„In den USA muss alles unterhaltsam sein, auch der Journalismus”
Leben und Lieben

„In den USA muss alles unterhaltsam sein, auch der Journalismus”

Johannes Kuhn ist US-Korrespondent für Tech- und Wirtschaftsthemen. In unserer Rubrik Medienmenü verrät er seine Lieblingsquellen für die richtige Dosis an Information.

Profilbild von Aufgezeichnet von Christoph Koch

Morgens informiere ich mich meistens über Twitter auf dem Telefon und höre dann Radio-Nachrichten. Wenn es schnell gehen muss Deutschlandfunk, wenn ich mehr Zeit habe , dann gibt es als Bonus NPR und BBC. Am Frühstückstisch dann Twitter Highlights, kurz die SZ-Startseite und ein paar Übersichten: Die Tagesvorschau der New York Times hilft mir hier, für US-Politik das Washingtoner Playbook von Mike Allen. Ob ich Technologie-Themen vom Vortag verpasst habe, sagt mir der Newsletter des Business Insider, die Geschichten lese ich dann auf besseren Seiten nach. Allerdings kriege ich nicht immer alles unter oder bleibe unterwegs irgendwo hängen. Und ein Genuss ist das nicht.

Seit ich in den USA lebe, gebe ich für einzelne Medien durchschnittlich weniger, aber insgesamt sehr viel mehr aus als früher. Viele Angebote pendeln sich bei zehn Dollar pro Monat ein. Ich zahle für Streaming, gute Kuratierung (The Browser), Fach-Analysen (Stratechery) oder Übersetzung (Worldcrunch). Die Zahl von Newslettern in meiner Inbox ist explodiert. Vor allem aber habe ich zu schätzen gelernt, dass hier alles unterhaltsam sein muss, auch der Journalismus.Noch ein Charakteristikum meines Lebens in den USA: Ich besitze zu viele Magazin-Abos. Die sind hier sehr günstig, für ein bis zwei Dollar pro Ausgabe bestellt man dann schon mal Vanity Fair - um sie am Ende doch nicht zu lesen. Ich hatte zum Beispiel auch mal das libertäre Reason-Magazin im Abo, aber dann hat mir Rand Paul ständig Bettelbriefe geschrieben und ich musste es abbestellen. Ein regelmäßiger Fixpunkt ist für mich weiterhin der Economist, aber auch die London Review of Books oder Foreign Affairs möchte ich nicht missen. Oder das Sun Magazine, weil darin die Melancholie des progressiven Amerikas wohnt.

In die SZ und die New York Times gucke ich täglich digital. Als ich in San Francisco wohnte, hatte ich den Chronicle abonniert, der wurde aber nach 7:30 Uhr meistens schon von der Türschwelle geklaut; manchmal sah ich eine obdachlose Frau aus unserer Straße damit in ein Baustellen-Dixie verschwinden. Hier in New Orleans sind die Zeitungen leider infolge der Medienkrise ziemlich unlesbar geworden, die Times Picayune hat schon vor Jahren den täglichen Erscheinungsrhythmus eingestellt.

Im Netz bin ich, was Nachrichten betrifft, jenseits von SZ.de schon völlig entbündelt. Feedly, mein RSS-Reader, ist gut sortiert. Interessante Stücke von dort oder Twitter-Empfehlungen schicke ich mir auf meinen Kindle, den ich deswegen überall dabei habe.

Ich benutze dauernd das „Send To Kindle“-Bookmarklet (und die mobilen Äquivalente), um mir Texte vom Web auf das Lesegerät zu schicken. Seitdem ich nicht mehr pendeln muss, lese ich dort lieber als auf Smartphone oder Tablet, weil auf diesen Geräten die Ablenkung groß ist und meine Augen müde werden.

Twitter habe ich mir gut nach Listen zurechtgelegt, die ich via Tweetdeck verfolge. Alle Tweets und Favoriten wandern in Pinboard, da gucke ich dann ab und zu rein, freue mich und überlege, ob es mir irgendwann einmal nutzen wird. In mein Blog schreibe ich inzwischen jede Woche die interessantesten Sachen, die ich gelesen habe. One Tab im Browser ist ein für Recherchen sehr nützliches Werkzeug.

Eine Seite, die mir ans Herz gewachsen ist, ist newyorker.com, weil dort fast immer etwas Durchdachtes zu einem aktuellen Thema zu lesen ist und sie sich nicht von der Echtzeit treiben lassen. Ich mag die Webseite inzwischen mehr als das Magazin.

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Dazu verfolge ich ungefähr 60 Tech-Blogs von Autoren, die in der Branche arbeiten. In Deutschland orientiere ich mich vor allem über Rivva. Jeden Tag lese ich Anmut und Demut, weil Ben ein Freund und Vorbild ist. Sein Blog hat kein Ziel wie Markenbildung oder Reichweite, sondern ist einfach nur ein Ort, an dem er seinen Gedanken freien Lauf lässt und andere mitschnacken. Toll!

Auf Wiesaussieht stellt Frank Lübberding, den ich sehr schätze, sehr gute Fragen an uns als Öffentlichkeit und lässt sie in den Kommentaren verhandeln. Oh, und das Königsblog für Schalke natürlich! Gerade die Fußballblogs sind in Deutschland richtig gut geworden, dafür sind viele andere Themen und Autoren verschwunden oder nicht mehr sichtbar.

https://www.youtube.com/watch?v=phB9ICpxkcU

Aber das ist wahrscheinlich überall so. Hier in New Orleans formierte sich nach dem Sturm 2005 eine sehr aktive Bloggerszene, weil die Menschen so traumatisiert und wütend waren. Als der Wiederaufbau begann, waren die meisten Medien weg, aber nicht die Probleme. Versicherungen verweigerten Auszahlungen, die Stadt nutzte die Gelegenheit, Sozialsiedlungen permanent loszuwerden. Alles war kaputt, von den Straßen über das Stromnetz bis hin zur sozialen Struktur. Wo gehst du einkaufen, wenn in der Nachbarschaft geschlossen wurden? Was machst du, wenn deine Nachbarn nicht mehr auftauchen?

Was während des Wiederaufbaus geschrieben wurde, sind zeitgeschichtliche Dokumente. Heute ist von den Bloggern praktisch niemand mehr aktiv, aber ich bin froh, dass mehr als ein paar Tweets nachlesbar sind.

Was mich als Konsument an Medien nervt, ist ein Desinteresse an einer tiefergehenden Beschäftigung mit einem Thema. Texte oder Beiträge, die eine frische Mahlzeit versprechen, aber nur ein altes Hamburgerbrötchen sind. Als Teil der Branche habe ich noch ein anderes Problem: Irgendwann, lange vor Pegida, wurde es schick, Auszüge aus Wut-Mails von Lesern auf Facebook oder Twitter zu veröffentlichen, es gab Hate-Slams, Artikel, in denen sich über empörte Leser-Einsendungen lustig gemacht wurde und all das. Ich verstehe den Frust und den Therapiededanken dahinter, aber ich glaube nicht, dass Journalisten so vorgehen sollten.

Aus heutiger Perspektive ist einfach, anlässlich der Lügenpresse-Vorwürfe zu sagen, dass sich das ja alles bestätigt hat. Aber die Wahrheit lautet viel mehr: In Deutschland haben die Medien sich kaum bemüht, zu ihren Lesern ein anderes Verhältnis als das zwischen Sender und Empfänger aufzubauen. Eine kritische, aber tendenziell wohlwollende Gemeinschaft von Lesern, die mit und über Redaktionen diskutiert und aus der wichtige Texte und Gedanken kommen - im Jahr 2016 wäre das viel wert. Aber jenes Desinteresse am Leserdialog (jenseits der Twitter-Blase), das ich in den vergangenen zehn Jahren in der Branche erlebt habe, ist außerordentlich. Die meisten Verlage haben noch nicht einmal einen Ombudsmann.

Was Bücher betrifft: Ich habe Literaturwissenschaften studiert; einer der wenigen Vorteile dieses Studiums war die viele Zeit, die mir für die Lektüre grandioser Literatur blieb. Heute kann ich von so viel Zeit nur träumen. Mein Plan war eine Zeit lang , immer ein belletristisches Werk (meist Gegenwartsliteratur) und ein Sachbuch gleichzeitig zu lesen. Daraus wurden dann sechs bis sieben Sachbücher, von denen ich fast keines zu Ende geschafft habe. Dieses literarische Multitasking war völlig geschugge. Jetzt lese ich nur noch ein Werk nach dem anderen, im Idealfall jeden Abend vor dem Einschlafen, bis es durchgelesen ist. Sachbuch und schöne Literatur wechseln sich ab. Ich bin selbst gespannt, ob das klappt. Bislang genieße ich es.

Besonders beeindruckt hat mich in letzter Zeit vor allem David van Reybroucks Kongo-Biografie und. T.C. Boyles „Tortilla Curtain“ (deutscher Titel: „América“). Knausgard, dieser listenreiche Zausel, hat mich am Anfang total umgehauen. Bis er mich gelangweilt hat.

Dafür gibt es viele andere Autoren und Autorinnen, die ich in letzter Zeit für mich entdeckt habe:

  • Den David Brooks, der über Spiritualität im 21. Jahrhundert schreibt.
  • John Herrman, dessen schonungslose Analyse digitaler Ökosysteme Standardlektüre sein sollte.
  • Michelle Orange schreibt Essays, die ziemlich perfekt sein können.
  • Charles Handy habe ich durch die Weisheit von „The Second Curve“ kennengelernt.
  • Hannah Lühmann ist mir in Deutschland aufgefallen.
  • Adam Shatz sollte viel mehr schreiben, aber dann wäre er vielleicht nicht mehr so gut.

Radiohören bedeutet für mich vor allem Podcasts. Ich benutze Pocketcast, aber auch da habe ich viel zu viel abonniert. Viel Deutschlandfunk, viel BBC, NPR und Gimlet, aber auch Fach-Podcasts zu Tech oder Politik. Fernsehen: In der Lindenstraße, meiner geheimen Passion, bin ich noch auf dem Stand von Ende Oktober (keine Spoiler, bitte!).

Wirklich aktiv meiden kann ich in meinem Beruf kein Medienangebot so richtig. Ich bin mir zwar sicher, dass Focus Online bei jedem Aufruf mein Gehirn schrumpft, und die Willkür dort ist unverantwortlich. Aber natürlich muss ich mir als Journalist angucken, wie das funktioniert und was dahinter steckt.

Insgesamt sind die USA und Deutschland medial nur schwer zu vergleichen. Deutsche Medien leben noch von den Resten einer demografischen Dividende, weil die Altersstruktur einige Veränderungen etwas verzögert. Die Krise vieler durch Risikokapital finanzierten Medien-Startups wird Deutschland erspart bleiben, weil es dort so etwas nicht gibt. Aber gerade in diesem Bereich hat sich ein genuiner Online-Journalismus entwickelt, der auch die Verlagshäuser gezwungen hat, agiler zu werden. Die Erfahrungen und Experimentierfreude haben viele junge US-Journalisten reifen lassen, handwerklich und persönlich.

Die Distributionsfragen hingegen ähneln sich in beiden Ländern, sind aber nur schwer zu beantworten. In den USA gibt es viele Überlegungen zum Kontext: Wo genau im Informationssystem erreiche ich Menschen noch, auf welche Dienste/Plattformen/Signale muss ich aufsetzen? Was ist zum Beispiel das Äquivalent zu Ubers Integration in Google Maps? Und wie verändert sich die Landschaft, wenn lernende Maschinen (oder „künstliche Intelligenz“) einmal als App-Store vorliegen und wir mit ihrer Hilfe mediale Informations-Architektur entwerfen?

Die Frage nach Native Advertising ist in den USA schon beantwortet (mit „ja, klar“). Die algorithmische Produktion von Nachrichten dürfte in den nächsten 18 Monaten den US-Mainstream mit voller Wucht erreichen. Theoretisch könnte das auch in Deutschland viel menschliche Arbeitskraft für sinnvollere Aufgaben freisetzen, aber wir ahnen alle, was wirklich passieren wird.

Das alles ist sehr weit weg vom Erstellen und Verteilen von Inhalten, auf dem redaktionelle Arbeit traditionell basiert. Das wird nicht verschwinden, aber das Medien-Ökosystem hat den Wandel von Knappheit zu Überfluss schon lange vollzogen und sortiert sich entsprechend um. Viele Lösungen – und damit auch die Wertschöpfung - werden softwarebasiert sein. Ob sich Medienhäuser darauf einstellen und damit auch den verlagsfinanzierten Journalismus sichern, wird sich an dem Unterschied zwischen „spät“ und „zu spät“ messen lassen.


Johannes Kuhn berichtet aus den USA über Tech-Themen, Politik und Wirtschaft - vorwiegend für die Süddeutsche Zeitung (Print und Online). Nach einem längeren Aufenthalt in San Francisco arbeitet er inzwischen in New Orleans. Auf Twitter ist er als @kopfzeiler unterwegs.

*In der von Christoph Koch betreuten Rubrik „Medienmenü“ stellen alle zwei Wochen interessante Persönlichkeiten die Medien vor, die ihr Leben prägen. Ihr könnt per Mail an christoph@krautreporter.de vorschlagen, wen er porträtieren soll.