Nur eine einzige Frage. Kommt schon!
Die TV-Stars Günther Jauch, Sandra Maischberger, Maybrit Illner und Pinar Atalay hatten zusammen drei Stunden und 36 Minuten Zeit, um den Kanzlerkandidaten eine Frage zur Klimakrise zu stellen. Nur eine einzige Frage. Niemand der vier stellte diese Frage.
Wenn die Menschheit die Klimakrise nicht lösen kann, geht die Zivilisation, wie wir sie kennen, unter. Aber das war Deutschlands Medienelite keine Sekunde Redezeit wert.
Nach dem TV-Duell frohlockte der Boulevardjournalist Julian Reichelt auf X, einer bei Rechtsextremen beliebten Social-Media-Plattform: „Die beste Nachricht aus dem TV-Duell: No one fucking cares about Luisa Neubauer, Fridays for Bildungslücken und diese ganze Klima-Ideologie anymore. Nicht mal bei ARD und ZDF.“
Vor dreieinhalb Jahren war das anders. Im Herbst 2021 galt die Bundestagswahl, angetrieben von den großen Fridays-for-Future-Demonstrationen, als „Klimawahl“. Alle wussten damals: Wer diese Wahl gewinnen will, muss sich zur Klimakrise positionieren. Olaf Scholz von der SPD rief sich selbst zum „Klimakanzler“ aus.
Es ist normal, dass Themen mal mehr, mal weniger wichtig sind. Der Mensch sucht ständig Neues, und zum hundertsten Mal zu hören, dass die Welt untergeht, ist langweilig. Alles unterliegt Aufmerksamkeitszyklen.
Aber es ist nicht normal, dass ein Megathema wie die Klimakrise komplett aus dem Wahlkampf verschwindet. Dafür gibt es sachlich keinen Grund. Wir machen Fortschritte, aber noch immer zeigen globale Temperaturen und CO₂-Emissionen nach oben. Die Erwärmung beschleunigt sich und Forscher wissen nicht genau, warum.
Wir haben es nicht mit einem ganz normalen Auf und Ab eines Themas zu tun. Im Hintergrund passiert mehr. Die Gegner der sowieso zu laschen Klimaziele wittern Morgenluft.
Denn Medien berichten seltener über die Klimakrise, die Demonstrationen werden kleiner, die Aktivisten und Aktivistinnen sind ausgebrannt. Das schafft Raum für eine andere Erzählung. Die Klima-Konterrevolution hat begonnen.
Klimaleugnung war gestern, heute wird gegen die Lösungen geätzt
Die Gegner eines effektiven Klimaschutzes gehen längst nicht mehr so plump vor wie vor wenigen Jahren. Echte Klimaleugner, die nicht an die Erderwärmung an sich glauben, gibt es kaum noch. Heute stellen Gegner wie die AfD infrage, ob der Mensch einen Anteil daran habe.
Vor allem ätzen sie gegen die Klimalösungen. Es gibt zahlreiche Mythen über E-Autos, die auch von angesehenen Redaktionen aufgegriffen wurden. Die Kampagne gegen das Heizgesetz der Ampel war beispiellos. Deutschland, das Land der Ingenieure, ließ sich einreden, dass hocheffiziente Wärmepumpen Gasbrennern in jeder Hinsicht unterlegen seien. Spitzenpolitiker wie Jens Spahn von der CDU bildeten dabei die vorderste Angriffslinie.
Zuletzt machte immer wieder die Runde, dass Deutschlands Wirtschaftsprobleme an den hohen Kosten erneuerbarer Energie liegen würden. Erneuerbare, so sagte es etwa AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel mehrfach vor der Bundestagswahl, seien ohne staatliche Unterstützung in Wahrheit teurer als andere Energieerzeugungsformen. Das genaue Gegenteil ist richtig: Das teure Gas treibt die Strompreise, die billigen Erneuerbaren senken sie.
Wer heute gegen Klimalösungen wettert, kann sich auf zwei Dinge verlassen: Erstens, dass das alles im Detail so kompliziert ist, dass keine Talkshow darüber ernsthaft reden will. Die Quote, du weißt schon. Zweitens, dass „Klima“ heute wieder eher Milieu- als Gesellschaftsthema ist. Mit anderen Worten: Wer die ganz konkreten Klimaschutzmaßnahmen einer Regierung kritisiert, kann auf eine gewisse Grundskepsis der Mehrheit zählen, sobald es konkret wird. Denn die findet Klimaschutz zwar immer grundsätzlich gut, fragt aber zu Recht, ob sie sich das alles leisten kann.
Verschwunden ist der Schwung der Fridays-for-Future-Jahre, als eine junge Greta Thunberg den Mächtigen dieser Welt die Leviten lesen durfte – und diese Mächtigen ihr dafür applaudierten. Verschwunden ist das Verständnis dafür, dass echte Veränderung nicht im Parlament oder in der Amtsstube beginnt, sondern auf der Straße.
Der Staat kriminalisiert Aktivistinnen und Aktivisten
Wo die Polizei und Innenminister den ersten großen Klima-Demonstrationen ab dem Jahr 2018 mit Deeskalation und viel Verständnis begegneten, änderten sie bald ihre Taktik. Bereits als die „Klima-Wahl“ im Jahr 2021 anstand und die Europäische Union begann, den „Green New Deal“ umzusetzen, attackierte die Polizei immer härter Klimaaktivisten und -aktivistinnen.
Das ließ sich in England beobachten, wo die Bewegung „Extinction Rebellion” sehr stark war. Aber auch in Deutschland. Die Polizei setzte ihr ganzes Maßnahmenarsenal ein, um Klimaproteste rund um die Automesse IAA in München oder in den Kohlerevieren kleinzuhalten.
Die Polizei ging immer härter gegen Klimagruppen vor und die Staatsanwaltschaften schlossen sich ihnen letztlich an. Sie strengten etwa Verfahren gegen einzelne Mitglieder der Letzten Generation wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ an. Die Zahlen belegen für die Jahre 2019 bis 2021, dass immer mehr Aktivistinnen und Aktivisten vorsorglich eingesperrt wurden, damit sie nicht weiter demonstrieren konnten. Offiziell ging es bei diesem sogenannten Präventivgewahrsam darum, Straftaten zu verhindern. Straftaten, die sich oft in Hausfriedensbruch erschöpften. Einzelne Mitglieder der Letzten Generation müssen heute bis zu zwei Jahre ins Gefängnis gehen.
Bayern verweigerte zudem gerade einer jungen Lehrerin das Referendariat, unter anderem weil sie „Begrifflichkeiten der kommunistischen Ideologie“ verwendet habe. Das betreffende Wort ist „Profitmaximierung“ und just dieses Wort hat etwa auch Papst Franziskus in einer seiner Schriften verwendet.
Die Menschen, die auf den Straßen und manchmal auch ungehorsam für mehr Klimaschutz streiten, waren dabei der Testfall für einen viel breiter angelegten Angriff auf die Klimaziele. Sie waren die nervigen Boten mit den unliebsamen Nachrichten, und derer entledigt man sich bekanntlich immer zuerst.
Firmen streichen ihre Klimaziele, Staaten reichen keine Pläne mehr ein
In den Jahren 2018 und 2019 überboten sich viele Firmen in ihren Klimazielen. Heute sehen wir, wie einige von ihnen systematisch von diesen Zielen abrücken. Vor allem vier Branchen haben sich öffentlich von ihren ehrgeizigen Klimaambitionen verabschiedet: die Öl- und Gasindustrie, die deutschen Autobauer, die großen IT-Unternehmen und die Finanzindustrie.
- Ölkonzerne wie BP strichen ihre Klimaziele für 2030. Bei Shell oder der französischen Total sieht es genauso aus.
- Die deutschen Autobauer verteidigten lange das schleichende Aus für Verbrennermotoren ab dem Jahr 2035. Aber heute setzen sie weiter auf den Verbrenner.
- Die IT-Riesen waren bis zum Jahr 2022 auf einem guten Weg, ihre Klimaziele zu erreichen. Dann begann der Hype um künstliche Intelligenz. Seitdem investierten sie Hunderte Milliarden Dollar, um neue Rechenzentren zu bauen, die auch mit Strom aus Gas- und Kohlekraftwerken betrieben werden. So werden Microsoft, Meta, Google und Apple ihre Klimaziele nicht erreichen.
- Zuletzt die Banken und Vermögensverwalter: Verkündete Larry Fink, der Chef des weltgrößten Vermögensverwalters Blackrock, noch 2020 in einem Brief an die Investoren, dass seine Firma fortan Klimarisiken ernst nehmen werde, streicht die Finanzelite immer häufiger Umwelt- oder Klimabetrachtungen aus ihren Analysen. Gleichzeitig wollen Banken weiterhin Öl- und Gasgeschäfte finanzieren und brechen damit ihre früheren Versprechen.
Die Europäische Union setzt nun auch neue Schwerpunkte. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte den „Green New Deal“ ins Leben gerufen. Das „Green“ ist inzwischen verschwunden. Aus dem Gesetzespaket wurde der sogenannte „Clean Industrial Deal“. Das ist eine vielsagende Akzentverschiebung in der Kommunikation, die auch immer häufiger in Gesetzen ihren Widerhall findet. Für viele Politiker ist Klimaschutz zu einem Nice-to-have geworden. Ein gutes Symbol dafür sind der Verkehrs- und Gebäudesektor.
Lobbyisten wollen die Klimaziele abschwächen
Dabei ist wichtig zu wissen: Der Verkehrssektor ist neben dem Gebäudesektor die Trantüte der Klimapolitik. Während zum Beispiel die Energiebranche Schritt für Schritt der Klimaneutralität näherkommt, tut sich in diesen beiden Sektoren nur sehr wenig.
Deswegen hatte die EU verbindliche Regeln aufgelegt, um Verkehr und Gebäude auf Kurs Klimaneutralität zu bringen. Beide Regeln stehen unter Beschuss.
Das Gebäudeenergiegesetz (GEG), umgangssprachlich Heizungsgesetz, sollte in Deutschland die Wärmewende einleiten. Aber unter dem Druck der Gaslobbyisten wurde es ein halbgares Gesetz, mit dem nun sogar auch der Einbau von Gasbrennern unter bestimmten Bedingungen gefördert werden kann. Das Gesetz war kein Symbol für Deutschlands Klimatransformation, sondern ein Coup der Gasindustrie. Die Konterrevolution hatte ihren ersten großen Erfolg in Deutschland erzielt.
Weitere könnten folgen. In Brüssel arbeiten die Lobbyisten der europäischen Autoindustrie daran, die verbindlichen Klimaziele für ihren Sektor zu schleifen. Das berichtete der Spiegel kürzlich und ging in der aktuellen Weltlage völlig unter. Das ist per se kein neuer Fakt. Neu ist, dass die Interessenvertreter plötzlich Gehör finden. Aufweichung der CO₂-Grenzwerte für die Flotten, Verschieben des Verbrenner-Aus und Umdeklarierung von Elektro-Benzinern, sogenannten Plug-in-Hybriden, zu klimafreundlichen Fahrzeugen – alles scheint plötzlich möglich.
Was aber, wenn die Autobranche Ausnahmen bekommt? Was sagen dann die Stahl-, Zement- oder Chemiefirmen, für die es ungleich schwieriger ist, wirklich klimaneutral zu werden? Der Schluss ist vollkommen logisch: Sie werden auch sanftere Regeln „für den Übergang“ fordern.
Und Parteien hören ihnen plötzlich zu
Einige Politiker und Politikerinnen testen bereits, was möglich ist. Kürzlich sagte Dorothee Bär von der CSU in der Talkshow „Hart aber fair“ über die Klimaziele: „Ich würde nicht immer diese ganz starren Jahreszahlen nehmen.“ Damit spricht sie aus, was zwischen den Zeilen im Wahlprogramm der CDU steht. Zwar habe man „Klimaneutralität fest im Blick“, diese werde aber mit dem „Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft“ verbunden. Sprich: Wirtschaftswachstum schlägt im Zweifel Klimaschutz.
Zudem will die Union das Heizungsgesetz abschaffen und stattdessen auf „Technologieoffenheit“ und „emissionsarme Lösungen“ setzen. Diese wolkigen Begriffe zeigen deutlich, dass die CDU/CSU, die wahrscheinlich bald regieren wird, vor allem nichts tun will. Sie setzt auf den Emissionshandel als Instrument, einem börsenbasierten Mechanismus, um den CO₂-Ausstoß zu senken.
In den nächsten Jahren kommt für die europäischen Länder die Prüfung. Denn just die beiden Trantüten-Sektoren Verkehr und Gebäude sollen in den Emissionshandel überführt werden. Das hätte rabiat steigende Kosten für die Bürgerinnen und Bürger zur Folge, wenn es keine Unterstützung gibt. Das Öko-Institut hat gerade berechnet, dass ein deutscher Vier-Personen-Haushalt, der von der Regierung mit Emissionshandel alleingelassen wird, circa 2.600 Euro mehr pro Jahr für Gas ausgeben muss. Wie realistisch ist es, dass es so kommt? Welche Regierung wird das mit Blick auf die nächste Wahl zulassen?
Ein konzertierter Angriff auf den europäischen Emissionshandel ist möglich, auf das Instrument der EU, um Klimaneutralität zu erreichen. Es gibt erste Anzeichen dafür: 26 von 27 EU-Mitgliedstaaten haben die Frist zur nationalen Umsetzung des Gebäude- und Verkehrsemissionshandels verpasst. Nur Österreich hat die erforderlichen Maßnahmen rechtzeitig umgesetzt, während Deutschland immerhin vor ein paar Wochen nachgezogen ist. Polen, Tschechien, die Slowakei und Bulgarien fordern bereits, die verpflichtende Einführung dieses Emissionshandels zu verschieben.
Aber den eigentlichen Abwehrkampf kämpfen die Konterrevolutionäre
Das also ist, schlaglichtartig, das ganze Ausmaß der Klima-Konterrevolution, die gerade durch die westliche Welt rollt. Sie ist in allen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen zu sehen.
Aber es ist gerade nicht so, dass etwa die gesamte Wirtschaft von ihren Klimazielen abrückt. Die großen Tech-Konzerne bekennen sich grundsätzlich weiter zur Klimaneutralität. Auch in Deutschland melden sich Firmenchefs zu Wort, etwa vom Stahlhersteller Salzgitter oder dem Chemiekonzern Wacker Chemie, und verteidigen Klimaneutralität als den einzigen Weg für ihre Industrien. Der Tenor: Wollen sie wettbewerbsfähig bleiben, brauchen sie verbindliche Ziele.
Gleichzeitig sehen wir jetzt einen Effekt, den es im Jahr 2018 so noch nicht gab. Klimaschutz hat sich in einigen Bereichen verselbstständigt. Er muss nicht mehr durchgesetzt werden, sondern ist die erste Wahl für viele Unternehmen und Politiker, schlicht weil die entsprechenden Technologien die billigsten und effizientesten sind. Wer heute Energie erzeugen will, schaut zuerst auf Solarpark plus Speicher, dann auf Wind und dann erst auf fossile Technologien.
Was diese Konterrevolution also nicht ist: eine Bewegung, die irgendetwas mit der Zukunft zu tun haben will. Sie kann nur aufhalten, verhindern und verschleppen. Sie ist ein Angriff, ja, aber ein Angriff in einem Abwehrkampf.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert