„Der Mond umkreist die Erde und erzeugt dadurch die Gezeiten. Damit erzeugt er ja im Prinzip Energie auf der Erde“, schreibst du, lieber Tobias. „Man kann ja ein Gezeitenkraftwerk errichten und aus der Bewegung des Mondes Strom erzeugen. Die Frage ist jetzt: Müsste der Mond dadurch nicht gebremst werden und irgendwann auf die Erde stürzen?“ Eine interessante Vorstellung, finde ich. Aber ist das tatsächlich ein denkbares Szenario? Und wenn ja, in welchem Moment tritt es ein? Ich habe die Krautreporter-Experten gefragt, was sie von dieser Theorie halten.
Das ist ein Beitrag der Krautreporter-Leser. Ich habe die Antworten lediglich zusammengefasst und in einen mir sinnvoll erscheinenden Zusammenhang gebracht. Sämtliche ausführlichen Beiträge findet ihr im Mitgliederbereich (bitte einloggen). Mitglied werden? So geht’s.
Deine eigene Idee zum Thema möchte ich noch einmal voranstellen, lieber Tobias: „Der Mond erzeugt die Flut so, dass das Wasser aufgrund der Mondanziehung, unter dem Mond sozusagen, zusammenläuft und eine Art Hügel bildet. Ich denke, dass die Spitze dieses Hügels aber nicht ganz genau unter dem Mond liegt, sondern aufgrund der Trägheit des Wassers dem Mond etwas ‘hinterher läuft’. Also, wenn man eine Linie von der Spitze des Hügels zum Mond ziehen würde, dann würde diese Linie nicht durch den Erdmittelpunkt gehen und stünde somit also auch nicht im rechten Winkel zur Mondbewegung. Anders gesagt, der Mond verursacht eine minimale Verformung der Erde. Diese Verformung läuft dem Mond hinterher und zieht von hinten am Mond, wodurch er langsamer wird.“ Deine Ausführungen enthalten einiges Richtiges, sind aber im Ganzen nach Ansicht der KR-Experten nicht stichhaltig, womit sie deinem Bruder, dem Physiklehrer, Recht geben, der ebenfalls skeptisch war.
Der Grundgedanke deiner Frage ist richtig, nämlich, dass „wir Energie nicht aus dem Nichts erzeugen, können, sondern sie muss dem System auf die eine oder andere Weise entnommen werden“, schreibt Diplomingenieur F. Die Kräfte im System sind aber ungleich komplex, deshalb fangen wir an und betrachten, wie Mond und Erde zusammenwirken.
„Wie Tobias richtig schreibt, hält die Anziehungskraft zwischen Erde und Mond den Mond auf seiner Bahn“, meint Ben, „und die Anziehungskraft wird aufgewogen durch die Zentrifugalkraft, die wegen der Krümmung der Mondbahn wirkt. Es gibt also ein Kräftegleichgewicht, und deswegen ist die Mondbahn stabil. Bei dieser Bewegung dreht sich der Mond allerdings nicht um den Mittelpunkt der Erde, sondern um den gemeinsamen Schwerpunkt des Systems Erde-Mond (der noch innerhalb der Erde liegt, aber etwa 4.700 km vom Erdmittelpunkt zum Mond hin verschoben). Man kann sich das vorstellen wie bei einem geworfenen Hammer - auch der dreht um den gemeinsamen Schwerpunkt von Kopf und Stiel.“
Die Wissenschaft nennt diesen Drehpunkt Baryzentrum, weiß Martin und beschreibt das Phänomen als Zweikörperproblem. Physiker Sebastian erklärt: „Bei der Bewegung des Monds um die Erde handelt es sich um das sogenannte Zweikörperproblem. Wenn sowohl der Mond als auch die Erde vollständig rigide Objekte wären, ließe sich die relative Bewegung als Ellipse beschreiben, die sich nie ändert. Allerdings ist es in der Tat so, dass durch die Gezeiten (welche nicht nur das Wasser, sondern auch das Gestein betreffen), dem System Energie entzogen wird, weil die Bewegung des Wassers bzw. des Gesteins Reibung erzeugt, wodurch im Endeffekt kinetische Energie in Wärmeenergie umgewandelt wird.“
Anders ausgedrückt: „Der Mond kreist nicht um die Erde, sondern Mond und Erde kreisen um den gemeinsamen Schwerpunkt, der etwas unterhalb der Erdoberfläche liegt“, meint Klaus. Dabei läuft „die Verformung nicht hinter dem Mond her, sondern vor ihm her“, korrigiert Thomas, der deshalb findet, dass deine Theorie bis zur Verformung gut klingt, dann aber etwas hakt. „Warum? Die Erde dreht sich schneller um sich selbst als der Mond die Erde umkreist (1 Tag gegenüber etwa 28 Tagen). Entsprechend zieht die Verformung von vorn am Mond.“
Der Mond wird tatsächlich langsamer, dadurch entfernt er sich aber von der Erde (größere Umlaufbahn), so Klaus. Er wird die Erde also irgendwann verlassen. Schon jetzt „entfernt er sich von ihr (siehe das 3. Keplersche Gesetz)“, schreibt Susi Sonnenschein - und „das um 4 Zentimeter“, ergänzt Physiklehrer Jan. Genau genommen wurde mit Lasern „eine jährliche Entfernungszunahme von etwa 3,8 Zentimetern gemessen“, präzisiert Christian. „In einigen Milliarden Jahren wird sich der Mond dann so weit von der Erde entfernen, dass der Einfluss der Schwerkraft der Sonne stärker wird als derjenige der Erde. Dann könnte uns der Mond sogar verloren gehen. Fazit: Im Gegenteil!”
„Die Gezeitenkräfte, die beide Himmelskörper aufeinander ausüben, führen dazu, dass sich ihre Drehung verlangsamt“, erklärt Heinrich. Die Erde als der stärkere der beiden Partner hat die Monddrehung soweit abgebremst, dass er uns immer nur dieselbe Seite zeigt. Genauso bremst der Mond durch die Reibung, die seine Gezeitenkräfte auf das Meer und auf die Erdkruste insgesamt ausüben, seinerseits die Erddrehung.“
Die Gezeiten veranschaulicht Ben in einem Bild: „Um zu verstehen, warum die Gezeiten im Ozean so deutlich sind, reicht es, sich das Ganze in kleinerem Maßstab vorzustellen: eine unregelmäßig geformte Schüssel mit Wasser, die man ein bisschen hin- und herschwenkt, um das Rütteln des Gezeitenpotentials nachzuahmen: dieses Rütteln wird zu Wellen im Wasser führen - und je nachdem, wie die Schüssel geformt ist, sind die Wellen an manchen Stellen höher, an anderen niedriger etc. - genau so, wie das auch bei den Gezeiten im Ozean der Fall ist.“
Gezeiten, davon ist Physiker Sebastian überzeugt, betreffen nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis nicht nur das Wasser, sondern auch solide Objekte: „Ich weiß aus erster Hand, dass bei Präzisionsmessungen am LEP (dem Vorläufer-Beschleuniger des LHC) Schwankungen registriert wurden, die mit der Deformation durch die Gezeiten erklärt werden konnten.“
Nun ist es so, dass man „bei den Gezeiten zunächst auseinanderhalten muss, was Ursache und Wirkung ist“, wie Martin im Folgenden deutlich macht: „Wäre der Mondumlauf der einzige Faktor, den wir zu berücksichtigen hätten, müsste eine Gezeit - also zeitlicher Abstand zweier aufeinander folgender Hochwasser - mit der Mondumlaufzeit korrespondieren (bummelig 27,5 Tage). Tut sie aber nicht. Wenn man sich einen Gezeitenkalender ansieht, z.B. hier, stellt man sehr schnell fest, dass wir nicht ganz zwei Gezeiten pro Tag haben. Das hängt mit zwei Dingen zusammen: Zum einen mit zwei Kräften, die auf die Erdoberfläche wirken“, und - damit kommen wir noch einmal zum Anfang zurück - „die Gravitationskraft des Mondes und die Fliehkraft, die sich durch die Rotation um das Baryzentrum ergibt. Die Gravitationskraft ist auf der mondzugewandten Seite größer, auf der abgewandten Seite ist es die Fliehkraft. Somit zerren zwei Kräfte an der Oberfläche und bewirken entlang der Baryzentrumsachse ein Auseinanderziehen an der Erdoberfläche. (…) Das Wasser fließt in Richtung Erde-Mond-Achse, wo es mit einem Winkelversatz zu beiden (!) Seiten einen Wellenberg bildet, wo hingegen quer dazu sich ein Wellental befindet.“ Zum anderen: „Die Erde dreht sich um sich selbst. Also dreht sie sich an einem Tag unter beiden Wellenbergen hindurch. Unsere Gezeiten entstehen so gesehen eher durch die Eigenrotation der Erde, als durch den Mondumlauf. Wenn ein Gezeitenkraftwerk sich ein Stück dieser Welle schnappt, und zeitverzögert zurückfließen lässt, dann hat das einen Einfluss auf die Eigenrotation, nicht auf den Mondumlauf.“
Damit kommen wir zum Kern deiner Frage, Tobias, was ist ein Gezeitenkraftwerk und woher stammt die Energie. „Der Knackpunkt dieser interessanten Frage ist“, wie Ben schreibt, „dass die in Gezeitenkraftwerken geerntete Energie nicht aus der Bewegungsenergie des Mondes stammt, sondern aus der der Erde - und zwar der Rotationsenergie“. Es handelt sich bei dieser Art Kraftwerk um „ein Wasserkraftwerk, das potentielle und kinetische Energie aus dem Tidenhub des Meeres in elektrischen Strom wandelt“, erklärt Holger. Die Energie nehmen wir also „aus der Strömungsgeschwindigkeit des Meeres beim Wechsel zwischen Nipptide und Springtide“, sagt Diplomingenieur F. „Bei exzessiver Nutzung von Gezeitenkraftwerken würden wir demnach das Meer ‚abbremsen’, nicht aber den Mond. Der sorgt nur dafür, dass sich das Meer überhaupt derart bewegt.“ Nach Ansicht von Thomas „vergrößern sie die Gezeitenreibung, bremsen die Erddrehung also zusätzlich.“ Anders gesagt: „Wo Wellen sind, bewegt sich das Wasser - und wo Bewegung ist, gibt es auch Reibung“, so Ben. Und genau diese Reibung bremst die Erde langsam ab.” Von daher könnte man nun schließen, dass eine Ernte der Gezeitenenergie die Reibung zwischen Wasser und fester Erde erhöht, und deswegen die Verlangsamung der Erdrotation verstärkt. Muss aber nicht so sein, denn es kann auch sein, dass die von den Gezeitenkraftwerken geerntete Energie dann woanders im Ozean fehlt.“
„Eine mögliche Folge von Gezeitenkraftwerken wäre, dass die Erde sich langsamer dreht, unsere Tage also länger werden. Das ist auch - aufgrund der Gezeiten - sowieso der Fall.“ Die Tage werden jährlich um nur schwer vorstellbare 17 Mikrosekunden länger (das sind 0,000.017 Sekunden). „Vor rund 900 Mio. Jahren dauerte ein Erdtag nur rund 18 Stunden“, schreibt Ben. Ich weiß nicht, wie es dir geht, Tobias, aber wenn das so ist, bin ich eigentlich dafür, so viele Gezeitenkraftwerke wie möglich zu errichten. Denn meine Tage sind schon jetzt zu kurz.
Die Gesamtenergie und der Drehimpuls des Systems bleiben insgesamt aber erhalten, fasst Reinhard zusammen: „Der Mond nimmt den Drehimpuls von der Erde auf und wird beschleunigt. Er entfernt sich dadurch.“ Und das ist sie dann wohl, die Antwort auf deine Frage, Tobias. (Mehr Antworten lest ihr hier im Mitgliederbereich. Falk und Holger schließen zwei interessante Vermutungen an, die ich dir nicht vorenthalten möchte. Falk macht darauf aufmerksam, dass durch das Umschichten gigantischer Wassermassen zumindest die Entropie zunimmt. Das heißt: „Auf sehr lange Sicht ist dies ein Sargnagel zum Wärmetod des Universums - mit oder ohne Gezeitenkraftwerk.“ Und Holger meint: „Vielleicht wird die Erde durch Gezeitenkraftwerke einfach nur leiser? Weil die Bewegungsenergie der Wasserwellen beim Crashen mit anderer Materie in akustischen Schall verwandelt wird.“ Nun ja, ich fürchte, das führt zu weit und wirft eine Reihe weiterer Fragen auf.
Deshalb zum Abschluss noch ein Hinweis von Jan: „Tatsächlich gibt es Gezeitenkraftwerke ja bereits.“ Zumindest als Pilotanlagen, denn sie stecken weltweit noch in den Kinderschuhen und müssen ihren Nutzen in der Praxis erst noch unter Beweis stellen. Ob mit Mond oder ohne.
Illustration: Sibylle Jazra für Krautreporter.