ihn ab wie eine lästige Fliege und bedeutet mir mit einer Handbewegung: Einsteigen!
Der Fahrer ist groß, etwa 1,80 Meter, hat sehr runde Schultern, einen sehr runden Kopf mit kurzen, spärlichen Haaren und einen Bauch wie ein Weinfass. Er hat blaue Augen. Im Auto sitzt er wie in einem Ruderboot, die Beine fast ausgestreckt, den Sitz so weit nach hinten geschoben, dass er genauso gut auf der Rücksitzbank sitzen könnte.
Selbst während den Phasen unserer Fahrt, in denen ich ihn am meisten hasse, kann ich nicht umhin, an Käpt’n Balu zu denken, die tollpatschige Comicfigur, die als Mietpilot eines Wasserflugzeuges andauernd in gefährliche Situationen gerät, aus denen ihn das Basecap tragende Waisenkind Kit Wolkenflitzer immer raushaut.
Der Fahrer teilt augenscheinlich mit Balu die Liebe zur Flasche (im Becherhalter unter dem Radio steckte eine angebrochene Flasche Bier, die er kurz vor der serbischen Grenze aus dem Fenster wirft), eine ostentative Gemütlichkeit, die die Grenze zur Ungepflegtheit schrammt, und eine Vorliebe für legere Kleidung.
Mein Gedächtnis rekonstruiert ihn immer wieder in Jogginghose, obwohl ich weiß, dass er Jeans trug (ich habe es mir später, am Flughafen von Belgrad, notiert), und rebelliert gegen den Fakt, dass der Fahrer eine Lesebrille aufsetzte, wenn er auf sein Handy schaute.
Was er mit Balu nicht teilt, ist die Gesprächigkeit. Während wir uns den Weg aus Skopjes Beton-Ganglion rangeln, macht er nicht mal den Versuch einer Konversation. „So, 160 Euro, okay?“, frage ich mehrmals und in verschiedenen Sprachen. Keine Antwort. Ich schreibe die Zahl mit dem Zeigefinger in die Luft. Keine Reaktion.
Ich tippe die Zahl in mein Smartphone und halte es ihm unter die Nase, während wir an einer Ampel stehen. „I no good speaks English“, sagt er und guckt so angestrengt nicht auf mein iPhone, dass mir langsam klar wird: 160 ist keine gute Zahl für meinen serbischen Balu.
„160 - One - Six -Zero - Okay, Yes, Da?!”
Ich tippe unter die Zahl auf dem Bildschirm und er guckt auf die Ampel, guckt durch die Heckscheibe. Dann durch die Seitenscheibe. Dann wieder auf die Ampel. Bloß nie auf die 160.
Mir wird klar, dass das nur bedeuten kann, dass der Preis bald noch einmal neu verhandelt werden wird. Der Ort dieser Verhandlung ist erreicht, als wir auf der Autobahn sind, mehr als 20 Kilometer außerhalb Skopjes, auf Höhe des Flughafens. Inzwischen regnet es in Strömen.
Der Fahrer hält auf dem Seitenstreifen und macht die Warnblinkanlage an. Er dreht sich zu mir:
„Ähm, money, ähm, Euro?”
Er reibt Zeigefinger an Daumen und zeigt auf die Abflughalle, die rechts von uns, jenseits der Fahrbahn zu erkennen ist. Meine Tür ist verriegelt.
Ich sage, Geld gibt es in Belgrad, wenn wir dort am Flughafen angekommen sind.
„Oh, Belgrad? … Belgrad?? Oh!“ Sein Kopf ruckt auf den kurzen Schienen seiner Nackenmuskulatur in meine Richtung.
„Ja, ja, natürlich Belgrad, was hast du denn gedacht?!“
Er habe gedacht, ich müsste zum Flughafen von Skopje, was 25 Euro kosten würde. Wenn ich nach Belgrad will, kostet das 200 Euro. Und zum Flughafen von Belgrad kostet nochmal 20 Euro extra. „Taxi registriert! Offiziell! Das Preise!”
Aber wenn ich ihm jetzt das Geld gebe, könnten wir direkt weiterfahren. Nix Problem.
„Ich bin doch nicht bescheuert”, denke ich. „Und wie geht diese scheiß Tür auf?” Ihm jetzt das ganze Geld geben und dann schmeißt er mich raus. Okay, ich war zu naiv. Ich dachte, das geht einfach glatt. Natürlich versucht er, aus dem blöden deutschen Touristen noch ein bisschen Geld rauszuholen. Ich muss ihm jetzt nur zeigen, dass ich das Spiel kenne, dass ich mich nicht verarschen lasse. „Da musst du schon früher aufstehen!”
„We go Belgrad. 160 Euro. Not one Euro more!”
Ich sage es noch dreimal und werde jedes Mal lauter. Ich drohe normalerweise niemandem und wahrscheinlich klingt es eher, als würde ich einen dementen und schwerhörigen Verwandten, den ich nicht leiden kann, sagen, dass ich ihn jetzt durch den Park schiebe. Dem Fahrer mache ich auf jeden Fall keine Angst. Die Türen sind immer noch zu.
„Okay, dann steig ich aus! Mach die Tür auf!”
„Mach auf, komm!“
Er guckt jetzt eher mitleidig und nennt mir noch mal seine Preise. Ich gebe auf. Wir beide wissen, dass es eine ziemlich dumme Idee ist, jetzt auszusteigen.
Ich greife nach meiner Tasche auf der Rücksitzbank und seufze. Ich ziehe die Laptoptasche heraus, in der ein Umschlag mit Bargeld ist. „Scheiße, jetzt sieht er auch noch, wie viel Geld ich dabei hab.” Ungefähr 1.000 Euro, meine gesamten Ersparnisse.
„Wie kann man nur so bescheuert sein!” – „Geld, Laptop, Smartphone, Kamera, Reisepass – ich bin so ein geiles Opfer. Irgendwo bei Nis wird man meinen leeren Rucksack auf dem Standstreifen finden. Ein Schaf kaut an einem Merino-Pulli, der an der Leitplanke klebt. Vermisst wird: Christian Gesellmann. Zuletzt gesehen in Prishtina.”
„Okay, 200 Euro. Aber dann wenigstens bis zum Flughafen.“
„200. Yes. 200. We go.“
„Airport, yes?“
„Yes, we go.“
Ich gebe ihm vier 50 Euro-Scheine und er steckt sie in ein ziegelsteingroßes Bündel aus Dollar- und Euronoten.
Dann steigt er aus und öffnet den Kofferraum und fummelt ewig dort rum. Ist das ein Trick, um mich zum Aussteigen zu bringen? Durchsucht er meinen Rucksack? Im Rückspiegel ist nichts zu erkennen. Ich drehe mich um: Er pinkelt vor das Auto, in den kleinen Spalt zwischen seinen Jeansbeinen und dem Stoßfänger.
Wir machen noch drei weitere Pausen. Er zieht den Zündschlüssel ab, steigt aus, sucht sich einen keuschen Platz zum Pinkeln, nicht weiter als drei Schritte vom Auto entfernt. Ich bleibe am Wagen, damit er nicht ohne mich abhauen kann. Er hat während der Fahrt keinen Schluck getrunken, deshalb glaube ich, die Pinkelpausen sind nur ein Vorwand, um mich vom Auto weg zu locken. Vielleicht hat er aber auch nur ein Blasenproblem.
Gott, muss ich pissen!
Ansonsten fährt er so schnell, wie es der Corsa hergibt. Das ist etwa 160 km/h. Auf der Autobahn steht das Wasser. Der Fahrer bugsiert den Wagen durch riesige Pfützen wie ein Speedboat über Wellen. Wenn die Räder durchdrehen, macht die Tachonadel einen Sprung Richtung 200, als würde sie sich von einer Klippe stürzen.
Ich führe Scheintelefonate. Der Fahrer soll wissen, dass es Leute gibt, die wissen, wo ich bin. Er bittet mich, von meinem Telefon aus einen Anruf zu machen, weil seine mazedonische SIM-Karte angeblich nicht in Serbien funktioniert. Er sagt mir die Nummer auf Englisch an, damit ich sie eintippen kann.
Später, als ich kurz wegdöse, mit meiner Laptoptasche unter die Beine geklemmt und meinem Telefon in der Hosentasche, bekommt der Wagen einen Schlag verpasst. Der Fahrer sagt OH! und fuchtelt mit den Armen. „Scheiße, ein Reifen ist geplatzt. Das war’s mit meinem Flug.”
Er fährt rechts ran, legt den Rückwärtsgang ein und gniedelt den Corsa auf dem Standstreifen 500 Meter rückwärts. Dann steigt er aus und rennt, mit beiden Händen seine Hose festhaltend, über die Fahrbahn. Eines seiner Taxi-Schilder ist abgefallen. Er sammelt es ein und packt es in den Kofferraum.
Er bietet mir eine Zigarette an. Es regnet immer noch stark. Der Fahrer öffnet per Knopfdruck nach jedem zweiten Zug an der Zigarette abwechselnd mein Fenster und dann seines zum Abaschen. Durch den schmalen Spalt rüsseln Regen und Fahrtwind in den Wagen.
Entlang der Autobahn liegen weißgetünchte Bauernhäuser wie Porzellanscherben auf einer Wiese verstreut. Aus faustgroßen Fenstern dringt das Licht nackter Glühbirnen. Und ab und an, als hätte jemand eine Hochzeitstorte abgestellt, ein pastellfarbener Palast, drei Stockwerke, säulengesäumt.
Zwischendurch versuche ich mir auszurechnen, was der Fahrer an mir verdient. Laut globalpetrolprices.com kostet der Liter Diesel in Mazedonien durchschnittlich 70 Cent. Wenn man für den Corsa (Modell 1.7 CDTI) großzügig acht Liter Verbrauch auf hundert Kilometern einrechnet, kommt man auf rund 60 Euro Spritkosten für die Hin-und Rückfahrt.
Dazu kommen nochmal etwa 6 Euro an Mautgebühren für die Autobahn. Rund 70 Euro Kosten hat mein Fahrer also. Das heißt, er verdient 130 Euro an mir, brutto. Wobei ich nicht glaube, dass es in diesem Fall ein Netto gibt. Laut der Stiftung Wissenschaft und Politik liegt der monatliche Durchschnittslohn in Mazedonien bei 350 Euro. Was übrigens weniger ist als in China.
Kann ich es dem Fahrer wirklich verübeln, dass er jeden Trick versucht, um ein paar Euro mehr zu verdienen? Sitze ich mit meinem Jack-Wolfskin-Rucksack, meinem neuen iPhone und meinem schicken Mantel nicht auch als Repräsentant eines Landes in seinem Wagen, das für die Scheißlöhne und die kaputte Wirtschaft auf dem Balkan mitverantwortlich ist? Führe ich mich nicht auf wie ein bekloppter Kolonialist, wenn ich einen gestandenen Mann von einem Bruttolohn von kaum zehn Euro die Stunde herunterhandeln will? Habe ich nicht selbst als Student schon mal meine Wohnung untervermietet und von der englischen Wissenschaftlerin 100 Euro mehr verlangt, als ich selbst zahlte, einfach, weil ich wusste, dass sie es nicht schmerzt und ich es gut gebrauchen kann?
„Du hast dich verarschen lassen!”
„Oh, Christian! Du hast dich verarschen lassen!“, sagt Valentina, mit allen Wassern gewaschene Rumänin, als ich ihr die Geschichte ein paar Tage später in einem Café in Bukarest erzähle. Sie rollt mit ihren großen braunen Augen und schlägt eine Hand vor die Stirn.
„Ich weiß. Aber was hätte ich machen sollen?“
„Na, auf jeden Fall nicht das Geld geben, bevor ihr angekommen seid. Du hattest Glück, dass er dich nicht einfach in Mazedonien rausgeschmissen hat. Der Mann hatte ein großes Herz.“
„Großes Herz am Arsch. Trotzdem hat er mich betrogen.“
„Für viele Männer auf dem Balkan gehört es zum Selbstverständnis, jemanden austricksen zu können. Jeder treibt sein Spielchen, und der Cleverere macht den besseren Schnitt dabei. Das ist ein Schwanzvergleich, ein Kräftemessen – aber es ist so weit verbreitet, dass kaum jemand auf die Idee käme, das Betrug zu nennen. Es wird als Trickserei angesehen, legitimiert dadurch, dass man mit seinem regulären Lohn kaum über die Runden kommt. Als Balkan-Experte müsstest du das doch mittlerweile wissen.“
„Okay, ja, weiß ich. Aber was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen, als er neben dem Flughafen von Skopje angehalten hat und so tat, als wüsste er nichts von unserem Deal?“
„Sein Spiel mitspielen. So tun, als würdest du nicht verstehen, was er will. Auch plötzlich kein Englisch mehr verstehen! 160 Euro sind ’ne Menge Geld, irgendwann wäre er schon gefahren.“
„Aber erst hätten wir wahrscheinlich ewig dort gesessen. Und ich musste zu meinem Flug!“
„Du wolltest es wie ein Deutscher klären. Auf dein Recht pochen. Als hättest du einen Vertrag mit dem Taxifahrer, den du der Polizei zeigen könntest!“
Der Fahrer war ein großer Schauspieler
Der Fahrer war ein großer Schauspieler, so viel war sicher. Ich habe früher eine Weile als Beleuchter im Theater gearbeitet und konnte dort an Schauspielern beobachten, wie sehr sie manchmal an ihrer Bühnenrolle hängen. Wenn sich einer zum Beispiel gerade à la Al Pacino im Finale von Der Pate III mit der sterbenden Tochter im Arm den Schmerz aus dem Leib brüllt – und dann kommt der Vorhang und das Stück ist zu Ende und der Schauspieler bleibt trotzdem kauern, obwohl es die Zuschauer gar nicht mehr sehen können.
Und dann, wenn das Publikum klatscht, kann er sich kaum freuen, so mitgenommen ist er noch, so sehr steckt ihm der lebensmüde Mafia-Pate noch in den Knochen, dass er kaum lächeln kann, und dann klatscht das Publikum noch ein bisschen mehr, gerührt davon, dass der Schauspieler so gerührt ist.
So ist das bei der Premiere und vielleicht noch bei den nächsten drei, vier Vorstellungen. Aber wenn unser Pate zum zwanzigsten Mal seine sterbende Tochter beschreit, dann ändert sich was.
Dann fällt der Vorhang und dem Schauspieler fällt sogleich alle Schauspielerei aus dem Gesicht, wie Erde, die aus einem Schaufelradbagger gekippt wird, und er denkt dann nicht mehr, „Oh, scheiße, meine Tochter!”, sondern: „Morgen muss ich früh raus.” Oder: „Wieder ein Champions-League-Halbfinale verpasst.” Oder: „Opa hat in der Kriegsgefangenschaft seinen Gürtel aufgegessen.” Oder vielleicht auch gar nix.
Aber warum hat der Fahrer so betroffen geguckt, als ich in Belgrad ausstieg? War die Was-hab-ich-denn-falsch-gemacht-Mine echt? Oder setzte er sich, als ich außer Sichtweite war, ins Auto und wurde zu einer Art Humphrey Bogart von Belgrad, entzündete ein Streichholz an der Sonnenblende und steuerte rauchend, mit hochgeklapptem Mantelkragen in die Nacht, einen halben Millimeter Spott im Mundwinkel, ein Auge auf der Straße, eins auf der Suche nach Krach?
Wahrscheinlicher ist, dass er sich auf dem Weg zu seiner Mutter machte, die er ja die ganze Fahrt über versucht hatte zu erreichen (mit meinem Handy). Sicher dachte er daran, dass ihm der Rücken weh tut, und vielleicht dass es schwer ist dieser Tage und was denn bloß in mich gefahren ist. Ein paar Passanten gucken, nichts besonderes. Warum interessiert mich das überhaupt?
Er hatte mich verarscht – was mir aber als fundamentale Ungerechtigkeit vorgekommen kam, eine persönliche Beleidigung, war für ihn hingegen nur ein Trick im Rahmen des Wettkampfs gewesen; wie eine Schwalbe beim Fußball.
Nun ist es ein Unterschied, ob ein Spieler des Rekordmeisters – in Führung liegend – eine Schwalbe macht, oder ob es der Spieler eines Vereins tut, der gegen den Abstieg kämpft und im Rückstand ist. Man neigt dazu, dem Underdog zu verzeihen, dass er sein Repertoire unzulässig erweitert hat. Was ist schon ein Handspiel gegen den Abstieg eines Traditionsvereins?
Wie viel Fairplay kann man einfordern, wenn man sich mit Ungleichen misst?
Wenn man die Perspektive des Underdogs einnimmt, kann man auch die Eskalation mancher diplomatischen Krisen zu Kriegen auf dem Balkan besser verstehen. Die Diplomaten des Westens verstanden meist nicht, dass oder wie die Serben zockten, sie pochten auf die Einhaltung ihrer Spielregeln – so lange, bis es kein gemeinsames Spielfeld mehr gab, bis irgendwann einer Fuck You! rufend vom Platz lief.
Kurz vor der Ausfahrt, die ins Zentrum von Belgrad führt, hält der Fahrer noch einmal mitten auf der Autobahn an, auf dem kleinen toten Streifen Asphalt vor dem Ausfahrtsschild.
„We go City Center? Or go Airport?“
„Airport, God dammit!“
„Airport 20 Euro extra!“
„No, no, no!“
Alle Fotos: Tiberiu-Mihail Cimpoeru.