Ich kann nicht alleine sein – ist das normal?
Leben und Lieben

Ich kann nicht alleine sein – ist das normal?

Bin ich normal? Diese Kolumne beantwortet eure Fragen nach Durchschnitt und Ausnahme. In dieser Folge gehe ich der Frage von Krautreporter-Leserin K. nach.

Profilbild von Kolumne von Susan Mücke

Frauen sind Kletten, lautet ein beliebtes Vorurteil bindungsunwilliger Männer. Die Frage von KR-Leserin K., die nicht alleine sein kann, scheint es zu bestätigen. Dem möchte ich zunächst zwei Statistiken entgegenhalten. Die erste zeigt, dass sich Frauen eher scheiden lassen wollen als Männer. Während in Deutschland nur 40 Prozent der Anträge auf Scheidungen von Männern ausgehen, kommt mehr als die Hälfte von Frauen. In den USA ist der Anteil sogar noch höher. Nach einer Studie des Soziologen Michael Rosenfeld von der Stanford University waren 69 Prozent der Scheidungsanträge von Frauen, aber nur 31 Prozent von Männern eingereicht worden.

Die zweite Statistik zeigt, dass sie gar nicht erst heiraten möchten, zumindest, wenn sie älter sind. Während mehr junge Frauen zwischen 20 und 35 Jahren als Männer sich die Ehe wünschen, ist es bei den Ü50s genau umgekehrt. Die meisten Frauen in diesem Alter sind allein glücklich und zufrieden, wohingegen Männer nicht alleine sein können und sich nach einer (Ehe-)Frau sehnen. Damit möchte ich nicht sagen, aber auch nicht ausschließen, dass womöglich Männer die wahren Kletten sind.

Nun zu deiner Frage, liebe K. Nachdem ich sie veröffentlicht habe, hat mir Mandy geschrieben. Sie ist 26 Jahre alt und auch ihr fällt es schwer, alleine zu sein. Sie hat einen Freund, aber „wenn wir uns nicht sehen können und ich alleine zu Hause bin, fällt mir oft die Decke auf den Kopf“, schreibt sie. „Ich hätte genug zu tun, um mich allein zu beschäftigen, aber ich bin dann antriebslos und kann an nichts anderes denken, als dass ich ihn bei mir haben will.“ Mandy hat noch nie allein gelebt, ist seinerzeit bei ihrer Mutter aus- und direkt bei ihrem damaligen Freund eingezogen. Mit ihm war sie zehn Jahre lang zusammen, und „man hat natürlich auch seinen gesamten Alltag aneinander ausgerichtet. Wir waren auch an der gleichen Uni und am gleichen Lehrstuhl. Das ging so weit, dass ich eigentlich gar kein soziales Auffangnetz hatte, was auch schließlich bedingte, dass ich mich nicht von der Beziehung lösen konnte (die eigentlich schon lange nicht aus Liebe bestand). Erst durch eine Therapie konnte mir das aufgezeigt werden, ich habe gelernt, mein soziales Netz etwas aufzubauen und unabhängiger zu werden.“

Alleinsein, Einsamkeit und die Suche nach Liebe sind in all ihren Facetten die wichtigsten Themen in Literatur, Film und Kunst. Fast die gesamte populäre Musik speist sich aus diesen Gefühlen, geschätzt mehr als 90 Prozent aller Popsongs handeln davon. Ein Blick in die von Rolling Stone und Musikexpress gekürten „Besten Songs aller Zeiten“ beweist das: Einmal ist „Love Will Tear Us Apart“ von Joy Division auf Platz 1, einmal Bob Dylans „Like a rolling stone“. Allein aufgrund dieser Alltagswahrnehmungen würde ich euch spontan zurufen, na klar, es ist völlig normal, nicht allein sein zu können, Liebe und Beziehungen zu suchen.

Dennoch gibt es natürlich (selbst-)zerstörerische Formen, wenn die Beziehung den Status einer Droge einnimmt, die Betroffenen süchtig nach Bindungen und einem Partner sind. Neben einer Fixierung auf die Beziehung lassen sich dabei Entzugserscheinungen beobachten, wenn die Partner sich trennen, wie die Anthropologin Helen E. Fisher von der Rutgers University (New York) mit Hilfe von Gehirnscans nachgewiesen hat. Dazu zählen Übelkeit, Schwitzen, Schüttelfrost, Zittern, Unruhe, Zwangsvorstellungen, Schlaflosigkeit. Daten dazu, wie viele Männer und Frauen unter Beziehungssucht leiden, existieren leider nicht. Interessant für mich war zu lesen, dass sowohl zu viel Nähe als auch zu viel Distanz die Gefahr von Sucht bergen, was ich bei letzterem erst einmal nicht vermutet hätte. Im ersten Fall dient das Suchtverhalten der Abgrenzung und im zweiten wird es zum verlässlichen Beziehungspartner selbst.

Belastbare Zahlen aber gibt es zu den Lebenssituationen der Bundesbürger: Fast 16 Millionen Menschen in Deutschland leben laut Statistischem Bundesamt allein. Das entspricht rund einem Fünftel der Bevölkerung. Vor gut 20 Jahren waren es noch 14 Prozent, in 15 Jahren werden es bereits 23 Prozent sein. Mehr als die Hälfte der Alleinlebenden sind Frauen (8,5 Millionen, Männer: 7,4 Millionen). Damit lag die Alleinlebendenquote der Frauen mit 21 Prozent etwas höher als die der Männer mit 19 Prozent. Das heißt natürlich nicht, dass alle diese Menschen auch tatsächlich allein, das heißt ohne Partner sind oder sich so fühlen. Und natürlich leben auch umgekehrt in WGs oder Gemeinschaftsprojekten Singles. Die Zahlen zeigen aber, dass Einpersonenhaushalte immer weiter zunehmen, wohingegen immer weniger Menschen (49 Prozent) in Familien leben.

Das Marktforschungsinstitut TNS Infratest hat vor einiger Zeit eine repräsentative Gruppe von knapp 20.000 Männern und Frauen gefragt, ob sie sich oft einsam fühlen. Fast acht Prozent der Befragten stimmt dieser Aussage vorbehaltlos zu, immerhin etwas mehr als jeder Sechste empfindet gelegentlich Einsamkeit. Die Mehrheit der Befragten aber fühlt sich nicht allein.

Nach Ansicht von Psychologen, wie John Cacioppo von der University of Chicago, ist Einsamkeit ein ähnlich wichtiges Signal des Körpers wie Hunger. Es sichert das Überleben. Der Mensch ist ein soziales Wesen. In der Evolution des Homo sapiens konnte der Verlust der Horde leicht tödlich für ihn enden. Und auch heute lebt der Mensch länger, wenn er sozialen Rückhalt und stabile Beziehungen hat, wie eine Analyse von 148 Studien mit Daten von 30.000 Probanden ergeben hat. Alleinsein macht krank. Das heißt aber nicht, dass es generell ungesund ist, auch einmal allein zu sein oder den Wunsch danach zu haben. Einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach zufolge sind fast zwei Drittel der Befragten auch gerne mal für sich, nur knapp ein Drittel möchte das nicht.

Zum Abschluss, liebe K., möchte ich dir noch die Bindungstheorie der kanadischen Psychologin Kim Bartholomew ans Herz legen. Sie hat vier Bindungsstile ausgemacht, denen das Einsamkeitsempfinden bei Erwachsenen folgt. Der sichere Typ (1) sorgt sich nicht darüber, alleine zu sein. Der besitzergreifende (2) hat das starke Verlangen, anderen nahe zu sein, während der abweisende (3) so unabhängig wie möglich bleiben möchte. Der ängstliche (4) hingegen möchte nicht alleine sein, fürchtet sich aber gleichzeitig vor Nähe, aus Angst verletzt zu werden. Welchem Typ du angehörst, ist vorgeprägt durch die frühkindliche Beziehung, die du insbesondere zu deiner Mutter erfahren hast.

Es ist also durchaus normal, nicht allein sein zu können, liebe K. Entscheidend scheint mir dabei zu sein, das richtige Maß für sich selbst zu finden.


Aufmacherfoto: Tom Hanks als Chuck Noland in „Cast Away - Verschollen” (© 20th Century Fox)