Gerade noch rechtzeitig hat das Fernsehen gemerkt, dass sich moderne deutsche Serien nicht von alleine drehen, wenn sie niemand in Auftrag gibt, und die Zuschauer irgendwann zu Netflix abhauen. Während die ARD sich mit ihrem Vorzeigeprojekt „Babylon Berlin“ von Tom Tykwer noch bis 2017 Zeit lässt, legen nun ausgerechnet Vox, RTL und der Zwergen-Pay-TV-Sender TNT Serie vor.
Los geht es an diesem Montag um 20.15 Uhr mit „Club der roten Bänder“ – einer Krankenhausserie.
Und was soll daran besonders sein?
Zum Beispiel: die ersten drei Minuten. „Es gibt Momente, die ändern das Leben für immer“, sagt eine Kinderstimme, und dann fällt bis zum Vorspann kein einziges Wort mehr. Stattdessen steht Teenager Jonas zuhause vorm Badspiegel, nimmt den Rasierapparat und schneidet sich langsam, Bahn für Bahn die Haare vom Kopf. Da ist schon klar, dass „Club der roten Bänder“ bei Vox ziemlich weit weg ist von der üblichen Doktorbrinkmannhaftigkeit deutscher Krankenhausserien. Jonas hat Krebs, heute ist der letzte Tag, bevor ihm sein Bein abgenommen wird. Und das Publikum kommt mit ins Krankenhaus.
Das hört sich aber nicht nach deutschem Fernsehen an.
Deshalb ist es auch so gut! Die Serie verzichtet auf jeglichen Wohlfühlabstand zu ihren Charakteren. Stattdessen begleitet die Kamera Jonas bis auf den OP-Tisch, fährt ganz nah über seinen Körper, der nach der Operation nicht mehr derselbe sein wird, und der Kindererzähler sagt dazu: „Es sind eine Menge Hände nötig, um ein einziges Bein abzuschneiden.“
https://www.youtube.com/watch?v=JTis5IIOYQg
Wollen die Leute sowas überhaupt sehen?
Keine Ahnung. Die Vorlage zu „Club der roten Bänder“ basiert auf den realen Erlebnissen des Autors Albert Espinosa. In Spanien ist die Originalserie zu einem Riesenerfolg geworden. Fürs deutsche Publikum wird’s aber hart – weil Vox mit so ziemlich allen Sehgewohnheiten bricht. Im Mittelpunkt stehen die Patienten, nicht die Ärzte. Die Folgen sind außergewöhnlich langsam und leise erzählt. Action? Gibt es nicht. Dafür freundet sich das Publikum mit den Jugendlichen in der Klinik im gleichen Tempo an wie Jonas.
Da ist zum Beispiel Leo, der Jonas’ Schicksal teilt, Emma, die ihre Magersucht überwinden soll, und Hugo, der seit zwei Jahren im Koma liegt – und, wie sich herausstellt, zugleich die Geschichte dieser Krankenhausfreundschaft erzählt.
Und die geht erstmal ganz schön ruppig los. „Muss scheiße sein, ohne Bein“, spottet Alex, der Neue. „Muss scheiße sein, ohne Hirn“, antwortet Leo. Ein andermal ätzt Leo über Emma: „Du siehst aus, als hättest du 20 Gramm zugenommen – nicht dass du den anderen auf der Station alles wegfrisst.“ Und die revanchiert sich: „Ich kann dir in den Arsch treten. Versuch du das doch mal.“ Das würde bei „In aller Freundschaft“ vermutlich nicht durchgehen.
Das heißt: Die Serie ist ein sicherer Hit?
Hm, schwierig. In der ersten Folge ist man tatsächlich zu gefesselt, um wegzuschalten. Aber schon in Folge zwei (läuft gleich im Anschluss) nervt Hugo mit seinem altklugen Off-Gelaber: „Freundschaften sind ein empfindliches Geschenk. Um sie zu halten, braucht es Verständnis.“ Und: „Es gibt viele Wege zu kommunizieren. Nicht immer braucht man dafür Worte – aber immer eine Verbindung.“ Bäh, so redet doch kein Zwölfjähriger, auch nicht im Koma. Außer, er ist vorher in einen Kessel mit Glückskekssprüchen gefallen.
Und so schön gefühlig das auch ist, wenn nach anderthalb Stunden alle Freunde werden: An diesem Punkt könnte „Club der roten Bänder“ genausogut zu Ende sein. Warum man in der Woche drauf nochmal einschalten sollte, lässt die Serie völlig offen. Alles mündet im Kitsch mit einem Gruppenfoto, bei dem die frisch gegründete Klinik-Gang vereint in die Kamera grinst. In die Kamera! So ein Unfug.
Vox hat vorab nur zwei fertige Folgen veröffentlicht. Es besteht also Hoffnung, dass sich der „Club“ danach wieder fängt.
Und was wird zwischendurch geguckt? Bis nächsten Montag ist doch noch ewig hin!
Wie wäre es denn mit „Weinberg“? An diesem Dienstag läuft die sechste und letzte Folge beim Pay-TV-Sender TNT Serie, und wer z.B. ein Abo des neuen Video-on-Demand-Pakets Sky Entertainment abschließt (9,99 Euro, ab dem zweiten Monat monatlich kündbar*) kann schon alle Folgen in einem Rutsch sehen.
(*Nach dem zweiten Monat hat man auch alles gesehen, was da sonst noch drin ist.)
Zu welcher Tageszeit am besten?
Nachmittags ab fünf, wenn es draußen dunkel ist. Dann funktionieren die von Krähengeschrei begleiteten geisterhaften Kameraflüge über nebelige Berghänge am besten. Die Geschichte geht so: Ein Fremder wacht im Weinberg auf, sieht die Weinkönigin des Dorfes tot in den Reben hängen und kriegt nachher eingebimst, dass er sich das bloß eingebildet hat. Bis die Halluzination am nächsten Tag Wirklichkeit wird.
Was ist daran gut?
„Weinberg“ traut sich, Krimi und Mystery zu verschmelzen. Die Gruselkulisse – das Dörfchen Kaltenzell im Ahrtal – ist klasse, die Charaktere haben alle einen ganz ordentlichen Knacks, und rätselhafte Geistererscheinungen gibt’s auch. Außerdem ist die Bedrohlichkeit des Provinziellen im Fernsehen selten schöner auf den Punkt gebracht worden.
Und was ist schlecht?
Dass der ganze Grusel schnell zur durchschaubaren Masche verkommt. Die erotische Wirtsgattin wird für ihren Szenenauftritt dramatisch herbeigehaucht; der Trick mit der Person, die nicht mehr da ist, wenn der Protagonist sich umdreht, nutzt sich schnell ab; und wer bei jeder absichtlichen Unschärfe oder Super-Großaufnahme von aufgerissenen Augen, flüsternden Mündern und toten Füchsen an der Wand einen Schnaps kippt, riskiert ’ne Alkoholvergiftung. Ab Folge vier sind dann endgültig alle Täler und menschlichen Abgründe ausführlich bebratscht, die Geschichte kommt keinen Meter mehr voran, stattdessen zelebriert „Weinberg“ ziellos den Wahnsinn seiner Protagonisten, und plötzlich fällt auch auf, wie albern die Dialoge manchmal sind:
„Hart oder weich?“ – „Was?“ – „Wie wollen Sie Ihr Ei?“
„Herr Kommissar, er lügt!“ – „Alle lügen. So wie immer.“
„Wer oder was ist das Böse?“ – „Das Böse ist in uns allen.“
Okay, das Böse vielleicht, aber halt nicht automatisch auch ein guter Seriendialogautor.
Spätestens als dann die Ex-„Circus Halligalli“-Omi aus dem Halbdunkeln Sätze sagt wie „Das Unglück ist nach Kaltenzell zurückgekehrt“, ein vermeintliches Ungeheuer im Fetzenmantel durch den Wald stürmt und, ähm, die schamanistische Ortsfriseurin Séancen abhält („Ich bin nur ein Medium!“) – spätestens da also hat „Weinberg“, das gern ein deutsches „Twin Peaks“ wäre, die Ausfahrt Richtung Scooby-Doo-Grusel genommen. Obwohl sich die Serie dabei weiterhin wahnsinnig cool findet: Der - ganz gute - Vorspann sieht eins zu eins aus, als sei er für eine HBO- oder Showtime-Produktion gemacht worden, und im Abspann sind die Zuständigkeiten in englischer Sprache angegeben.
Lohnt sich’s trotzdem anzugucken?
Und wie! Geisterbahn fährt man ja auch nicht, um sich zu erschrecken, sondern über die albernen Monster zu lästern.
Fehlt noch RTL.
Richtig. RTL lässt sich noch bis zum 26. November Zeit, dann läuft donnerstags in Doppelfolgen „Deutschland 83“. Wer sich in diesem Jahr nur eine deutsche Serie ansehen mag, kann sich schon mal merken: die isses!
Wird also nicht peinlich ab Folge vier?
Im Gegenteil. Spätestens nach dem drastischen Vorfall am Ende der vierten Folge sitzt man als Zuschauer geschockt vor dem ganzen Spion-Schlamassel und weiß: Das ist kein Spiel mehr. Da ist längst vergessen, dass der Hauptprotagonist zu Beginn der Serie nicht gerade einen besonders sympathischen Auftritt als treuer DDR-Verteidiger hatte, der sich den „Geld- und konsumgierigen Kapitalisten“ aus dem Westen haushoch überlegen fühlt. Es dauert in der Premierenfolge ja auch keine zwanzig Minuten, da ist er selbst einer.
Als in die Bundeswehr eingeschleuster Spitzel (Deckname: Kolibri) soll der junge Berliner Martin Rausch während des Kalten Krieges auskundschaften, ob die Amerikaner mit ihren Pershing-Raketen auf deutschem Boden tatsächlich den Osten plattmachen wollen.
Den besten Trailer zur Serie hat das amerikanische Sundance TV gemacht, das „Deutschland 83“ noch vor RTL zeigen durfte:
https://www.youtube.com/watch?v=3G9qSv01VMg
„Sind Sie bereit, der Partei alles zu opfern?“, fragt der HVA-Mann Schweppenstette. Und wartet die Antwort erst gar nicht ab. Im verhassten Westen freundet sich Martin jedoch mit den Kollegen an, verguckt sich in die Tochter des Generals – obwohl die Freundin daheim in Berlin ein Kind von ihm erwartet –, und ist hin- und hergerissen zwischen Ost und West.
Vor allem stellt er fest, dass die in Bonn zwar Kapitalisten sind, aber nicht bescheuert – und auf keinen Fall einen dritten Weltkrieg riskieren wollen. Den Verantwortlichen in der DDR passen diese Einschätzungen aber gar nicht in den Kram. Die Eskalation scheint unvermeidbar.
Sicher, dass das beim Dieter-Bohlen-Sender RTL läuft?
Ja, ganz sicher. Und hoffentlich funktioniert’s. Weil dann nicht mehr länger bloß öde Krimiserien mit ungleichen Ermittler-Duos gedreht werden würden, sondern vielleicht Mut da wäre, um öfter was zu wagen. „Deutschland 83“ erzählt eine brenzlige Phase der jüngeren deutschen Geschichte, mit hochinteressanten Charakteren (Hauptdarsteller Jonas Nay, Sylvester Groth als HVA-Kettenrauch-Chef und Maria Schrader als unterkühlte Mitarbeiterin sind irre gut!), drastischen Wendungen und gut dosierter Situationskomik (z.B. wenn die Genossen ratlos zum ersten Mal eine amerikanische Diskette in der Hand halten und ratlos sind).
Bloß in der letzten Folge opfert „Deutschland 83“ den Realismus einem knalligen (und völlig unglaubwürdigen) Finale. Geht aber in Ordnung, weil es schon lange keine deutsche Serie mehr geschafft hat, dass man nach einer Folge mit so großer Ungeduld auf die nächste gewartet hätte.
Alleine schon, um das coole Intro nochmal zu sehen:
https://www.youtube.com/watch?v=PIlUj9J3quM
Anders gesagt: Nimm das, Netflix!
Aufmacherfoto: Vox / Martin Rottenkolber (Luise Befort und Damian Hardung in „Club der roten Bänder“)