Vielen Eltern ging es nach den Anschlägen in Paris wahrscheinlich wie einer Redakteurin von Spiegel Online. Selbst erschüttert, schrieb sie in einem persönlichen Kommentar darüber, dass sie ihren Nachwuchs am liebsten vor den Informationen beschützen würde: “Wie sollen wir Erwachsenen mit unseren Kindern darüber sprechen, dass Menschen, wie die Attentäter, so etwas tun, ohne dass sie ihren Glauben an das Gute auf der Welt und im Menschen verlieren?”
Sie erinnert sich an die Katastrophe von Tschernobyl, von der sie selbst als Kind erfahren hat, und findet: “Uns Kindern wurde damals zu viel zugemutet.” Dass sie ihren Sprösslingen die Informationen letztlich nicht verheimlichen kann, weiß sie. Aber trotzdem fragt sie sich: “Darf man in der Not lügen?”
Eine Zwischenform der Wahrheit
Ja, meint der Traumatherapeut Ch. Lüdke in einem Interview der Zeit. Allerdings formuliert er das anders. “Wenn Kinder jetzt fragen, kann das auch bei mir in der Kita passieren, wäre die richtige Antwort: Nein, das ist in Paris passiert, in deiner Kita passiert das nicht.” Lüdke nennt das “eine Zwischenform der Wahrheit”. Sonst entstehe Panik im Kind. Überhaupt will er zumindest die Kleinen vor Informationen eher schützen. Er rät dazu, mit Kindern bis zum Alter von zehn Jahren nur dann über die Anschläge zu reden, wenn sie aktiv danach fragen.
Die Jugendpsychotherapeutin Marion Pothman, die von der Süddeutschen Zeitung interviewt wurde, sieht das ganz anders. “Solche Nachrichten, die alle erschüttern und mitnehmen, bekommen selbst Kindergartenkinder mit - auch wenn man sie davor bewahren will. Selbst die Kleinsten merken, dass die Eltern besorgt und traurig sind und können das nicht einordnen.”
Pothman stellt einen interessanten Punkt heraus: Eltern, die mit ihren Kindern nicht über beunruhigende Ereignisse reden wollen, handeln nicht unbedingt aus Sorge um ihren Nachwuchs. Es kann schwer für sie sein, die Angst ihrer Kinder auszuhalten - deswegen tun sie lieber so, als wäre alles in Ordnung. Es sei aber wichtig, Gefühle nicht einfach wegzureden, meint Pothman. “Und das tut der Satz, ‘du musst keine Angst haben’. Er hilft nicht, aber die Kinder bekommen den Eindruck, ihre Emotionen seien falsch.”
Ihr Rat: Nachforschen, was genau das Kind ängstlich und traurig macht. Das Interesse allein sei schön tröstlich. Und die Kinder ernst nehmen. “Ein Versprechen, dass ein Attentat bei uns nicht passieren kann, wäre eine Lüge. Schon Grundschüler kontern das mit der Gegenfrage, wie sich die Eltern da so sicher sein können. Besser ist es, das Kind in seiner Angst wieder ernst zu nehmen und etwas zu sagen wie: ‘Ich kann verstehen, dass du dich fürchtest.’ Dann kann man darauf verweisen, dass die Wahrscheinlichkeit, selbst von einem Anschlag getroffen zu werden, sehr gering ist.”
Erklären, aber nicht dramatisieren
“Kinder haben ein Gespür für ihre Eltern, wenn Sie also ängstlich sind, dann wird auch das Kind Angst haben”, sagte auch Harold Koplewicz, Präsident des Child Mind Institute, dem US-amerikanischen Nachrichtenmagazin Time. Was nicht heißt, dass Erwachsene zu Übermenschen mutieren müssen, wenn sie mit Jüngeren über erschütternde Ereignisse reden. Wenn man aufgewühlt ist, darf das Kind das mitkriegen, man sollte es aber erklären und nicht dramatisieren. Der sehr gute Text gibt auch den wichtigen Hinweis, dass man nicht einfach alle Jungen und Mädchen gleich behandeln kann. “Vertrauen Sie auch Ihren Instinkten. Kinder sind in einem unterschiedlichen Ausmaß ängstlich und verletzlich. Sie kennen Ihr Kind und wissen besser als irgend jemand anders, was es aushalten kann.”
Ältere Kinder (zwischen sechs und elf), schreibt die Autorin, beruhige es sogar, Fakten zu kennen (natürlich nicht bis in die letzten Details). Teenager hingegen wollen oft gar nicht reden. “Versuchen Sie, ein Gespräch anzufangen, während Sie etwas zusammen unternehmen”, rät Koplewicz, “so dass das Gespräch sich nicht zu intensiv oder konfrontativ anfühlt”.
Wer sich besser fühlt, wenn er einen klaren Leitfaden für Gespräche über beunruhigende Themen im Kopf hat, kann sich eine Abkürzung merken, die der Psychologe Paul Coleman im _Time-_Artikel nennt: SAFE - für Search, Act, Feel Feelings, Ease Minds. Das funktioniert auch auf Deutsch:
- S: Suchen nach Fragen und Ängsten.
- A: Agieren. Den Alltagsablauf nicht unterbrechen und die Kinder dazu bringen, nette Dinge für andere zu tun. “Das reduziert das Gefühl der Hilflosigkeit”, sagt Coleman.
- F: Fühlen. Über Gefühle reden und sie ernst nehmen.
- E: Entspannen. Nachdem man über die Gefühle geredet hat, ist ein guter Zeitpunkt, den Kindern zu sagen, dass für Ihre Sicherheit alles Mögliche getan wird.
Weil junge Menschen manchmal einfach besser und direkter fragen als Erwachsene, schreibt Nils Minkmar in der FAZ unter der Rubrik “Wie erkläre ich’s meinem Kind”. Schon Monate vor den Paris-Attentaten klärte er darin den wichtigen Punkt, was der Islamismus mit dem Islam zu tun hat. Auch wenn man keinen Nachwuchs hat, lohnt es sich, diesen Text zu lesen - jetzt mehr denn je.
Cartoon für französische Kinder
Während Kindermedien in Deutschland gar nicht oder sehr vorsichtig über die Pariser Attacken reden, sprechen Medien in Frankreich die Kinder deutlich direkter an. So zum Beispiel die Kinderausgabe der Zeitung Liberation, Le P’tit Libe. Das Magazin “Astrapi”, dessen Leser zwischen 7 und 11 Jahren alt sind, hat anlässlich der Attentate ein paar Sonderseiten für Kinder herausgebracht hat, die innerhalb von einer Woche zwei Millionen mal abgerufen worden. Dort werden die wichtigsten Fakten und Fragen geklärt (weil das für Kinder geschrieben ist, versteht man das auch als Deutscher mit Schulfranzösisch).
Zwischen die Texte haben die Redakteure einen kleinen Cartoon gestellt, der klarmacht, dass es hier nicht nur darum geht, Informationen zu vermitteln, sondern eine Haltung. Da sagt ein kleiner Junge: “Der Terrorismus macht mir Angst!” Worauf ein größeres Mädchen (vielleicht auch seine Mutter) kämpferisch ruft: “Aber die Freiheit macht den Terroristen noch mehr Angst!”
Das Kinderblatt des Quotidien wiederum, Le petit quotidien, bat muslimische Kinder und Teenager in Frankreich, ihre Eindrücke zu beschreiben. Das liest sich durchaus nicht nur kindlich-harmlos, wenn etwa ein Jugendlicher sagt, die Attentate seien passiert, weil Frankreich Syrien bombardiere. François Dufour, Chefredakteur des Le Petit Quotidien, glaubt, dass seine jungen Leser das aushalten können. “Man kann die Kinder nicht anlügen, weil sie Kinder sind. Sie leben in der gleichen Welt. Und sie leben in einer Welt, in der das Radio in der Küche und im Auto ist, in der ein Fernseher angeschaltet ist und in der sie mit Kindern auf dem Spielplatz reden. Wer bist du, dass du sie anlügen dürftest?” sagte er in einem Interview mit der BBC. In einem Video der New York Times kann man sehen, wie Dufour einen Tag nach den Pariser Anschlägen mit Kindern diskutiert (französisch mit englischen Untertiteln).
https://www.youtube.com/watch?v=A94DXeM2U38
Was wiederum der Vater in diesem Video zu seinem Sohn sagt, entspricht vielleicht nicht Dufours strengen Ansprüchen. Aber der Junge ist noch sehr klein. Und der Dialog ist ziemlich rührend (französisch mit englischen Untertiteln).
https://www.youtube.com/watch?v=L2S9An4AX0M
Am Ende muss jeder selbst die individuell passende Ansprache für ein Gespräch mit Kindern über solche Ereignisse finden. Mich würde interessieren: Wie seid ihr damit umgegangen? Was hat funktioniert, und was würdet ihr anderen in einer solchen Situation raten?
Aufmacherfoto: Ein Bild der Pariser Attentäter aus einer Zeitung, ausgemalt von der fünfjährigen Tochter einer KR-Leserin