Dialekte sterben aus. Stimmt das?

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Leben und Lieben

Dialekte sterben aus. Stimmt das?

„Der regionale Ursprung ist bei der Jugend in der Sprache heute immer seltener herauszuhören. Sterben die Dialekte langsam aus?”, fragt KR-Leser Andreas. Die Antwort lautet: Ja und nein.

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Reporterin für Leben und Alltag / Chefin vom Dienst

Andreas (48) ist Hesse, wohnt im Rhein-Main Gebiet, zwischen Frankfurt, Darmstadt und Wiesbaden, ist verheiratet und hat zwei Töchter (13 und 15 Jahre alt). Wenn er im schönsten hessischen Dialekt „Ei gude wie?“ sagt, verstehen die Mädchen nicht, was er meint. Denn zu seinem Bedauern seien sie des Hessischen nicht mehr mächtig. Andreas kann es immerhin noch sprechen, auch wenn er sich bei geschäftlichen Telefonaten bemüht, hochdeutsch zu reden, und würde es bedauern, wenn es in naher Zukunft keine Dialekte mehr geben würde.

„Zu meiner Zeit konnte man die Dialekte der Nachbarorte noch unterscheiden“, sagt Andreas. „Hier war die lokale Konkurrenz auch speziell im Sport (in meinem Fall Handball) sehr gegenwärtig. Stellen wir uns nur einmal vor, wir fahren in den Urlaub nach Bayern und müssten feststellen, dass in schöne Trachten gekleidete Menschen dort auf einmal alle akzentfreies Hochdeutsch sprechen würden. Da fehlt die Authentizität, wie man jährlich auf dem Münchner Oktoberfest beobachten kann.“

In der Familie haben sie diskutiert, warum die Dialekte womöglich verloren gehen: Liegt es an WhatsApp, SMS und damit verbundenen Anglizismen, wie seine Frau vermutet? An der fehlenden Verbundenheit mit dem Heimatort, wie Andreas mutmaßt? An der Grundschullehrerin, die strikt untersagte, Dialekt zu sprechen, wie die ältere Tochter berichtet („Das ist doch kein richtiges Deutsch, so spricht man nicht!“)? Oder einfach daran, dass der Dialekt als unschön empfunden wird?

In der Tat wird heute weniger Dialekt gesprochen als noch vor einigen Jahren, das zeigen zahlreiche Studien. Deutlich weniger als die Hälfte der Deutschen spricht nach eigenen Aussagen noch Mundart, wie aus einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach hervorgeht. Während 1991 noch 41 Prozent der Ostdeutschen fast immer Dialekt sprachen, waren es 2008 nur noch gut ein Drittel. Im Westen sank der Anteil von 28 auf 24 Prozent.

Dabei könnten deutlich mehr Menschen ihn noch sprechen, brauchen ihn aber nicht (mehr), um sich untereinander zu verständigen. Wird sie nicht genutzt, geht die Fähigkeit, Dialekt zu reden, allmählich verloren. Das Institut für Deutsche Sprache der Universität Mannheim hat in einer deutschlandweiten, repräsentativen Studie die Spracheinstellungen der Deutschen untersucht. Dabei fanden sie heraus, dass die anteilmäßig meisten Dialektsprecher im Süden Deutschlands und im Ostteil Berlins leben.

„Mütter, Medien, Mobilität“ auf diese griffige Formel brachte der Mannheimer Sprachforscher Stefan Kleiner die Ursachen für den Schwund der Dialekte. In Radio und Fernsehen wird ebenso Hochdeutsch gesprochen wie in Kindergarten, Schule oder Firma. Dabei muss jedoch differenziert werden, denn Dialekte gehen nicht einfach durch Medienkonsum verloren, sondern dadurch, dass sie nicht mehr aktiv gesprochen werden, wenn man niemanden hat, mit dem man sie sprechen kann, wie Studien ergeben haben. Auch am Küchentisch bemühe man sich um weniger lokale Einfärbung, weil Dialekt angeblich für wenig Intellekt stehe, meint Kleiner. Auch KR-Leser Andreas musste sofort an seine Mutter denken, die ihm als Kind immer sagte: „Wichtig ist, dass du weißt, wie man es schreibt!“

„Rein biologisch spezialisiert sich unser Sprachapparat in unserer frühen Kindheit und wird so geformt, dass bestimmte Töne erzeugt werden können und andere daneben nicht“, bemerkt Karl-Heinz Göttert, Autor des Buches „Alles außer Hochdeutsch. Ein Streifzug durch unsere Dialekte“ in einem Interview. So entwickle jeder Mensch seinen eigenen Ton, der ihn immer von anderen Menschen abheben wird - auch, was die regionale Klanglichkeit angeht.

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Passend dazu hat mir Krautreporter-Mitglied Jörg geschrieben, dass im katholischen Kindergarten seines Sohnes in Garching bei München Bayerisch gepflegt wird. „Wir bemühen uns in unseren Häusern den bayerischen Dialekt soweit wie möglich bei den Kindern zu bewahren“, heißt es in der Hausordnung und bei besonderen Anlässen, wie Martinsumzug, Weihnachten oder Sommerfest wird immer mindestens ein bayerisches Lied gesungen. „Nicht, dass die Kinder deshalb perfekt bayerisch sprechen würden“, bemerkt der Exil-Rheinländer, „aber sie verstehen den Dialekt und bekommen ein gutes Gefühl für sprachliche Besonderheiten.“ Im Gegensatz zu seinem Sohn hat er als Kind keine Mundart gelernt, was er heute bedauert. Damals jedoch sei es wahrscheinlich besser gewesen, denn „ich hatte immer wieder den Eindruck, dass in den 80ern in der Schule meine Schulkameraden, die hauptsächlich Dialekt sprachen, leicht benachteiligt waren.“

Dabei ist die Angst unbegründet, denn erstens sind Kinder in der Lage, mehrere Sprachen gleichzeitig zu lernen und zweitens stimmt die Formel „Dialekt = Dorfdepp“ nicht, wie die PISA-Studie nahelegt. Dialektstarke Regionen wie Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen haben im Bildungsvergleich die Nase vorn. Und das liegt nach Ansicht der Experten auch daran, dass die Kinder, die mit Dialekt, das heißt mit einer zweiten Sprache groß werden, früh lernen, zwischen verschiedenen Sprachebenen zu unterscheiden. Die sogenannte innere Zweisprachigkeit trainiere die Auffassungsgabe und das abstrakte Denken. Einen anderen Vorteil sieht Wolfgang Schulze von der Ludwig-Maximilians-Universität München, darin, dass die Kinder ein genaueres Sprachverständnis entwickeln, da sie in der Lage sind, einen Blick von außen auf die sprachlichen Strukturen des Hochdeutschen zu werfen.

Nimmt man es genau, ist das Hochdeutsche eigentlich auch nur ein, gewissermaßen übergreifender normierter, Dialekt. Er ist im 18. und 19. Jahrhundert entstanden durch Formenausgleich zwischen mehreren Regionaldialekten und durch die Aussprache nach der Schrift. Der Begriff „Dialekt“ ist überhaupt erst in jener Zeit als Abgrenzung zum „Hochdeutsch“ entstanden.

Während das Bayerische im Alltag tief verwurzelt ist, ist besonders das im Norden gesprochene Plattdeutsch vom Niedergang betroffen, obwohl es zu den beliebtesten Dialekten gehört. Sprachen vor 30 Jahren noch ein Drittel Platt, waren es vor zehn Jahren nur noch zehn Prozent. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Hamburg als bislang einziges Bundesland Plattdeutsch als eigenes Schulfach eingeführt hat. Die Mundart wird nun in einigen Grundschulen unterrichtet.

„Sprech isch so deutsch so“

Es stimmt also, Andreas. Die Jugend spricht deutlich weniger Dialekt, das legen empirische Untersuchungen der vergangenen Jahre nahe. Aber sie bringt andererseits auch neue Dialekte hervor, nämlich das Kiezdeutsch, wie die Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese untersucht hat. Kiezdeutsch hat sich seit Mitte der 1990er Jahre in urbanen Gegenden, in Wohngebieten mit hohem Migrantenanteil, etwa in Berlin-Kreuzberg, unter Jugendlichen entwickelt. Es ist nicht etwa ein falsches Deutsch, wie man meinen könnte, sondern ein in sich stimmiges Sprachsystem mit eigenen grammatikalischen Regeln. Ähnliche Entwicklungen sind auch in anderen europäischen Ländern, wie den Niederlanden (Straattaal), Dänemark (Københavnsk Multietnolekt) und Schweden (Rinkeby-Svenska) zu beobachten. Auch die Jugend sehnt sich also nach dem nach innen Verbindenden und nach außen Abgrenzenden in der Sprache.

In unserer globalisierten Welt werden sich viele Menschen irgendwann nach ein bisschen Heimat und Zugehörigkeit sehnen. Deshalb sprechen wohl auch mehr als 400.000 Amerikaner das sogenannte Pennsylvania-Deutsch (eine Mischung aus Pfälzisch, Elsässisch und Schwäbisch) und halten so die Muttersprache ihrer Vorfahren lebendig. Dialekte verbinden ihre Sprecher und geben ihnen ein Gefühl von regionaler und ideeller Gemeinschaft. Deshalb werden sie auch nicht ganz aussterben, davon ist der Sprachwissenschaftler Göttert überzeugt. Sie werden nur zu regionalen, breiter verständlichen Umgangssprachen abgeflacht. Kleine, lokale Mundarten hingegen, wie sie auch in deiner Heimat noch verbreitet sind, lieber Andreas, werden jedoch verschwinden, ebenso wie die alten starken in sich geschlossenen Dialekte. Darin sind sich die Experten einig.

Martin Gommel hat das Aufmacherbild ausgesucht (unsplash / Kristina Flour).