Vor etwa zwei Jahren saß ich während einer Podiumsdiskussion in der Zwickauer Hochschulbibliothek im Publikum. Jemand hatte ein Hakenkreuz an eine Holocaust-Gedenktafel gesprüht, am nächsten Morgen war es schnell entfernt worden, weder Polizei noch Presse berichteten darüber. Auf dem Podium diskutierten hauptsächlich Kirchenvertreter, Menschen mit Titeln wie Superintendent und Oberrat, darüber, ob es richtig war, den Vorfall nicht öffentlich zu machen.
Die ganze Diskussion war ein bisschen absurd, weil hier alte Männer versuchten zu definieren, wie Diskurs gestaltet sein sollte, obwohl sie in keiner öffentlichen Debatte eine Rolle spielten und von der gegenwärtigen Kommunikationskultur nicht viel verstanden. Die, um die es eigentlich ging, waren nicht eingeladen: Weder Polizei noch Medienvertreter saßen auf dem Podium.
Der Saal war gefüllt, auch viele junge Leute waren gekommen und gähnten sich die Kiefer schief. Irgendwann kam der Teil, an dem man mit dem Podium diskutieren konnte. Ein junger Mann, der sich angezogen hatte wie ein alter Mann – braunes Sakko, weißes Hemd, Armbanduhr und Föhnfrisur – stand auf und sagte: „Die Zeitung, also seien wir doch mal ehrlich, liest doch sowieso keiner mehr. Also ich nicht. Die paar Seiten Lokales, das wird ja immer dünner. Berichte über Karnickelschauen und so, naja, brauchen wir eigentlich nicht drüber reden.”
Ich erzähle das deshalb so ausführlich, weil der Mann nicht irgendein Wutbürger war, sondern Lehrer an einem Gymnasium, und weil die Episode viel über die herrschende Diskussionskultur aussagt. Facebook soll mitverantwortlich dafür sein, dass Menschen nicht mehr miteinander reden können. Ich glaube, dass das lange vor Facebook schon nicht mehr richtig funktioniert hat. Ich habe unzählige Stadt- und Gemeinderatssitzungen, Wahl- und Bürgerforen sowie Podiumsdiskussionen in Sachsen besucht, und kann keinen großen Unterschied zu den Blitzkrieg-Diskussionen im Netz erkennen. Der Lehrer ist ein charakteristisches Beispiel für einen bestimmten Typ, den man bei Debatten on- wie offline trifft. Auch in den Reaktionen auf meinen Artikel „Warum ich aus Sachsen weggezogen bin“ taucht dieser Typ auf – zusammen mit vier anderen Debattentypen, die ich vorstellen werde.
Durch meine Analyse wird deutlich, warum wir so oft aneinander vorbeireden und welche Folgen das hat:
1. Der Kleinmacher
Zunächst zurück zum Lehrer: Was er bei der Podiumsdiskussion gemacht hat, ist ein rhetorischer Kniff, den schon die alten Griechen kannten: Man beginnt einen Redebeitrag damit, dass man sich über jemand anderen lustig macht. Am besten über jemanden, der nicht widersprechen kann, weil er nicht anwesend oder abstrakt ist („die Regierung“ oder „die Stadt“ oder „die Medien“ zum Beispiel). Dadurch, dass man jemanden abwertet, erweckt man beim Publikum den Eindruck, die besseren Argumente zu haben, ohne überhaupt ein Argument vorbringen zu müssen.
Kein Gymnasiallehrer kann doch bei klarem Verstand die wichtigste Quelle für lokale Nachrichten in der Stadt pauschal als Mist verurteilen und dann auch noch mehr oder weniger zum Boykott dazu aufrufen. Aber mit Witzen über das „Wurstblatt“ zieht man immer ein paar Lacher auf seine Seite.
Der Kleinmacher ist ein harmloses Phänomen, so lange es ein Publikum gibt, das ihn bloßstellen kann oder sich dank seiner Informiertheit nicht beeindrucken lässt. In der erwähnten Podiumsdiskussion wurde der Moderator von Gästen darauf aufmerksam gemacht, dass ein Redakteur der verunglimpften Zeitung direkt hinter dem Lehrer sitzt (nämlich ich). Der Lehrer drehte sich um, wurde rot und setzte sich wieder. Mit mir hat er nie geredet.
Es geht dem Kleinmacher ja, wie gesagt, auch nicht um Argumente. Er hat aber dann Erfolg, wenn er auf ein williges und uninformiertes Publikum trifft. Deshalb können Pegida und AfD auch monatelang die gleichen falschen Fakten über Ausländer, über Medien und die Regierung beklatschen. Sie sind nicht an Wahrheit oder konstruktiver Kritik interessiert – sie haben Spaß am Kleinmachen, weil es sie selber etwas größer macht.
2. Aber-die-anderen
In der Argumentation vieler Kommentatoren, die den Artikel als Verleumdung und Hetze gegen Sachsen empfinden oder ihn pauschal als unwahr bezeichnen, ist das Zeigen auf Andere ein Leitmotiv. Bevor man über rechte Gewalt spricht, soll man doch erstmal über linke Gewalt reden, heißt es da, oder über die Straftaten der Ausländer, oder über die bettelnden Zigeuner.
Bevor man über Zustände in Sachsen schimpft, soll man doch lieber mal in die arabische Welt gucken, wie es da zugeht. Oder in Osteuropa. Oder in Nordrhein-Westfalen. Oder wie schlimm es bei den Mongolen im vierten Jahrhundert A.D. war oder bei Hempels unterm Sofa aussieht. Es ist egal, ob es stimmt oder relevant ist – Hauptsache es lenkt vom wirklichen Stimmungskiller ab: sich an die eigene Nase fassen zu müssen.
3. Die Darwins
Ein Kommentator schrieb zum Beispiel, ich sei doch bestimmt einer von denen gewesen, die auf dem Schulhof immer verprügelt wurden. Deshalb würde ich jetzt wegrennen. Ich sei halt einfach zu weich für Sachsen. Das Problem wird damit auf eine Darwinsche Survival-of-the-Fittest-Logik reduziert. Die Zustände rechtfertigen die Mittel, wer mit ihnen klarkommt, der hat Recht – einfach, weil er halt noch da ist. So ist die Evolution.
Wenn man sich damit brüstet, wie gut man im Prügeln ist – oder jemand anderen als wehrlos bezeichnet – hat man aufgegeben, die Dinge anders regeln zu wollen oder zu können. Sich nie geprügelt zu haben, gilt hier als Schwäche.
Damit sind wir wieder im Reich der Tiere angekommen. Hier und da ’ne kleine Schlägerei, das wird man wohl mal wegstecken können. Das mag auch stimmen. Aber bei den im Artikel beschriebenen Vorfällen handelt es sich nicht um einen Streit zwischen Kneipenbesuchern oder Anhängern verschiedener Fußballvereine, sondern um eine Serie von mehr oder weniger straflos gebliebenen Übergriffen auf Ausländer und Punks.
Wie präsent das Darwin-Argument ist, zeigt sich auch in den gewaltverherrlichenden und sexistischen Slogans auf Autos und Klamotten, die in ostdeutschen Städten herumbrachialen – es schlägt sich vor allem aber auch in der Marginalisierung der Opfer von Gewalt nieder. Nicht die Prügel sind das eigentlich Schlimme – die Verhöhnung der Opfer und die Folgenlosigkeit für die Täter sind es. Was uns von den Tieren unterschiedet, ist ja genau das: dass wir soziales Verhalten definieren, zum Beispiel durch Gesetze – und nicht im Kampf austragen.
Das Darwin-Argument ist leider auch noch selbstverstärkend: Wo sich das Selbstbild einer Gesellschaft so stark über Gewalttätigkeit definiert, verschwinden andere Ausdrucksformen, um auf die Umwelt zu reagieren. Melancholie zum Beispiel. Oder die federleichten Schwingen einer kindischen Überheblichkeit, die einen auf dem Weg ins Wochenende über Pfützen hüpfen lassen könnten – wenn man auf den Fingerknöcheln nicht HATE tätowiert hätte und auf dem T-Shirt Ostdeutschland in Frakturschrift geplottet wäre. Auch der ironiefreieste Killerproll ist sich bewusst, dass Hüpfen dann einfach nicht mehr zu ihm passt. Auch wenn man sich danach fühlt.
Ich war selbst nie Opfer von direkter körperlicher Gewalt, ich bin auch nicht weggezogen, „weil ich es nicht mehr ausgehalten habe“, oder weil ich zu weich war – ich bin weggezogen, weil ich einfach keinen Bock mehr hatte, in so einem Umfeld zu leben. Weil es dazu führt, dass man sich irgendwann nur noch so verhält, dass einem nichts passiert oder dass man den nächsten Kampf gewinnt. Weil man irgendwann grimmig guckt, weil alle grimmig gucken.
4. Der Radikalpatriot
Sachsen ist schön, da könnt ihr sagen, was ihr wollt. Die Sachsen sind friedlich und gut, da muss man nur mal in die Geschichte schauen. Und wer was Schlechtes über Sachsen sagt, der ist neidisch, ein verweichlichter Gutmensch, Pseudointellektueller, Nestbeschmutzer oder schlichtweg: der Feind. Das sind die wesentlichen Argumente des Radikalpatrioten.
Das Problem mit ihm ist nicht seine Liebe zur Heimat, sondern dass sein Patriotismus blind ist und Kritik ausschließt. In der Konsequenz schließt er damit nämlich jeden aus, der die Heimat kritisiert. Ein ganz typisches Argument, das mir als Lokaljournalist immer wieder begegnete, war: „Du bist doch gar nicht von hier.“ Erst wenn ich vom Hochdeutschen ins Sächsische wechselte, stieg die Bereitschaft wieder, überhaupt mit mir zu reden.
Mir sagt das, dass die Rolle lokaler Medien und Bildungsarbeit gar nicht zu unterschätzen ist. Natürlich ist der Blick von außen auch wichtig, gerade bei der Nähe, die das Handeln aller Akteure des gesellschaftlichen Lebens einer Stadt kennzeichnet. Aber die Analyse einer Süddeutschen Zeitung über Sachsen kann so treffend sein, wie sie will – sie hat deutlich geringere Chancen, Gehör zu finden, als die einer lokalen Zeitung, weil ihr durch ihre Distanz die Glaubwürdigkeit abgesprochen wird.
Regionale Medien in Sachsen wie die drei Tageszeitungen Freie Presse, Sächsische Zeitung, Leipziger Volkszeitung und der MDR demonstrieren ihre Heimatverbundenheit deshalb ostentativ. Angesichts der aktuellen Entwicklung und der eklatanten Medieninkompetenz nicht nur vieler Bürger, sondern auch vieler Politiker und Verwaltungen muss man fragen, ob die Schwerpunkte hier richtig gesetzt werden oder ob man den Radikalpatrioten zu sehr zum Programmbestimmer macht.
Komischerweise verhält es sich mit positiven Beiträgen über Sachsen sowieso genau umgekehrt – sie werden umso eifriger geteilt, wenn das Lob aus der Ferne kommt. Wer lobt, wird nicht in Frage gestellt. Wer kritisiert, wird zum Fremden gemacht.
5. Das Siebhirn
Das menschliche Gedächtnis ist ein hochentwickeltes Sieb. Psychologen haben nachgewiesen, dass wir uns mit großer Sicherheit an Dinge erinnern können, die wir nie erlebt haben, und andererseits Ereignisse vergessen, die wir zum Zeitpunkt des Erlebens als wichtig empfanden. Erinnerungen werden vom Gehirn jedes Mal neu konstruiert, wenn sie abgerufen werden.
Das spielt für die Persönlichkeitsentwicklung eine wichtige Rolle, weil es uns zum Beispiel hilft, weltenerschütternde Debakel der Pubertät unbeschadet zu überstehen. In der politischen Debatte ist es allerdings gefährlich, sich auf seine selektive Erinnerung zu verlassen, weil man den Status der argumentativen Pubertät sonst praktisch nie verlässt – und Fehler immer wieder wiederholt.
Das mag banal klingen. Aber es ist leider ein weit verbreitetes Phänomen. Ein Beispiel: In dem Artikel „Warum ich aus Sachsen weggezogen bin“ beschreibe ich, wie eine Gruppe Neonazis den Zaun zum Grundstück meiner Eltern abbrannte und die Polizei darauf nicht reagierte. Der damalige Ordnungsamtsleiter bezeichnete die Angelegenheit gegenüber meiner Mutter damals als „Dumme-Jungs-Streich“ und sah ebenfalls keinen Handlungsbedarf.
Jener Ordnungsamtsleiter schrieb mir nun nach Erscheinen des Artikels eine E-Mail, in der er erklärt, wenn es diesen Vorfall gegeben hätte, würde er sich daran erinnern können. Da das aber nicht der Fall sei, müsse ich da wohl etwas verwechselt haben.
Den Preis für das Goldene Siebhirn müsste man in diesem Zusammenhang aber an den ehemaligen sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf verleihen, der im Jahr 2000 erklärte, Sachsen sei „immun“ gegen Rechtsextremismus – obwohl selbst die jüngste Geschichte kaum größere Gegenbeispiele hätte liefern können.
Der Ex-Ordnungsamtsleiter und heutige CDU-Stadtrat jedenfalls wünscht sich eine Gegendarstellung. Und er schließt seine E-Mail an mich mit dem Satz: „Freunde machst du dir damit nicht.“ Und das fasst das Hauptproblem des Siebhirns zusammen: Es lässt alles das in den Abfluss der Geschichte rinnen, was es nicht auf dem Teller haben will. Und irgendwann wundert es sich, warum es in der Küche stinkt.
Illustration: Thomas Weyres für Krautreporter.
Und das ist der Artikel, der die Diskussion ausgelöst hat: