„Ich bleib hier, bis ich nicht mehr bin”
Leben und Lieben

„Ich bleib hier, bis ich nicht mehr bin”

Der Platz rund um die Berliner U-Bahn-Station Kottbusser Tor wird gefährlicher. Doch die Anwohner halten dagegen – trotz Urin, Blut und Spritzen im Treppenhaus ist ihre Heimatliebe ungebrochen.

Profilbild von Von Esther Göbel, Berlin

„Der Kotti ist doch Luxus“, sagt Konrad, die Stimme von all den Zigaretten so tief, dass sie sich selbst fast verschluckt. „Guck´ doch mal die Aussicht“, sagt er, “bestes Panorama!“ Und tatsächlich: Hier oben im zehnten Stock an der Skalitzer Straße, direkt am Platz rund um das Kottbusser Tor, thront die Freiheit. Über dem Dreck der Straße, dem Geschrei der Verrückten, dem Lärm der Autos. Wer auf Konrads Balkon tritt, 1 Meter mal 3,50 Meter, vergisst, was unten passiert, schaut stattdessen über die Dächer dieser Stadt und staunt. Über die Weite, die sich plötzlich auftut, über den Blick, der kein Ende findet. Bis zum Horizont reiht sich Dach an Dach, das Himmelsblau fühlt sich näher an als das Grau der Verwahrlosung zehn Stockwerke tiefer. Wie eine Dosis Baldrian legen sich die Höhenmeter beruhigend über das Chaos rund um das Verkehrs-Rondell am Kottbusser Tor.

Von hier oben ist nicht zu erkennen, warum „der Kotti“, wie die Berliner den Platz rund um die U-Bahn-Station nennen, plötzlich eine „No-go-Area“ sein soll. Von Konrads Balkon aus betrachtet scheint diese Bezeichnung fast ein bisschen lächerlich.

Trotzdem hat sich die Sorge um den Zustand des Kottbusser Tors mittlerweile ins mediale und damit öffentliche Bewusstsein gepflanzt. „Is Kotti out of control?“ titelte das englischsprachige Magazin Der Exberliner, der Süddeutschen Zeitung diktierte die Bezirksbürgermeisterin von Kreuzberg-Friedrichshain die Aussage „Das kann nur noch die Polizei lösen“ in den Block. Und in der New York Times-Ausgabe vom 1. April 2016 sorgte sich der Autor Daniel Kehlmann in einem Meinungsstück um die Lage am Kotti. Ein Aprilscherz war diese Sorge nicht.

Warum das so ist, erklären die Zahlen: Fast 800 Taschendiebstähle ereigneten sich im Jahr 2015 rund das Kottbusser Tor mit seinen 300 Wohnungen, dem riesigen Plattenbau „Neues Kreuzberger Zentrum“, den Dönerbuden, Spätis und Kneipen - viermal mehr als noch 2013. Die Zahl der Drogendelikte hat sich von 2014 auf 2015 verdoppelt. Raubüberfälle nehmen genauso zu wie andere Gewaltdelikte, seit organisierte Gruppen junger Männer überall am Kotti Drogen verticken oder Geldbörsen klauen.

Er schläft auf dem Balkon, unter ihm der Kotti, über ihm der Himmel

Konrad, 58 Jahre alt, Künstler und Hartz-IV-Empfänger, Lucky Strike Big Package-Kettenraucher und Freigeist, Hundebesitzer und Wohnmobilfahrer, kennt den Kotti gut. Seit zwölf Jahren lebt er im Hochhaus an der Skalitzer Straße. Silberringe im Ohr und an den Händen, Boots an den Füßen, das halblange Silbergrau auf dem Kopf zurückgekämmt – in Konrads Statur steckt ein Gentleman mit Rockerattitüde. Wenn er böse guckt, kann man Angst vor ihm kriegen. Normalerweise aber bittet er freundlich zum Kaffee, fragt nach Milch und Zucker und begrüßt Damen mit Küsschen links, Küsschen rechts.

Konrad in seiner Wohnung: Freiheitsraum und Sehnsuchtsort für 500 Euro warm.

Konrad in seiner Wohnung: Freiheitsraum und Sehnsuchtsort für 500 Euro warm. Foto: Frank Suffert

Konrad mag den Kotti nicht besonders. Einerseits. Aber er liebt seine Wohnung und den Blick über die Dächer. Andererseits. Seine Exfrau und ihr Mann haben ihn gefragt, ob er mit ihnen in ein Haus aufs Land ziehen wolle. Man pflegt ein gutes Verhältnis untereinander. Der Kotti tut dir nicht gut, sagten sie zu Konrad. „Aber wem tut der Kotti schon gut?“, fragt der jetzt zurück, ohne eine Antwort abzuwarten.

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Wenn ihm doch mal alles zu anstrengend wird, zieht er für ein paar Tage nach Charlottenburg zur Exfrau. Konrad hat einen eigenen Schlüssel. Seine Heimat aber ist die Wohnung am Kotti. Der Balkon dient als Schlafzimmer – Konrad hat sich ein Bett auf den überdachten Balkon gezimmert. Dort schläft er, im Winter schützt eine Heizdecke ihn vor zu großer Kälte, im Sommer weckt die Sonne ihn frühmorgens. „Zum Aufstehen erstmal Kippchen, Käffchen, und dann lieg ich da ein Viertelstündchen und genieß den Blick“, sagt Konrad. Eine Leselampe spendet Licht in der Nacht, ein kleiner Kühlschrank sorgt dafür, dass im Sommer immer ein kaltes Getränk bereitsteht. Momentan sei der Balkon von den Wintermonaten noch ein bisschen siffig, entschuldigt Konrad sich, aber Ende der Woche wird er anfangen, neue Pflanzen zu setzen. Weihrauch, Knöterich, Trompetenblume. Damit die Sommersonne nicht so reinknallt am Morgen.

So liegt Konrad dann in seinem Himmelbett, unter ihm das Rauschen der Stadt, über ihm die Wolken und nachts die Sterne. „Ich bin der einzige, der direkt auf’m Kotti schläft“, sagt Konrad und lacht.

Zimmer mit Aussicht: Von seinem Balkonbett schaut Konrad direkt in den Himmel.

Zimmer mit Aussicht: Von seinem Balkonbett schaut Konrad direkt in den Himmel. Foto: privat

Von oben kann er sehen, wenn die Punks sich unten am Kotti mal wieder die Köpfe einschlagen oder die Junkies um den orangenen Mülleimer schräg vorm türkischen Gemüsestand lümmeln. Neu sind jene Jungstrupps, junge Männer nordafrikanischer Herkunft, Taschendiebe, von denen jetzt alle als „Antänzer“ berichten.

Von Konrads Balkon aus betrachtet scheint all das in ertragbarer Ferne. Aber das Elend ist näher an ihn herangerückt. Es begegnet ihm seit einigen Monaten im Treppenhaus. Da sitzen oder liegen die Junkies und spritzen sich seelenruhig ihren Stoff. Auch an diesem Tag. Wer es sich zumutet, die ganzen zehn Stockwerke von unten nach oben Stufe für Stufe zurückzulegen, begegnet nicht nur Menschen, die das Leben längst aufgegeben hat. Sondern sieht auch eingetrocknete Blutflecken und Reste von Urinlachen, riecht den süßlich stickigen Geruch von ehemals Erbrochenem, bemerkt die Einbruchsspuren an der Haustür, wundert sich über unkenntliche Flecken an den Fahrstuhlinnenwänden und entsinnt sich, was eine Bewohnerin aus dem Haus geraten hatte: Nie die Fahrstuhltür mit den Händen anfassen, lieber mit der Jacke überm Ellbogen aufdrücken!

Gemütlich war es am Kotti nie – viele Bewohner haben Angst

Besagte Hausbewohnerin ist kürzlich ausgezogen. Auch sie machte den Kotti „multikulti“, als junge Künstlerin aus dem Ausland. Zwei Jahre lebte sie in Konrads Haus, achter Stock. Anfangs habe sie den Kotti geliebt, sagt sie. Die Sicht und den Trubel. Die netten Menschen im Haus. Doch in den vergangenen Monaten habe sich die Situation verschlimmert. Ihren Namen will die ehemalige Bewohnerin lieber nicht nennen, stattdessen zeigt sie als Erklärung Handy-Fotos von benutzten Spritzen, die sie im Treppenhaus fotografiert hat. Sie wohnt seit einigen Wochen in einer Wohnung direkt am Rathaus Neukölln. Auch nicht die beste Lage, aber immerhin: abgezogene Dielen, Doppelfenster, ein anständiges Bad. Keine Junkies im Treppenhaus. Sie vermisst die Aussicht, die sie im Haus am Kotti über die Dächer Berlins hatte. Aber sie wollte das Elend vor und hinter ihrer Haustür nicht mehr ertragen. Sie hatte Angst, wenn sie nachts nach Hause ging, sagt sie.

„Ich hab gar nix gegen die Junkies“, sagt Konrad, den so schnell nichts erschüttern kann. Er hat mehr in seinem Leben gesehen als die meisten anderen sich vorstellen mögen. Früher, vor zwanzig Jahren, leitete er eine eigene Firma, sozialer Pflegedienst. Er und seine vier Mitarbeiter übernahmen die Fälle, die sonst keiner wollte. Also sagt Konrad jetzt: „Die Junkies können ja im Treppenhaus sitzen, is doch wärmer hier als draußen. Aber reinpinkeln oder scheißen, muss das sein?“

Konrad hat keine Angst, wenn er draußen über den Platz zu Kaiser’s geht oder zum türkischen Gemüsestand. Seine Statur verspricht Respekt. „Wenn ich unten am Kotti bin, geh ich einfach blind weiter, mir tut keiner was“, sagt er. Gemütlich war es am Kottbusser Tor sowieso noch nie: Angedacht war der krude Platz ursprünglich als Autobahnkreuz, Ende der Sechziger. Aber wie so vieles in Berlin wurde der Plan nie verwirklicht.

Die Zeiten ändern sich trotzdem. Sie werden rauer. Und obwohl Konrad keine Angst hat, besitzt er jetzt ein Pfefferspray. Innerhalb weniger Monate wurde in seinem Wohnmobil siebenmal eingebrochen. Er hatte es in einer der Seitenstraßen abgestellt. Zweimal ertappte Konrad die Täter, noch während sie in seinem Fahrzeug saßen. Einmal sprühten die Diebe ihm ihr eigenes Pfefferspray direkt ins Gesicht, bevor sie flohen. Deswegen hat Konrad jetzt auch eins; man weiß nie, was passiert.

Der Platz rund um die U-Bahn-Station Kottbusser Tor: von oben wie ein buntes Wimmelbild.

Der Platz rund um die U-Bahn-Station Kottbusser Tor: von oben wie ein buntes Wimmelbild. Foto: Frank Suffert

Es ist diese gefühlte Unsicherheit, die sich durch die Ritzen unter den Wohnungstüren einschleicht in das Haus an der Skalitzer Straße, in das Leben der Menschen. Die Polizei erntet Kritik von allen Seiten, egal, wen man fragt. Das Vertrauen der Anwohner ist gering. Die drei großen Hausverwaltungen am Platz, die Kremer, Omnia und ZBVV GmbH, leisten sich seit Anfang April einen privaten Sicherheitsdienst: Jeweils vier Personen patrouillieren von 16 Uhr nachmittags bis 02.30 Uhr nachts am Kotti auf und ab, um den Menschen ein Gefühl von Sicherheit zurückzugeben. Der Sicherheitstrupp soll Kontrollgänge durch die Hauseingänge erledigen, eine Hundestreife gehört laut Auskunft der ZBVV GmbH auch mit zum Programm.

Wo waren die Leute, als wir sie gebraucht haben, fragt der Doktor

Besser fühlen sich Konrad und seine Nachbarn aus dem Haus deswegen nicht. Dort ist noch nicht einmal angekommen, dass es jenen Sicherheitsservice überhaupt gibt. „Die Hausverwaltung kümmert sich nicht richtig“, sagt Konrad. „Nie ist jemand zu erreichen!”, schimpft ein zweifacher Familienvater im Hausflur. Und Doktor Ufuk Balimuhac aus dem dritten Stock, der seine Praxis für Allgemeinmedizin dort seit mehr als 20 Jahren hat, regt sich ebenfalls auf. Wieso im vergangenen Jahr die Hauseingangstür drei Monate lang kaputt war und sich niemand von der Hausverwaltung kümmerte, versteht er nicht. Auch nicht, wieso das Haus keine eigene Security mehr hat. Die wurde vor knapp zwei Jahren abgezogen, schätzt Balimuhac. Seitdem nutzen die Junkies vermehrt das Treppenhaus. Balimuhac will gegen die Hausverwaltung klagen. „Wo ist unsere Ansprechperson“, fragt er seinen Gesprächspartner wütend in den Telefonhörer.

Die ZBVV GmbH weist diese Vorwürfe auf Anfrage zurück. Man stehe den Mietern in den Sprechzeiten persönlich und telefonisch sowie darüber hinaus auch schriftlich per E-Mail zur Verfügung. „Das Gebäude wird von uns entsprechend den örtlichen Gegebenheiten verwaltet und intensiv betreut”, teilt die Hausverwaltung per E-Mail mit.

Die Bewohner des Hauses sehen das anders. Sie fühlen sich allein gelassen. Daran kann auch die plötzliche mediale Fixierung nichts ändern. Doktor Balimuhac ist genervt ob der Hysterie, die gerade um sich greift. „Alle haben geschlafen, obwohl das Drogenproblem und die Sache mit der Kriminalität doch bekannt waren“, sagt der Arzt, „die Lage am Kotti war immer schon schlimm, das Problem ist nicht neu.“ Er glaubt nicht an die Hausverwaltung, nicht an die Polizei, auch nicht an die Politik. „Wo waren die zuständigen Leute, als wir sie früher schon gebraucht haben?“, fragt der Doktor. Es gibt Gerüchte, dass einige der ansässigen Gewerbetreibenden sich privat zu Bürgerwehren zusammentun wollen.

Die Drogen und der Kotti: kein neues Problem. Aber die Blutspuren und Spritzen im Treppenhaus schon.

Die Drogen und der Kotti: kein neues Problem. Aber die Blutspuren und Spritzen im Treppenhaus schon. Foto: privat

Wie wird es weitergehen am Kotti?

Das ist die große Frage, die momentan niemand beantworten kann. Der 1. Mai steht vor der Tür, der Tradition nach ein besonderer Tag in Kreuzberg. Krawalle, Demo und Partyvolk bilden eine scheppernde Masse, die Potenzial bietet, ins Unheil zu kippen. Früher hat Konrad Freunde zum Grillen auf seinen Balkon eingeladen. Dieses Jahr nicht mehr; die Freunde aus dem Haus seien weggezogen und die von außen kämen ja nicht mehr durch die Masse auf der Straße durch, meint Konrad.

Er selbst wird nicht fortziehen, sagt er, der Aussicht wegen. Und weil er Multikulti doch möge. Auch wenn die Lage nervt: Für Konrad bietet der Kotti noch immer den Freiraum, den er braucht.

Zehn Stockwerke unter ihm versammeln sich schon wieder die Junkies, rechts neben dem türkischen Gemüsestand. Die Uhr am Platz zeigt noch nicht einmal Mittagzeit. Doch Konrad ist sich sicher: „Ich bleib am Kotti”, sagt er und zieht an seiner Lucky Strike. „Bis ich irgendwann nicht mehr bin.“


Aufmacherbild: Konrad auf seinem Balkon; Foto: Frank Suffert für Krautreporter.