Es scheint mehr Konflikte zu geben als jemals zuvor, in der Welt, wie in der Gesellschaft. Syrien, Mali, Irak, Nahost, Libyen. Es ist eine Unruhe eingezogen, die die Menschen spüren. Auch Krautreporter-Leserin Teresa Schmidt hat das Gefühl, dass es keine ruhigen Zeiten mehr sind. Sie schrieb der Redaktion und fragte: „Waren die letzten Jahrzehnte genauso konfliktreich wie dieses?“
Das ist eine gute Frage. Noch vor wenigen Monaten priesen jene, die der Republik hauptberuflich den Puls halten, die Leitartikler, Umfrageinstitute und Talkshow-Experten die stoische Ruhe, mit der die Deutschen den Verwerfungen begegnen. Es fielen Sätze wie: „Selbst wenn es hier und da Streit gibt, im Großen und Ganzen geht es den Deutschen gut und sie wissen es auch.“ Würde das heute, im Februar 2016, nochmal jemand sagen?
Die Frage von Teresa ist nicht mit wenigen Worten zu beantworten, denn sie ist wie eine Matroschka-Puppe. Je näher man sie untersucht, desto mehr Fragen verstecken sich in ihr. Die Fragen werde immer kleiner, gehen ins Persönliche, weg vom großen Ganzen. Denn ein Konflikt kann die Menschen eines ganzen Kontinents betreffen, eine Gesellschaft, nur die Familienmitglieder oder die eigenen Empfindung.
Für Deutsche ist die Welt immer friedlicher geworden
Zuerst die großen Fragen: Es sterben weniger Menschen.
Aber es gibt mehr Kriege.
Paradox! Aber nachvollziehbar: Wer heute im Krieg verletzt wird, hat dank des medizinischen und technischen Fortschrittes eine höhere Überlebenschance als vor 70 Jahren. Die Kriege werden anders geführt. Und die Natur der Kriege hat sich geändert: Von den großen umfassende Massenkriegen des 20. Jahrhunderts (Weltkriege, Korea-Krieg, Vietnam-Krieg) hin zu eher lokal begrenzten und weit verteilten Konflikten. Diese Kriege fanden nur selten in unmittelbarer Nähe von Deutschland statt; die Balkan-Kriege der 1990er Jahre sind eine Ausnahme. Deswegen kann man den Schluss ziehen, dass die Welt, jedenfalls für Deutsche, immer friedlicher geworden ist – selbst, wenn es sich nicht so anfühlt.
Das ist die kleinere Frage tief im Inneren der Matroschka-Puppe: Fühlt sich die Welt konfliktreicher an? Problem daran: Wer könnte alle Streits zählen? Es ist schwierig dazu etwas zu sagen. Aber es gibt ein paar Hinweise:
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Dass es mehr Streit in Deutschland gibt, zeigt sich an der AfD – nicht daran, wie sie redet, diskutiert oder politisiert. Ihre bloße Existenz ist ein Zeichen. Denn neue Parteien entwickeln sich oft nur dann, wenn es neue gesellschaftliche Konfliktlinien gibt. Denken Sie daran, welche große Rolle Umweltschutz und der Kampf gegen Atomenergie bei der Gründung der Grünen gespielt haben. Diese Konfliktlinien gibt es jetzt auch wieder, sogar dreifach: Eurokrise, Russlandpolitik, Flüchtlingskrise.
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In einer Umfrage, dem so genannten Eurobarometer, wird seit 1972 regelmäßig abgefragt, ob und wie häufig sich die Bundesbürger an politischen Debatten beteiligen. Die Zahlen springen zweimal abrupt nach oben: von 1981 auf 1982 und von 1988 auf 1989. In jenen Jahren, in denen die Bundesrepublik über die Stationierung von Atomwaffen auf ihrem Gebiet bzw. über die richtige Reaktion auf den Umbruch in Osteuropa stritt. So ein Sprung lässt sich jetzt wieder feststellen. Während im Herbst 2014 nur 23 Prozent der befragten Deutschen angaben, häufig über Politik zu sprechen, waren es ein Jahr später 34 Prozent. Höheres politisches Interesse heißt nicht zwangsläufig auch mehr politischen Streit. Aber im Deutschland der vergangenen zwölf Monate schon.
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Wenn zwei Meinungen weit voneinander entfernt sind, spricht man von den „zwei Polen“ einer Debatte. An jedem dieser Pole gibt es normalerweise nur wenige Menschen. Rücken jedoch immer mehr Menschen in die Nähe der Pole sprechen Sozialforscher von einer Polarisierung. Zahlen für dieses Phänomenen zu finden, ist schwierig. Die Wissenschaftler müssen diese neue, deutsche Gesellschaft erstmal vermessen, das dauert. Aber der Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstitut infratest dimap sagte der Deutschen Presseagentur: „Wir erleben eine emotionale Polarisierung. Die Emotionalisierung zeigt sich unter anderem dadurch, dass die Menschen, die ja eigentlich auf eine geschlossene Frage antworten sollen, etwa „Macht es Ihnen Angst, dass im Moment viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen?“, dann nicht sagen „Ja“ oder „Nein“, sondern anfangen zu reden. Die wollen dann erzählen.“
Aber streiten die Deutschen einfach gerade mehr über Politik?
Die Deutschen streiten gerade mehr über Politik als in den zehn Jahren vorher. Das ist sicher. Doch bei meiner Recherche bin ich über diesen Kommentar von Kurt Kister gestolpert, dem Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, der seit Anfang der 1980er Jahre im Geschäft ist. Er schrieb:
„In Deutschland ist aus guten Gründen schon immer viel und manchmal auch sehr intensiv gestritten worden. Als in den Siebzigerjahren die RAF wütete, waren die Meinungskämpfe – und leider auch die gegenseitigen Verleumdungen - viel schärfer als heute.”
Ich bin viel zu jung, um einschätzen zu können, ob Kister Recht hat, aber er hat mit seinen prägnanten Analysen schon oft Recht behalten. Daher habe ich eine kleine Umfrage aufgesetzt und die älteren Krautreporter-Leser gefragt, was sie denken. Etwas mehr als 200 Antworten habe ich bekommen, der älteste Teilnehmer war 86 Jahre alt. Hier können Sie alle Antworten nachlesen. Gelb markiert sind jene Antworten, die ich bemerkenswert, hilfreich, einsichtsreich, lesenswert fand.
Eine kleine Mehrheit glaubt, dass die Zeiten früher konfliktreicher waren. Diese Zahlen sind aus statistischen Gründen aber nicht aussagekräftig für die gesamte Gesellschaft. Daher habe ich mir die einzelnen Antworten genauer angeschaut. Zwei zentrale Argumentationsstränge fallen unter den Antworten auf.
Die Einen sagen: Unsere Welt fühlt sich konfliktreicher an, weil existierende Konflikte durch Social-Media und die traditionellen Medien stärker wahrzunehmen sind als früher.
Beispielhaft für viele ist die Antwort von Stefanie:
„Die permanente mediale Begleitung und das Internet als völlig neuer, virtueller öffentlicher Raum hat [aber] unsere Wahrnehmung verändert und sicher auch die Dynamik solcher Prozesse.”
Es ist schwerer geworden, den Überblick zu behalten. Zusammen mit einer neuen Gefahrenlage steigt die Komplexität der wahrgenommenen Welt:
„Die Situation schien mir früher nicht so bedrohlich. Die RAF war regional, auf Deutschland bezogen, die Studentenrevolution 68 war richtig, nicht bedrohlich. Heute ist alles sehr verquickt, undurchsichtig und sehr, sehr bedrohlich.”
(Hanne)
Ein wichtiges Element unserer neuen Medienwelt könnte sein, dass wir eigentlich globale, nicht direkt mit uns verbundene Gefahren und Konflikte direkt ins private Leben lassen – und sie dort auch austragen, stellvertretend für die Politik. Wir sind, so hat es eine Teilnehmerin ausgedrückt, „durchschnittlich involvierter als früher“.
„Der ‚Krieg‘ fand nicht, wie heute, im Internet statt zwischen ‚normalen Bürgern‘, sondern auf den Titelseiten der Printmedien. Von den aktuellen Problemen fühle ich mich gehetzt, was früher anders empfunden wurde. Allerdings fühle ich mich heute umfangreicher informiert, was gleichzeitig auch für mehr Verunsicherung sorgt.”
(Jürgen)
Diejenigen, die nicht glauben, dass unsere Zeit konfliktreicher ist, zählen einfach auf.
„Olympiaanschläge in München, RAF, Schleyermord, Ölkrise, NATO-Doppelbeschluss – bedrohlicher als heute.”
(Thomas)
„Es gab Irland, die RAF, die ETA. Konflikte auf den Golanhöhen im Nahen Osten. Den Einmarsch in Afghanistan. Nicaragua.”
(Detlev)
Ein unbekannter Teilnehmer vergleicht die mediale Vermittlung heute und früher:
„Gerade in den Achtzigern war das Leitmedium Fernsehen voll von Kriegen weltweit, Terrorismus, Nahost-Konflikt und auch gesellschaftlichen Differenzen zu politischen Gegensätzen (links vs. rechts) und Wertkonflikten (konservativ vs. liberal) und es wurden Weltuntergänge prophezeit wegen der Verrohung der Gesellschaft durch die Macht des Kapitalismus.”
Niemand kann mit Sicherheit sagen, dass die eine Seite recht hat und die andere nicht. So ist das mit Gefühlen und Wahrnehmungen. Sie sind nicht widerlegbar. Deswegen ist die letzte, die kleinste Frage im Inneren der Matroschka eine, die jeder für sich selbst beantworten muss: „Wie nah lasse ich alles an mich heran?“
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