Lieber Freund daheim,
so oft haben wir uns darüber unterhalten, was Heimat ausmacht. Ich erlebe es hier jeden Tag: Weil ich in der Ferne eine neue Heimat finden will, gleiche ich dauernd ab, im Kopf, beim Small Talk auf der Party und bei jeder ausfallenden U-Bahn. Und in den letzten Monaten ist bei euch so viel passiert, dass ich um den Dauervergleich gar nicht mehr herumkomme - jeder will sich mit mir über Deutschland unterhalten. Natürlich sind solche Episoden eben genau das: Momentaufnahmen einzelner Begegnungen. Trotzdem haben mich die Eindrücke nicht losgelassen und ich habe oft danach abends weitergelesen. Keine Frage: Es wird in den USA dieser Tage viel geschrieben über Deutschland, viel geforscht und viel diskutiert - über viele Themen hinweg. Ich habe mich für dich mal schlau gemacht.
Ana, Donald und ihre Meinung zu unseren Flüchtlingen
Dass sich etwas tut beim Blick auf mein Heimatland, wurde mir so richtig klar, als ich vor der Frau saß, die dafür sorgen sollte, dass ich hier in New York ein neues Zuhause bekomme. Ana ist die Ansprechpartnerin der Hausverwaltung in meinem riesigen Apartmentgebäude. Ihre Anträge ans Management sorgen dafür, dass man in eine der 1.477 Wohnungen einziehen darf – oder eben nicht. „Du bist also Deutscher?“, fragt sie mich. „Ich bin aus Jugoslawien. Ja, ich weiß, sagt man eigentlich nicht mehr, ich aber schon.“
Und dann legt sie los: „Was ist da los mit den Flüchtlingen? Weißt Du, ich verstehe das nicht. Eure Frauen bekommen jahrzehntelang keine Kinder – und jetzt müsst ihr Menschen importieren!“ Deutschland werde es noch bereuen, so viele Menschen aufzunehmen, führt sie langatmig aus. Und in ihren düstersten Momenten erinnern mich Anas Vorhersagen fast an Donald Trump, auf dessen langer Beleidigungsliste inzwischen auch die Kanzlerin steht. „Es wird Aufstände in Deutschland geben“, sagte Trump in der Polit-Show Face the Nation. „Was sie getan hat, ist geisteskrank.“
So viel Lachen, so viele Macher
Dass mir diese beiden Fälle so auffielen, liegt daran, dass sie dem Bild widersprachen, das sich zuvor in vielen Medien gezeigt hat und immer noch von Deutschland gezeichnet wird. Die New York Times schreibt einen großen Aufsatz, in dem sie bedauert, dass die USA nicht mehr die wichtigste „can-do nation“ seien, sondern nun Deutschland das oberste Land der Macher sei.
Sogar meine frühere Heimat Stuttgart hat es mit einer halben Seite in die für viele beste Tageszeitung der Welt geschafft – Einleitung auf der Titelseite der New York Times inklusive. Es fehle an bezahlbarem Wohnraum, hieß es da. Aber: „Hier war Einwanderung schon immer ein Wachstumsmotor und Integration ein Grundpfeiler für den Stolz vieler Bürger.“ Das Fazit der Zeitung: „Die Botschaft Stuttgarts ist, dass Einwanderer gebraucht werden, sogar willkommen sind. Die Herausforderung ist es, eine Stadt zu bauen, in der sie leben können.“
Und als es zu den neuankommenden Menschen in München Bilder von Kindern mit Teddybären gab, veröffentlichte Buzzfeed mehrere rührende Fotostrecken und Hintergrundberichte. Fazit: „So viele fröhliche Gesichter.“
Das war sie schon eher, die Haltung, die mir Ende Oktober bei einer Veranstaltung des öffentlich-rechtlichen Radios NPR auffiel: Alle lieben uns. „Was die Welt von der europäischen Flüchtlingskrise lernen kann“, war der Titel der anderthalbstündigen Ausgabe der Sendung America Abroad. Durch die Bank bedauerten die Anwesenden, wie peinlich sie die ablehnende Haltung ihres Landes und wie eindrucksvoll sie uns Deutsche finden.
Zum Jahreswechsel erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Essay über den im New Yorker veröffentlichten Blick des US-Schriftstellers Martin Amis auf diese Monate. In „Oktober“ schaut er schon etwas skeptischer auf die große Zahl der ankommenden Flüchtlinge. Über die Deutschen fällt er aber ein enthusiastisches Urteil: „Wie eindrucksvoll (wie ausgewogen, wie reflektiert, wie boshaft) sie einzeln sind, und wie zum Verzweifeln enttäuschend sie in Gemeinschaft sind, in Gruppen, in Kadern, in Bünden, in Blöcken. Und doch hier setzten sie, die Deutschen, nun alle (vorläufig) ein fortschrittliches, ja gar modernes Beispiel für Europa und den Planeten (vorläufig), sowohl als Gemeinwesen, als auch als Volk.“
Kritik am Essen für die Flüchtlinge
Inzwischen muss ich zugeben, dass es in den Medien mehr und mehr Stimmen dazu gibt, dass sich die Stimmung dreht. Pegida wird wahrgenommen, wie hier in einem erläuternden Artikel der Washington Post. Das harte Leben in den Notunterkünften ist neben der Dankbarkeit vieler Flüchtlinge ein wichtiges Motiv in Erzählungen bei Vice, enttäuschendes Probeessen der dortigen Versorgung inklusive.
Das scheint übrigens nicht nur ein Phänomen an der traditionell offenen und Europa zugewandten Ostküste. 72 Prozent der US-Amerikaner halten die Deutschen für einen verlässlichen Partner. Mehr als die Hälfte der 1.003 Befragten in einer Umfrage des Pew Research Institutes wünschen sich eine aktivere militärische Rolle. Noch vor zehn Jahren waren Deutschland und Frankreich in fast allen Kategorien vorne, wenn es darum ging, wessen Bedeutung künftig abnehmen werde (Pew-Studie 2005, pdf, S. 30). Vergessen scheinen aber nun die Tage, in denen den Menschen als erstes „Nationalsozialismus“, „Bier“ und „Sauerkraut“ einfielen, wenn sie an Deutschland dachten. Laut einer Forsa-Erhebung aus dem Jahr 2004 beschäftigten sich damals fünf Prozent aller Artikel in großen Zeitungen mit Deutschland – dieser Anteil dürfte nun deutlich höher liegen.
Und immer: Merkel, Merkel, Merkel
All das wird einer Frau zugeschrieben: Angela Merkel. Gut, inzwischen sind alle ein bisschen in den Kanadier Justin Trudeau verknallt – schließlich gibt der sich in der Flüchtlingsfrage auch offen und positioniert sich in Fragen der Gleichberechtigung und Aufarbeitung der Gewalt gegen Ureinwohner. Aber TIME Person of the Year ist nun einmal unsere Kanzlerin.
„Anführer werden dann geprüft, wenn Menschen nicht folgen wollen“, hieß es in dem Porträt, “dafür, dass sie mehr von ihrem Land verlangt als sich die meisten Politiker trauen würden, (…), dafür, dass sie standhaft moralische Führerschaft in einer Welt vorgibt, die davon nicht genug hat, ist Angela Merkel TIMEs ‘Person of the Year’.” Gelobt wurde in der Begründung ihr Verhalten aber auch zum zweiten Überthema des letzten Jahres, der Krise in Griechenland.
Ryan und die harte Hand in Griechenland
„Red’ dein Land nicht immer so schlecht“, sagte mir schon damals Ryan, der Barkeeper meiner Stammkneipe. „Es ist beeindruckend, wie gut ihr dasteht, wie ihr den Kontinent zusammenhaltet, wie ihr den anderen Vorbild seid.“ Die Griechen müssten ihre Lektion lernen, und Deutschland sei ein guter Lehrer, fand er. Nun ist der Mann Schotte und hat vielleicht auch eine spezielle Einstellung zu Nationalitäten und Heimat – aber die Wirtschaftskraft Deutschlands ist Thema vieler Taxifahrten und Small Talks mit Bedienungen in Geschäften und Kneipen angesichts meines deutschen Namens.
Wer sich dann berufsmäßig mit der deutschen Volkswirtschaft und der Politik in der Eurozone beschäftigt, der kommentiert dann auch kritischer. Am Liebsten tut das Paul Krugman, Träger des inoffiziellen Wirtschaftsnobelpreises und so etwas wie der ungekrönte Chefvolkswirt der New York Times. Nach dem im Juli geforderten Auflagenpaket fragte er: „Wer kann hiernach Deutschlands Absichten jemals wieder trauen?“ Die von Deutschland der Rest-EU diktierte Austeritätspolitik wird also in diesen Kreisen doch kritisch gesehen. These vielerorts: Wenn wir früher die Länder im Süden Europas unterstützt hätten, dann wären Wirtschaftskrise und Jugendarbeitslosigkeit möglicherweise nicht so schlimm geworden.
Doch auch dem breiten Volk werden niedere Motive unterstellt. „Die Deutschen lieben jeden Beweis für eine grundlegende Faulheit im griechischen Nationalcharakter“, heißt es in einer Analyse des Daily Beast.
Roberto und die Krise bei VW
Apropos Wirtschaft. Da sind wir dann auch schon beim Thema VW. Auch wenn Mercedes und Porsche im Alltag mehr Bewunderung entgegengebracht wird, so sind Marke und „Lemon“-Käfer-Werbung aus den 1960er Jahren doch vielen bekannt. Mein italienischer Kumpel Roberto vermutet hinter der Abgas-Nummer jedoch dunklere Mächte: „Da wird noch mehr verschleiert“, sagte er. „Überall.“ Der Skandal wird von den Medien immer noch breit begleitet. Aktuell stellt das Gesellschafts-Monatsmagazin The Atlantic auf drei Seiten die Frage „Was hat sich Volkswagen dabei gedacht? Über den Ursprung der Bosheit - und Dummheit - von Unternehmen.“
Um gut 4 Prozent sind die Verkaufszahlen von VW in den USA bis November im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen: Statt 332.900 Einheiten in den ersten elf Monaten 2014 waren dies nur noch gut 318.500 im Jahr 2015, berichtet Volkswagen.
Und der DFB-Skandal? Come on!
Ach ja, euch hat auch der DFB-Skandal in den letzten Monaten beschäftigt. Fußball spielt hier immer noch kaum eine Rolle, obwohl bei den Weltmeisterschaften höhere Einschaltquoten erzielt werden als bei den Basketball-Endspielen der NBA. Vom Skandal um gekaufte Stimmen zur WM-Vergabe 2006 nach Deutschland ist hier wenig zu lesen. Da geht es schon eher darum, dass Thomas Hitzlsperger nun zusammen mit dem früheren Erstliga-Spieler Eric Wynalda Bundesliga und UEFA-Cup auf Fox kommentieren wird – und letztlich sind sogar die Glückwünsche für die gewonnene WM 2014 häufiger.
Mein Zahnarzt und Deutschland 83
Bleibt noch der große Bereich Kunst und Kultur: Über die Leistungen dort hat neulich sogar mein Zahnarzt mit mir gesprochen. „Deutschland 83“ lief hier schon im vergangenen Sommer, zwar mit überschaubaren Einschaltquoten auf einem Spartensender, aber immerhin im deutschen Original mit Untertiteln und zu durchweg euphorischen Kritiken.
https://www.youtube.com/watch?v=3G9qSv01VMg
Der Arzt war dann überrascht, als ich ihm von der Quoten-Enttäuschung bei RTL erzählte. „Vielleicht hatten die Leute genug von dem Thema seit diesem Film mit dem Stasi-Typ, der die Schauspieler über Kopfhörer überwacht“, vermutete er - und stellte sich als Fan vom Oscar-prämierten „Das Leben der Anderen“ heraus.
Der gesamte Markt hier hat ein Auge auf deutsches Kulturschaffen, die Hitler-Satire „Er ist wieder da“ steht in englischer Fassung („Look Who’s Back“) genauso in jeder Buchhandlung wie der Sachbuch-Überraschungshit „Darm mit Charme“ von Giulia Enders, übersetzt als „Gut: The Inside Story of Our Body’s Most Underrated Organ“, Porträt in der New York Times inklusive. Aber angeblich haben Amerikaner ohnehin eine Faszination für Exkremente, schrieb Michael Lewis bereits 2011 in der Vanity Fair.
Besonders gut laufen natürlich die klassisch-deutschen Themen: „Das Labyrinth des Schweigens“ ist unter den letzten neun Filmen für den Oscar als bester fremdsprachiger Film und gilt laut Branchenseite Variety auf Rang drei zum erweiterten Favoritenkreis. Der Nachkriegs-Film-Noir „Phoenix“ mit Nina Hoss und Ronald Zehrfeld steht bei über drei Millionen Dollar Einspiel, und auch der Berlin-Thriller „Victoria“ gilt iTunes als „Editor’s Choice 2015“.
Was bleibt? Bewunderung
Wie lautet also mein Fazit nach diesen turbulenten Monaten für euch zu Hause? Ich war beim letzten Besuch in der Heimat überrascht, wie kritisch sich das Land und seine Bewohner sehen. Wie sehr alles immer am Abgrund zu stehen scheint. In den USA ist das nämlich verdammt weit weg. Kurz gesagt: Die Menschen lieben Deutschland. Vielleicht ist das alles nur gutes Marketing – denn selbst in der Flüchtlingskrise könnte man ja argumentieren, dass die Verhältnisse in Unterkünften und die Realpolitik mit ihren verschärften Asylregeln nicht mehr dem Bild der offenen Arme für alle entsprechen.
Aber trotzdem ist auf dem Weg ins neue Jahr eines klar: Diese ultrakritische Selbstkasteiung daheim? Sie passt nicht zum Bild von außen. Entspann’ Dich also, ok?
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Dein Christian
Aufmacherbild: Die „bayerische“ US-Stadt Leavenworth, Washington. Foto: Luis Antonio Rodríguez Ochoa, Flickr (CC BY-SA 2.0).