Um den Strapazen des Alltags vorübergehend zu entfliehen, haben die Menschen unterschiedliche Strategien entwickelt. Die einen buchen Urlaub im Wellness-Hotel, andere besinnen sich ihrer selbst auf dem Jakobsweg. Und manche lassen sich für eine unbegrenzte Zeit in der Wildnis aussetzen, um mal auszuprobieren, ob sie morgens noch aufwachen oder schon von einer Bestie verspeist worden sind.
Anfang des Jahres hat der amerikanische Sender History zehn Abenteurer nach Vancouver Island in Kanada verfrachtet, um sie dort mit minimaler Ausrüstung maximaler Isolation auszusetzen. Und natürlich, um Panik, Hunger und Wahnsinn zu provozieren, damit die Zuschauer nachher nicht komatös vom Sofa rutschen, wenn sie einschalten. „Alone“ heißt der vorläufige Höhepunkt eines Trends, mit dem sich das Fernsehen die Zivilisationsmüdigkeit vieler Menschen zu Nutze macht und sie in Situationen steckt, in denen die größte Katastrophe des Tages mal nicht der leere Smartphone-Akku ist.
Männer, die sich beim Dehydrieren filmen
Die kernigen Abenteurer aus „Alone“ („Allein“) sitzen viele Kilometer getrennt voneinander allein im Wald. Bei der Reality-Show „The Raft“ simulieren Kandidaten einen Schiffsunfall und lassen sich eine Woche lang im Schlauchboot übers Meer treiben. Beide Male müssen sich die Teilnehmer selbst beim Dehydrieren filmen. Weil die Bilder so verwackelt sind, wirken sie besonders echt. Und das Fernsehen kann mit der potenziellen Lebensgefahr spielen, um Spannung zu erzeugen.
„Alone“ blendet zu Beginn das Zitat eines amerikanischen Wissenschaftlers ein: „Auslöschung ist die Regel, Überleben die Ausnahme.“ Wenn Kandidaten aufgeben, verschwindet ihr Name mit einem dumpfen Schlag von der Karte – fast so wie bei der Roman- und Filmreihe „Die Tribute von Panem“. Dort kommt der Sieger zur Belohnung mit dem Leben davon. Bei „Alone“ mit seiner „Blair Witch“-Machart gibt’s als Bonus nochmal 500.000 Dollar obendrauf.
https://www.youtube.com/watch?v=yopF89q3jV0
Während hunderttausende Menschen auf der Flucht nach Europa ihr Leben riskieren, um dort in Sicherheit leben zu können, setzen diejenigen, die dieses Privileg schon haben, ihr Leben aufs Spiel, um sich nicht mehr so zu langweilen.
Dass am Ende niemand nachhaltig zu Schaden kommt, heißt aber nicht, dass die inszenierten Abenteuer ohne Risiko sind. Bei den Dreharbeiten zu der französischen Reality-Show „Dropped“ („Ausgesetzt“) sind im März dieses Jahres bei einem Hubschrauberabsturz zehn Menschen gestorben, darunter drei bekannte französische Sportler, die sich als Kandidaten verpflichtet hatten. 2013 erlitt der Teilnehmer der französischen Reality-Show „Koh-Lanta“ auf Kambodscha vor der Kamera einen Herzstillstand und verstarb im Krankenhaus. Der verantwortliche Team-Arzt nahm sich nachher das Leben, weil er sich von den Medien zu Unrecht an den Pranger gestellt sah. Das hindert die Sender aber nicht daran, die Regeln für neue Abenteuer-Shows noch zu verschärfen.
Festival der Leichtsinnigkeiten
So wie in der britischen Überlebensshow „The Island“, die nach der Ausstrahlung bei Channel 4 zu einem internationalen Erfolg geworden ist. Eine Gruppe Menschen, die sich bis dahin nie gesehen hat, wird für einen Monat auf der einsamen Insel Gibraleón bei Panama ausgesetzt und muss zusehen, wie sie zurecht kommt. Kein einziger Mitarbeiter der Produktionsfirma ist dabei. Zum Team gehören lediglich drei erfahrene Kameraleute, die unter denselben Bedingungen leben wie ihre Mitstreiter – ohne Kontakt zur Außenwelt. Ein Preisgeld gibt es nicht, auch keine Sieger. Falls sich einer der Abenteurer verletzt, kann mit dem Funkgerät Hilfe gerufen werden. Und Verletzungen gehören in der ungewohnten Umgebung quasi zur Tagesordnung.
Als NBC im Sommer für die amerikanische Variante lauter testosteronübersteuerte Herren auf die Insel verfrachtete, war die Gruppe nach wenigen Tagen schon um drei Mitglieder geschrumpft. Einen traf der Hitzschlag, der nächste knallte beim Felsenklettern mit rutschigen Flip-Flops mit dem Rücken auf den nackten Stein, den dritten holte der Wahnsinn – ein Festival der Leichtsinnigkeiten und Selbstverletzungen.
https://www.youtube.com/watch?v=I3VqMxCJD-E
Am Sonntag springt das deutsche Fernsehen auf den Trend auf: Bei ProSieben startet „Wild Island“ mit 14 Teilnehmern, die – wie der Untertitel suggeriert – ums „pure Überleben“ kämpfen sollen. Auch auf die Gefahr hin, dass sich jemand schwer verletzt? „Natürlich bezieht die Sendung ihren Reiz daraus, dass sie ein Experiment mit ungewissem Ausgang ist“, sagt Daniel Rosemann, Vice President Show & Event bei ProSieben. „Aber das bedeutet nicht, dass man dabei verantwortungslos vorgehen darf.“ Es sei nicht das Ziel der Sendung, Kandidaten in Situationen zu bringen, die gefährlich für sie seien. „Die Nahrungssuche und die große Hitze sind anstrengend und konfliktreich genug.“
Ausschließen kann der Sender einen schweren Unfall aber nicht. Allerdings habe die Produktionsfirma Endemol Shine für die Dreharbeiten ein Notfallsystem aufgebaut, erzählt Rosemann: „In Deutschland gehört es zum Standard, dass in zwölf Minuten ein Notarzt am Unfallort ist. Das war bei ‘Wild Island’ auch so. Wir hatten drei Ärzte im Produktionsteam, einen mehr als die Produktion in anderen Ländern hatte. Die Klinik in Panama ist ausführlich vorbesichtigt worden. Handyempfang gibt es auf den Inseln so gut wie nicht, also haben wir Funkfrequenzen vom Militär gemietet, um jederzeit sicher Kontakt untereinander halten zu können. Im Zweifel müssen wir der Produktionsversicherung belegen können, dass wir unserer Sorgfaltspflicht nachgekommen sind.“
Schuhverkäuferinnen in Extremsituationen
Außerdem hätten die Kandidaten beim Survival-Training zuvor klare Regeln vorgegeben bekommen: „Eine der abgesprochenen Grundregeln war: Niemand bewegt sich auf der Insel alleine, es ist immer jemand dabei, der im Notfall Hilfe rufen kann.“
Die Gruppenaussetzung macht die Angelegenheit aber nicht zwangsläufig sicherer. Im Gegenteil: Wenn höchst unterschiedliche Charaktere in Stresssituationen aufeinander prallen, können Teilnehmer zur Gefahr für sich selbst werden.
In der NBC-Show geriet einer der Kandidaten, nachdem er den anderen vom Krebstod seiner Frau erzählt hatte und die Sehnsucht nach den daheim gelassenen Kinder zu groß wurde, an seine Grenze, saß verzweifelt am Strand und versicherte den anderen Teilnehmern: „Ich bleib hier nicht, ich bring mich um.“ – „Er hat ein Messer, es ist gerade sehr gefährlich“, flüsterte einer im Hintergrund, während die anderen versuchten, den Kumpel zu beruhigen. Er wolle auf keinen Fall, dass ihn seine Kinder so im Fernsehen sehen, bat der Verzweifelte, und einer der Kameramänner versicherte: „Du wirst gerade nicht gefilmt“ – während er die Kamera so im Sand positionierte, dass das Drama möglichst gut im Bild war. „Wir wollen eine Geschichte erzählen – und die wird besser mit diesen Bildern“, rechtfertigte sich der Kameramann nachher. Bloß: auf wessen Kosten?
Wenn es in solchen Situationen wirklich zum Ernstfall kommt, können zwölf Minuten eine halbe Ewigkeit sein. Umso fataler ist es, wenn Kandidaten bereits so gecastet werden, dass sie aufgrund ihrer Persönlichkeiten aneinander rasseln. ProSieben-Unterhaltungschef Rosemann widerspricht: „Die Geschichten, die sich während einer Produktion als erzählenswert herausstellen, sind unserer Erfahrung nach so gut wie nie vorher aus dem Cast abzusehen.“
Schlange zum Abendessen
Während NBC ganz klar auf Konfrontation setzte und vorrangig stark von sich selbst überzeugte Männer auf die Insel schickte, hat ProSieben bei der Zusammensetzung der Gruppe offensichtlich mehr Wert auf Diversität gelegt: Unter den 14 Teilnehmern sind sechs Frauen, und statt amerikanischen Irakkriegsveteranen, Ex-Polizisten und Feuerwehrmännern müssen bei „Wild Island“ Musicaldarsteller, Schuhverkäuferinnen, Azubis und Tischler miteinander klarkommen. Ganz ohne Konflikte geht das freilich auch nicht ab, allerdings ist das deutsche „Wild Island“ deutlich weniger aggressiv als das der Amerikaner. „Vielleicht ist unsere Version weniger blutrünstig – aber das sehen wir nicht als Nachteil. Dafür haben wir die interessanteren zwischenmenschlichen Geschichten zu erzählen“, ist Rosemann überzeugt.
Dass die erste „Wild Island“-Folge am Sonntag direkt nach der Free-TV-Premiere des zweiten „Tribute von Panem“-Blockbusters läuft, suggeriert (genau wie die Trailer) aber erstmal das Gegenteil.
Im Netz regt sich schon vor der Ausstrahlung Protest gegen die Show – aber aus einem völlig anderen Grund: Auf Twitter und Facebook rufen Nutzer unter dem Hashtag #stopwildisland dazu auf, die Sendung zu boykottieren, weil Kandidaten darin Wildtiere fangen, um an Nahrung zu gelangen. Der Sender beschwichtigt, für die Sendung sei kein Tier gequält worden. Einer der Kandidaten sei Jäger und habe die gefangenen Tiere fachgerecht getötet. „Es ist natürlich völlig legitim, das generell nicht gut zu finden“, sagt Rosemann. „In der Sendung sind aber keine sichtbaren Tötungsbilder zu sehen.“
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Bei NBC haben die Inselbewohner schon am ersten Tag eine Schlange erlegt und später einem Kaiman den Schädel gespalten. Und in Großbritannien wurde „The Island“ vorgeworfen, Tiere eigens auf der Insel auszusetzen, damit die Kandidaten sie fangen können. Ist das auch bei „Wild Island“ passiert? Rosemann von ProSieben erklärt: „Die Besitzer der Insel legen Wert darauf, dass alles, was von der Insel genommen wird, danach wiederhergestellt wird.“
So einfach kann es sich das Fernsehen nicht machen, meint Oliver Goetzl. Der Filmemacher verbringt einen Großteil des Jahres in den entlegensten Teilen der Welt und beobachtet dort Bären, Vielfraße oder Wölfe mit der Kamera. Mit seinem Partner Ivo Nörenberg ist er im Auftrag des NDR für die Hamburger Wildlife-Spezialisten DocLights, für die BBC und National Geographic tätig. Gemeinsam haben die beiden mit ihren Produktionen die renommiertesten Tierfilm-Preise der Welt gewonnen.
Im Gespräch über Reality-Shows wie „The Island“ sagt Goetzl: „Der Mensch ist evolutiv gesehen anderen Tieren in den meisten Disziplinen unterlegen: Wir sind eher langsam, wir können nicht besonders gut hören oder riechen. Was die Menschen von den Tieren positiv unterscheidet, ist die Moral. Die Moral setzt uns Grenzen, die uns das Zusammenleben in so großer Zahl ermöglichen. Solche Reality-Sendungen überschreiten diese Grenzen.“ Er habe kein Problem damit, wenn Ureinwohner im südamerikanischen Regenwald jagen, um zu überleben. „Aber die Situation in diesen Sendungen ist eine künstliche. Ich halte das für falsch.“ Noch dazu könnte die Hemmschwelle bei Nachahmern sinken.
Angst vor „verrückten Killermaschinen“
Zugleich erhöht das Reality-Fernsehen die Dramatik, indem es Tiere zu Bestien macht und damit die eigentlichen Gefahren der Produktionen verschleiert. „Alone“ erinnert genüsslich daran, dass auf Vancouver Island „7000 Schwarzbären, 200 Wölfe, fast 1000 Pumas“ leben. Während im Wald rund um die Abenteurer die Zweige knacken, wird die Information eingeblendet, dass Pumas ihre Beute „für gewöhnlich von hinten attackieren“ und diese Gegend „die höchste Rate an Puma-Angriffen in Nordamerika“ aufweise. Kandidaten sitzen bibbernd im Zelt, leuchten sich nachts mit der Taschenlampe ins Gesicht und ängstigen sich vor „verrückten Killermaschinen“.
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„In den aller-, aller-, allermeisten Fällen ist das Unsinn“, sagt Oliver Goetzl. Nur wenige Tierarten würden von sich aus auch mal ein aggressives Verhalten gegenüber Menschen zeigen. „Es gibt allerdings Situationen, in denen sich ein Tier in die Enge gedrängt fühlt und das Gefühl hat, es kann nicht mehr weg – dann tritt es womöglich die Flucht nach vorne an.“ Bei Unfällen, zum Beispiel mit Bären in Nordamerika, hätten sich in den meisten Fällen zuvor die Menschen falsch verhalten. „Grizzlys werden zum Beispiel angelockt, weil Besucher in den stark besuchten Nationalparks ihr Essen nicht richtig verstauen.“
Im Frühjahr war Goetzl mit zwei Kollegen im nördlichsten Kanada auf Ellesmere Island, um Polarwölfe in der Tundra zu drehen. Das Camp haben die Filmemacher in vielen hundert Metern Entfernung von der entdeckten Wolfshöhle aufgeschlagen, und sich über mehrere Wochen Tag für Tag langsam angenähert. „Die Tiere haben uns akzeptiert und am Ende gar nicht mehr wahrgenommen. Wir passen nicht in ihr Beuteschema, sind aber auch keine Bedrohung, weil Polarwölfe in dieser Gegend nicht gejagt werden.“ Aber natürlich wollten die Tiere wissen, was in der Nähe passiert und sind zum Schnüffeln gekommen.
Trampel im Waldwohnzimmer
Goetzl meint, wenn Tiere sich Menschen näherten, dann oft aus Neugierde. Zum Beispiel, weil jemand quasi in ihrem Wohnzimmer rumtrampelt. „Die checken aus, was da ist, und verlieren sehr schnell wieder das Interesse. Es sei denn, sie nehmen sechs Lachse mit ins Zelt und lassen den Fuß raushängen.“ Das heißt nicht, dass man in der afrikanischen Savanne riskieren sollte, sich neben Elefanten, Krokodilen und Nashörnern schlafen zu legen, die sich geärgert fühlen könnten. Aber zumindest der „Alone“-Abenteurer, der im Stockdunkeln ein paar leuchtende Bärenaugen sah, per Funk mitten in der Nacht panikartig eine Rettungsaktion auslöste und sich danach sicherheitshalber von Frau und Tochter in die Kamera verabschiedete, war deutlich näher am Herzinfarkt als am Bärenfrühstück.
Die Natur per se sei keine Gefahr, sagt der Filmemacher. „Das Reality-Fernsehen macht sie erst dazu. Nicht die Tiere gehören an den Pranger gestellt, sondern die Produktionsfirma, die aus Sensationsgier solche Sendungen dreht.“
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Das hinderte History freilich nicht daran, die „Alone“-Episoden, in denen Nachtsichtkameras unscharfe Waldbewohner eingefangen haben, deswegen „Krallen der Angst“ oder „Verfolgt“ zu betiteln – und damit zu verschleiern, dass die eigentliche Gefahr die Irren selbst sind, denen nach ein paar Tagen in der Wildnis auffällt, dass es vielleicht eine blöde Idee war, die hochschwangere Freundin zuhause zurück zu lassen, um sich für eine Unterhaltungsshow als taffer Überlebenskämpfer zu produzieren.
„Wild Island“ startet am Sonntag um 23.10 Uhr auf ProSieben und läuft danach täglich ab ca. 22.10 Uhr.
Aufmacherfoto: History/Leftfield Pictures (Kandidaten aus „Alone“)