„Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so viele Bücher auf meinen Smartphone lesen würde“
Alexis Madrigal ist ein amerikanischer Onlinejournalist. In unserer Rubrik Medienmenü verrät er seine Lieblingsquellen für die richtige Dosis an Information.
Meine Tage beginnen damit, dass ich die morgendlichen Artikel auf Fusion durchlese, wo ich als Chefredakteur arbeite. Danach hüpfe ich rüber zu Twitter und schaue nach, was dort so los ist. Das ist ein einigermaßen langweiliges Ritual, aber es ist schnell und erfüllt den Zweck. Bei Twitter folge ich eher Einzelpersonen als Organisationen - ich habe den Eindruck gewonnen, dass das interessanter und lohnender ist. Ich versuche vor allem Leuten zu folgen, deren Interessen in den Bereichen Kultur und Technologie sich auf besondere Art mit meinen überschneiden. Das können Historiker sein, die sich mit dem Mittelalter beschäftigen, Programmierer aus Tijuana oder Aktivisten, die Twitter als taktisches Werkzeug nutzen.
Ein App, die ich in der letzten Zeit immer häufiger benutze, ist Nuzzel, eine Art externe Erweiterung für Twitter.
Nuzzel ist eine App (iOS/Android) und Webseite, die den Twitter- und Facebookfeed nach Artikeln durchkämmt, die die Leute geteilt haben, denen man folgt (Twitter) oder mit denen man befreundet ist (Facebook). Diese Artikel werden dann nach Häufigkeit sortiert, so dass häufig geteilte Artikel weiter oben gelistet werden. Der Auswertungszeitraum ist dabei auf 24 Stunden voreingestellt, kann aber verändert werden.
Zusätzlich wird angezeigt, wer den Artikel geteilt und mit welchen Kommentaren versehen hat. Wer aus der Filterblase ausbrechen möchte, hat mit der Ansicht „News You Might Have Missed“ die Möglichkeit, Artikel zu sehen, die häufig geteilt wurden - nur eben nicht in den eigenen Zirkeln.
Discovery“, also das Entdecken von Inhalten in den unüberschaubaren Weiten des Netzes, ist seit einem Nuzzel-Update jedoch nicht nur auf die Sortierung und Filterung von Twitter- und Facebook-Streams beschränkt. Auch Nutzer ohne solche Social-Media-Accounts können bei Nuzzel bestimmten Themengebieten folgen (siehe obiger Screenshot der Browserversion) und bekommen dann die relevantesten Artikel aus diesen Bereichen angezeigt.
Nuzzel ist ein Startup aus San Francisco, das bisher rund 5 Millionen Dollar Wagniskapital eingesammelt hat, unter anderem von Andreessen Horowitz und 500 Startups.
Gedruckt lese ich nach wie vor Magazine wie „The Atlantic“, wo ich früher gearbeitet habe, und „Harper’s“. Außerdem die New York Times. Ich bin außerdem ein Fan von Kunstmagazinen wie beispielsweise Juxtapoz.
Wenn ich auf Reisen bin, lese ich meistens E-Books auf meinem Smartphone. Das ist vielleicht die für mich überraschendste Veränderung in meinem Medienverhalten: wie viel Bücher ich inzwischen auf dem kleinen Bildschirm meines Telefons lese. Das hätte ich früher nie im Leben für möglich gehalten.
Bücher, die ich gerne mag, sind beispielsweise die Romane von Junot Diaz und Valerie Luiselli. Außerdem lese ich eine Menge historische Sachbücher, vor allem über die soziale und ökologische Geschichte der San Francisco Bay Area.
Ein Buch, das mich kürzlich sehr beeindruckt hat, war „The Warmth of Other Suns“ von Isabel Wilkerson. Es beschreibt die Wanderung der Afroamerikaner aus dem Süden der Vereinigten Staaten in die Städte des Nordens und der Westküste. Ein sehr schönes, wenn auch herzzerreißendes Buch.
Isabel Wilkerson war 1994 die erste Afroamerikanerin, die einen Pulitzerpreis gewann. Für ihr erstes Buch „The Warmth of Other Suns“ (2010 erschienen) wurde sie mit zahlreichen anderen Preisen ausgezeichnet. Die Geschichte der Migration ehemaliger Sklaven aus dem Süden der USA nach Norden und Westen ist dabei auch die Geschichte ihrer eigenen Familie: Ihre Mutter kam aus dem ländlichen Georgia nach Washington, D.C., ihr Vater aus dem Süden Virginias. Wilkerson führte über 1.000 Interviews, konzentriert sich am Ende aber auf drei Personen, aus drei unterschiedlichen Jahrzehnten der „Great Migration“. „Ein handwerklich exzellentes, anrührendes und heroisches Buch“, urteilt Jill Lepore im New Yorker. „Wilkerson nimmt einen der wichtigsten demographischem Umbrüche des letzten Jahrhunderts (…) und schildert ihn anhand dreier Menschen, von denen niemand je gehört hat.“
Unter diesem Text kann man ein Video von Wilkerson sehen, in dem sie über ihr Buch und ihre Recherchen spricht. Hier gibt es eine (englische) Leseprobe des Buchs
Klassisch ausgestrahltes Fernsehen schaue ich nicht mehr sehr oft. Dafür gebe ich so ziemlich jeder neuen Show auf Netflix eine Chance. Dort gibt man den Machern offenbar so viel Freiheit und Kontrolle, dass sich jede Serie irgendwie eigen und besonders anfühlt.
Es gab in der jüngsten Vergangenheit eine Debatte im Onlinejournalismus, ob der klassische Artikel überholt sei. Ob man stattdessen in „Particles“ denken müsse, also in Bestandteilen und Einzelinformationen, die sich dann immer neu zu Artikeln oder ähnlichem formieren. Ich glaube daran nicht so recht. Ich denke, dass die grundlegenden Moleküle von Onlinejournalismus immer Artikel sein werden. Um die mache ich mir keine Sorgen. Es ist eher ihre Verpackung - also die Orte, an denen sie veröffentlicht werden - die mehr und mehr in Schwierigkeiten steckt.
Die Theorie, dass Journalismus im Netz künftig nicht mehr aus Artikeln, sondern aus Artikelbausteinen bestehen müsse, wurde vor allem nach dem Beitrag „The Future of News Is Not An Article“ von Alexis Lloyd diskutiert, dem Creative Director des Research & Development Labs der New York Times.
In seinem Artikel schreibt Lloyd unter anderem: „Um das Wissen, das in jedem Artikel steckt, bestmöglich zu nutzen, müssen wir es zuerst in einer Weise kodieren, die es durchsuchbar und extrahierbar macht. Dies bedeutet, dass wir die wiederverwendbaren Teile eines Artikels schon während des Schreiben identifizieren und kennzeichnen. Im Research und Development Lab der New York Times haben wir diese Teile ,Partikel’ getauft.“
Lloyd gibt zu, dass Teile dieser Idee schon lange unter dem Titel „Semantic Web“ diskutiert werden. So wie Metadaten beispielsweise bei einem Foto angeben, wann und wo und mit welcher Ausrüstung es aufgenommen wurde, könnte man auch Texte mit Metadaten versehen, die es Maschinen leichter machen, einen Text zu verstehen.
Lloyd: „Eine Nachrichtenredaktion veröffentlicht oft Hunderte von Artikeln am Tag - nur um am nächsten Tag von vorne anzufangenden und jede Menge redundanten Inhalt von Grund auf neu zu erstellen. Dieser Ansatz ist geprägt von den alten Zwängen der Printmedien und wirkt - aus einer nativ digitalen Perspektive betrachtet - unnötig und seltsam.“
Alexis Madrigal ist Chefredakteur der Online-Plattform Fusion. Zuvor arbeitete er als Redakteur für The Atlantic und Wired. 2011 erschien sein Buch „Powering the Dream“, in dem es um die Geschichte und um Versprechungen ökologischer Technologie geht.
Alexis Madrigal veröffentlicht außerdem den sehr empfehlenswerten „Real Future“- Newsletter (früher unter dem Titel „Tiny Things“ erschienen). Oben kann man einen Vortrag von ihm ansehen, in dem er darüber spricht, was wir von vergangenen (und vergessenen) Innovationen lernen können.