An diesem Dienstag startet im Ersten „Die Stadt und die Macht“ mit Anna Loos, die als Tochter des Fraktionsvorsitzenden der Berliner Partei CDP die Regierende Bürgermeisterin Berlins werden will und im schmutzigen Wahlkampf um ihre Ideale ringen muss. Im ZDF kämpft Bastian Pastewka bei „Morgen hör ich auf“ als Falschgelddrucker gegen den eigenen Ruin und holt sich damit das organisierte Verbrechen ins traute Vorstadtheim. Beide Geschichten sind ungewöhnlich fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen, das sonst gerne auf Bergdoktoren, Nonnen und Rettungsflieger vertraut. Doch das reicht nicht automatisch, um ein Hit zu werden. Aus folgenden Gründen:
1. Beide wollen auf Teufel komm raus auch Familienserie sein.
„Die Stadt und die Macht“ beginnt als Politdrama, das seinen Zuschauern ein komplexes Geflecht an Charakteren in einer vom Filz zerfressenen Stadt zumutet. Erst im Laufe der Zeit lassen sich Allianzen, Feindschaften und Zusammenhänge durchblicken. Im Mittelpunkt steht Susanne Kröhmer, Tochter des Fraktionsvorsitzenden der Berliner CDP, die in einer Großen Koalition mit dem Regierenden Bürgermeister Manfred Degenhardt von der SDU steckt, der die Stadt seit zwanzig Jahren regiert. „Ihm werden die Menschen glauben! Weil er der halben Welt die Hand geschüttelt hat. Weil er jedes Jahr die Berlinale eröffnet!“, explodiert Kröhmer, als die CDP ihren größten Langweiler als Gegenkandidaten aufstellen will. Und entscheidet kurzerhand, selbst anzutreten (Trailer ansehen).
Schnell merkt sie, wie wenig Platz für ihren Idealismus im realen Politbetrieb ist. Kröhmer versucht, ihrem Reformkurs und dem Transparenzversprechen treu zu bleiben, muss aber permanent Kompromisse eingehen und Intrigen abwehren, zum Teil aus der eigenen Partei. Schleichend passt sie sich einem Betrieb an, den sie eigentlich verändern will.
Weil die Geschichte nah an den tatsächlichen politischen (oder zumindest: den tatsächlich vorstellbaren) Verhältnissen bleibt, ist „Die Stadt und die Macht“ eine hochinteressante Reflektion dessen, wie Politik wirklich funktioniert, wenn die Kameras gerade aus sind. Anstatt sich darauf zu konzentrieren, muss Hauptdarstellerin Loos aber zugleich nach einem Familiengeheimnis aus ihrer Vergangenheit forschen. Spätestens nach der ersten Staffelhälfte ist die Politik deswegen fast nur noch Beiwerk, das einen Vater-Tochter-Komplex begleitet, der auf eine überzogene Eskalation hinsteuert. Ihren Realismus wirft die Serie dafür leichtfertig über Bord.
Der ZDF-Produktion „Morgen hör ich auf“ geht es ähnlich. Sie will gleichzeitig Thriller und Familienserie sein, was teils zu kruden Handlungsstrang-Kombinationen führt. Während sich Spießbürger Jochen (gespielt von Pastewka) im Frankfurter Bahnhofsviertel mit Kriminellen anlegt, sprichwörtlich um sein Leben rennt und zunehmend unter Druck gerät, fällt die Teenie-Tochter daheim auf einen schmierigen Mädchenschwarm rein, die Jüngste macht Ärger in der Schule und der Junior rast einem Nörgelrenter mit dem Mofa in den Gartenzaun. Als permanente Nebenschauplätze sind diese Kurzausflüge in die bekannte ZDF-Familienserienwelt jedoch eine ziemliche Bremse für die eigentliche Story.
Das passt zum nächsten Problem:
2. ARD und ZDF wollen sich den Sehgewohnheiten ihrer Zuschauer anpassen – aber nur ein bisschen.
Das Erste zeigt alle sechs Folgen von „Die Stadt und die Macht“ an drei aufeinanderfolgenden Tagen – ein Zugeständnis an die veränderten Sehgewohnheiten der Zuschauer, die Folgen ihrer Lieblingsserien über Video-on-Demand-Portale in kurzem Abstand nacheinander konsumieren. Das Fernsehen imitiert dies durch Block-Programmierungen, die – wie von ARD-Unterhaltungschef Volker Herres – zum Event deklariert werden. Bei der aktuellen Staffel der Serie „Weißensee“ hat das vor einigen Wochen sehr gut funktioniert.
Dass dies auch eine veränderte Erzählweise möglich macht (oder sogar erfordert), hat das Erste allerdings nicht gemerkt. Deshalb dauert jede Folge von „Die Stadt und die Macht“ rund 45 Minuten. Damit nach zwei Folgen pro Abend ab 21.45-Uhr das bekannte Sendeschema eingehalten werden kann und die „Tagesthemen“ nicht früher oder später beginnen müssen. Das ist, als wäre in einem Roman jedes neue Kapitel exakt so viele Seiten lang wie das vorige.
Episoden moderner Serien, die eine fortlaufende Handlung erzählen, funktionieren ähnlich wie Romankapitel. Viele neue Serien– zumindest im Ausland – halten sich deswegen nicht mehr an die Vorgaben, die ausschließlich für die Ausstrahlung in einem linearen TV-Programm relevant sind. „House of Cards“ bei Netflix ist mal 46, mal 51 Minuten oder eine Stunde lang. Je nachdem, wieviel Zeit benötigt wird, um das zentrale Ereignis eines Kapitels zu erzählen.
Wenn vorher oder nachher noch ein bisschen Zeit geschunden werden muss, damit sämtliche Episoden auf dieselbe Länge kommen, ist das für einen funktionierenden Spannungsbogen nicht hilfreich.
Bei „Morgen hör ich auf“ (Trailer ansehen) hat sich das ZDF gegen das Senden im Block entschieden, die fünf Episoden laufen wöchentlich nacheinander am Samstagabend. Und zwar, wie es die ZDF-Zuschauer von ZDF-Krimis gewohnt sind, jeweils 60 Minuten – in denen die zentrale Geschichte kaum vorankommt. An den entscheidenden Stellen fehlt Tempo, die Serie schleppt sich in den ersten Episoden mühsam zum nächsten Cliffhanger – und schadet sich damit selbst.
3. Das Dauerfeuer aus wiederkehrenden Rückblicken und Vorausblenden wird schnell zum Abschaltgrund.
Schon in der ersten Folge von „Morgen hör ich auf“ rennt Bastian Pastewka, der den in die Kriminalität abgleitenden Vorortspießer durchaus glaubwürdig spielt, in einer verschwommenen Vorausblende wie ein Gejagter blutend durch den Wald. Nach wenigen Augenblicken springt die Geschichte zurück in die Gegenwart und erzählt, was zuvor geschah. Es dauert aber nicht lange, und Pastewka rennt wie in einer bösen Vorahnung wieder durch den Wald. Nochmal. Und nochmal. So oft, dass jeder Zuschauer schnell kapiert hat: Da passiert zum Schluss was Krasses.
Im Ersten kommt Anna Loos derweil immer wieder ihre verkohlte Puppe in den Sinn, die der Vater damals im hohen Bogen durch die Luft auf den Grill geschleudert hat. Und dann nochmal. Immer und immer wieder, bis es wirklich jeder kapiert hat: In der Kindheit der engagierten Politikerin muss etwas Einschneidendes passiert sein, das am Ende rauskommen wird.
Rückblicke und Vorausblenden sind häufig verwendete Stilmittel, um Zuschauer in die Gedankenwelt ihrer Protagonisten eintauchen zu lassen oder wesentliche Handlungswendungen anzudeuten. Bei einer derart inflationären Verwendung nerven sie aber nach kurzer Zeit enorm und sorgen eher dafür, dass Zuschauer genervt wegschalten.
4. „Morgen hör ich auf“ fehlt visuelle Kreativität, „Die Stadt und die Macht“ gibt ihre eigene Linie zu schnell auf.
Es muss ja nicht gleich „Fargo“ sein. In der ersten Staffel der ebenso blutigen wie hervorragenden US-Serie (z.B. bei Netflix ansehen; kostenpflichtig) ist eine brutale Schießerei in einem mehrstöckigen Haus inszeniert – ohne dass die Kamera tatsächlich bei der Schießerei dabei ist. Sie folgt dem Killer, der ein Geschäftshaus betritt, von außen auf Schritt und Tritt, wechselt mit ihm die Stockwerke, aber ohne das Geschehen zu zeigen. Das Publikum verfolgt lediglich über den Ton, was drinnen vor sich geht – und das reicht völlig aus, um den Schrecken der Situation zu erfassen.
https://www.youtube.com/watch?v=brYkhF2GOvA
Ein wesentlicher Teil einer anderen Folge von „Fargo“ spielt im Schneesturm; wieder fallen Schüsse. Und der Zuschauer weiß zunächst genauso wenig wie die Protagonisten, wer überhaupt noch am Leben ist.
Mag sein, dass beide Ideen das Budget der Produktion massiv entlastet haben und womöglich deshalb umgesetzt wurden. Aber wer die beiden Momente gesehen hat, vergisst sie so schnell nicht mehr.
ARD und ZDF kommen bei ihren neuen Serien fast vollständig ohne besondere visuelle Ideen aus, beiden Produktionen fehlt eine unverkennbare ästhetische Identität. Bei „Die Stadt und die Macht“ ist das besonders schade, weil in manchen Momenten zumindest der Versuch durchscheint, anders zu inszenieren als sonst üblich. Über Situationen, in denen es um die Stadt, ihre Bürger und ihre Probleme geht, liegt regelmäßig eine treibende Musik; mitten in Interviews, Statements und Gespräche sind Bilder Berlins geschnitten, die nur den Bruchteil einer Sekunde stehen bleiben, permanent wechseln und so schnell wieder weg sind, dass sie auch Einbildung sein könnten. Das reißt die Serie (und ihre Zuschauer) für einen Moment aus dem steten Erzählfluss.
Mehr davon traut sich „Die Stadt und die Macht“ leider nicht. Und steht damit immer noch besser da als „Morgen hör ich auf“, das genauso konventionell und träge gefilmt ist wie es erzählt wird.
ARD und ZDF haben verstanden, dass auch deutsche Serien besondere Geschichten erzählen können und es Zuschauer gibt, denen man komplizierte Zusammenhänge zumuten darf, um sie zu unterhalten. Deshalb sind „Die Stadt und die Macht“ und „Morgen hör ich auf“ auch kein schlechtes Fernsehen.
Anna Loos, die als Politikerin ihren Idealismus in einem zynischen, männerdominierten Betrieb durchsetzen muss, der seine eigenen Regeln fern jeder Logik geschaffen hat, spielt so überzeugend, dass man sie bitten möchte, im Herbst tatsächlich bei der Berlin-Wahl anzutreten. Mit Thomas Thieme als Susannes Vater und Martin Brambach als abgeklärtem Wahlkampfmanager sind auch andere zentrale Rollen spitze besetzt. Und Bastian Pastewka kann als von Selbstzweifeln zerfressener Familienvater (nach „Mutter muss weg“ 2012) endgültig beweisen, dass er mehr drauf hat als im Fernsehen immerzu lustig zu sein.
Beiden Serien sieht man aber an, dass sie in ein öffentlich-rechtliches System passen müssen, welches längst noch nicht bereit ist, all die Regeln über Bord zu werfen, die Fans unkonventioneller Serien bislang einen großen Bogen um die Sender machen lassen. Um das dauerhaft zu ändern, braucht es noch mehr solcher Versuche. Damit die Bergdoktoren, Nonnen und Rettungsflieger kontinuierlich Konkurrenz im eigenen Programm haben.
Das Erste sendet „Die Stadt und die Macht“ ab Dienstag um 20.15 Uhr; ab Freitag ist die Serie bei Netflix abrufbar. „Morgen hör ich auf“ läuft samstags um 21.45 Uhr im ZDF und in der Mediathek.
Aufmacherfoto: ARD/Frédéric Batier (Anna Loos in „Die Stadt und die Macht“)