Collage: Eine Temperaturskala hinter einem Gletscher.

Annie Spratt/Unsplash | Climatereanalizer.org, Climate Change Institute, University of Maine

Klimakrise und Lösungen

Die Antarktis ist das unterschätzteste Klimaproblem

Wir erleben krasse Klimajahre. Es ist schwer, alle Meldungen zu verfolgen. Deswegen zeige ich dir in diesem Artikel die wichtigsten Debatten und Studien.

Profilbild von Rico Grimm
Politik- und Klimareporter

Es hat viel geregnet in Österreich, Tschechien, im Frühjahr in Bayern und gerade in Polen. Der Sommer war entweder zu nass oder zu heiß, und schon jetzt ist klar, dass 2024 das wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen wird.

Was wir erleben, ist besonders. Es sind krasse Klimajahre, die sich nochmal von dem unterscheiden, was wir aus den 2010er Jahren kennen.

Und: Was gerade mit dem Klima passiert, überrascht selbst Experten.

Die gemittelte Oberflächentemperatur der Welt sprengt alle Rekorde, die Meere sind viel zu warm, die Erderwärmung scheint sich zu beschleunigen und wir sehen, dass die mittelbaren Folgen der Klimakrise heftiger ausfallen.

Und doch: Die Lage ist jetzt etwas anders als noch im Juni oder Juli. Denn der Alarm ist einer Ruhe gewichen. Die Temperaturen sind zwar immer noch zu hoch, aber sie steigen nicht mehr so rasant wie in den vergangenen 18 Monaten.

Was ist da los? Das zeige ich dir in diesem Artikel. Denn ich weiß: Nicht jeder kann und will sich mit den Meldungen, die meistens schlecht sind, ständig beschäftigen. Deshalb fasse ich kurz und kompakt die wichtigsten klimawissenschaftlichen Diskussionen und Studien des Sommers für dich zusammen.

Die Meere sind immer noch zu warm, aber sie werden nicht mehr wärmer

Das Diagramm zeigt die tägliche Meeresoberflächentemperatur weltweit (60°S–60°N) von Januar bis Dezember für die Jahre 1981–2024. Die orangefarbene Linie steht für 2023, die schwarze für 2024, beide zeigen deutlich höhere Temperaturen als die Vorjahre. Die gestrichelte Linie markiert den Durchschnitt von 1982–2011, mit weiteren gestrichelten Linien für zwei Standardabweichungen darüber und darunter. Das Diagramm verdeutlicht einen klaren Erwärmungstrend der Meeresoberflächentemperaturen in den Jahren 2023 und 2024.

Quelle: Climate Reanalyzer.org, Climate Change Institute, University of Maine

Die Temperaturen der Meere sind noch immer das klimawissenschaftliche Hauptthema.

Schaue kurz auf die Grafik. Sie zeigt die Oberflächentemperaturen der Weltmeere im globalen Schnitt. Die orange Linie ist das vergangene Jahr, die schwarze Linie dieses Jahr.

Du siehst zwei Dinge:

  • Erstens: Beide Linien liegen über dem langjährigen historischen Mittel. Die Meere sind viel zu warm. Das hat Folgen: Starkregen, Überflutungen, Korallensterben in ungesehenem Ausmaß, Veränderung wichtiger Meeresströmungen, schnelleres Abtauen der Arktis und Antarktis.
  • Zweitens: In diesem Jahr, die schwarze Linie, war es zunächst auch wärmer auf den Weltmeeren, seit Mitte Juli allerdings ist dieser Trend gestoppt. Die Meere kühlen sich wieder leicht ab.

Das war eine der großen Fragen der vergangenen Monate: Geht das immer so weiter? Jetzt haben wir zumindest auf die erste Frage eine Antwort. Warum die Erwärmung erst einmal beendet ist (auf hohem Niveau), ist unklar.

Eine These: Das zyklische, altbekannte Wetterphänomen El Niño, das im Pazifik wirkt, hatte den sowieso schon vorhandenen Erwärmungstrend zusätzlich verstärkt. Jetzt, wo El Niño vorüber ist, ist auch die Erwärmung erstmal gestoppt.

Aber natürlich ist die minimale Abkühlung kein Grund zur Entwarnung. Denn die Temperaturen sind weiterhin zu hoch und langsam kommt auch eine andere wichtige Funktion der Weltmeere in den Fokus.

Meere sind die größten Senken für CO₂ und Energie, die wir haben.

Beginnen wir mit der Energie: Um einen Kubikmeter Luft um ein Grad Celsius zu erwärmen, braucht es 2.000 Joule Energie. Um einen Kubikmeter Meerwasser zu erwärmen, braucht es allerdings 4,2 Millionen Joule. Wasser kann viel mehr Energie aufnehmen als Luft und in den vergangenen Jahrzehnten haben die Meere genau das getan: Sie haben Energie in Form von Wärme aufgenommen.

Gleichzeitig dienen sie auch als CO₂-Senken. Circa 50 Milliarden Tonnen haben die Meere uns Menschen abgenommen. Aber sie tun das nicht mehr in der gleichen Geschwindigkeit wie früher, wie eine bemerkenswerte Studie im vergangenen Sommer gezeigt hat.

Salopp gesprochen: Die Müllkippe – und so behandeln wir die Meere – ist langsam voll. Gleichzeitig schwächen sich elementare Meeresströmungen ab, die dabei helfen, das Kohlendioxid zu verteilen.

In der Antarktis beschleunigt sich die Schmelze

Die Antarktis, der eis- und schneebedeckte Kontinent am Südpol, war bisher ein klimawissenschaftlicher Sonderfall. Denn dort waren die Folgen der Erderwärmung nicht im gleichen Tempo zu beobachten wie an anderer Stelle. Mehr noch: Seit 1979 gab es in der Antarktis mehr Eis, nicht weniger.

Nun aber scheint es so, als ob auch die Antarktis vom Sonder- zum Normalfall wird. Dass die Antarktis schmelzen wird, sagten alle Modelle voraus und es lässt sich auch verstärkt beobachten.

Eine massive Eiswand ragt aus dem Meer, mit scharfkantigen Bruchstellen und Klüften im Gletscher. Im Vordergrund treiben kleinere Eisberge im ruhigen Wasser. Im Hintergrund sind schneebedeckte Berge zu sehen, die den eisigen, klaren Himmel ergänzen. Die Szene vermittelt die Kälte und die majestätische Stille der Polarregion.

Der Thwaites-Gletscher in der Antarktis | Quelle: Flickr/Felton Davies

Im Jahr 2022 erlebte die Antarktis den größten jemals gemessenen Tagessprung in Temperaturen an einer Wetterstation: 40 Grad Celsius. Der mächtige Thwaites-Gletscher schmilzt schneller als bisher gedacht. Das zeigte eine Studie im Mai. Im Juni folgten Untersuchungen anderer Wissenschaftler, die zu ähnlichen Ergebnissen für den Rest der Antarktis kamen.

Das ist wichtig, weil die Antarktis einer der bekannten Klimakipppunkte ist. Sie beherbergt genug Eis, um den Meeresspiegel um 60 Meter anzuheben. Gleichzeitig ist die Antarktis so etwas wie die Herzkammer der Weltmeere: Jeder große Ozean der Welt berührt sie. Was also dort geschieht, fernab von den großen Städten, hat Folgen für genau diese Städte.

Wir wissen nicht, wann und ob das antarktische Eis komplett schmilzt; es wird nicht in den nächsten Jahren geschehen. Doch die Tatsache, dass sich die Eisschmelze jetzt beschleunigt, ist die große Nachricht aus der Antarktis.

Das Klima reagiert eventuell sensibler auf CO₂ als bisher gedacht

Klimawissenschaftler:innen haben sich eine Zahl ausgedacht, mit der sie beurteilen können, wie stark sich das Klima erwärmt, wenn sich der CO₂-Gehalt der Atmosphäre verdoppelt. Diese Zahl nennen sie „Klimasensitivität“. Es ist am ehesten vergleichbar mit der als Wort unbekannten, aber als Konzept sehr bekannten Alkoholsensitivität: Wie viele Gläser verträgt jemand, bis er nicht mehr geradeaus laufen kann?

Über diese Frage debattieren die Klimawissenschaftler:innen gerade heftig.

Eine im Juni erschienene Studie wollte nun herausgefunden haben, dass das Erdklima viel anfälliger für CO₂ ist, als bisher angenommen. Die Klimasensitivität soll von den Modellen, die auch der Weltklimarat verwendet, systematisch unterschätzt worden sein. Dieser geht von 2,3 bis 4,5 Grad Celsius aus.

Mehr zum Thema

Die neue Studie schloss aus Untersuchungen des Meeresbodens eher auf 7 bis 14 Grad. Sie bauten damit auf Warnungen auf, die der bekannte Klimaforscher James Hansen zusammen mit Kolleg:innen im November 2023 aus ihren Forschungen ableiteten: In Wahrheit ist die Klimasensitivität höher als vom Weltklimarat angenommen. Die Rolle von Aerosolen sei bisher zu wenig beachtet worden (hier habe ich über Aerosole geschrieben). Die Studie von Hansen zog sofort Kritik nach sich, genauso wie die Meeresbodenuntersuchung. Die Schlussfolgerungen seien nicht von den Daten gedeckt.

Die nordatlantische Umwälzbewegung (AMOC) wird instabiler

Das ist das am emotionalsten diskutierte Thema, vielleicht, weil es mit dem Hollywood-Blockbuster „The Day After Tomorrow“ direkt an das globale popkulturelle Gedächtnis anknüpfen kann.

Ein, zwei kurze Erklärungen sind nötig, um die Emotionalität und die Debatte zu verstehen: In unseren Meeren wälzen gigantische Strömungen das Wasser um. Diese Strömungen transportieren Nährstoffe, Sauerstoff und Energie in Form von Wärme. Eine dieser Strömungen ist der Golfstrom.

Eine Karte des Nordatlantiks zeigt ozeanische Strömungen und ihre Temperaturen. Warme Strömungen wie der Nordatlantikstrom und der Norwegische Strom sind in Rot und Orange dargestellt, während kalte Strömungen wie der Labrador- und der Grönlandstrom in Blau und Grün erscheinen. Die Strömungen verlaufen um Grönland, Island sowie entlang der Küsten Europas und Nordamerikas. Warme Strömungen fließen nach Norden, kalte nach Süden.

Das Golfstromsystem im nördlichen Atlantik. Arctic Monitoring & Assessment Programme / gemeinfrei

Der Golfstrom wiederum unterteilt sich in mehrere Arme, wie du auf dem Bild sehen kannst. Diskutiert wird gerade vor allem über den nordatlantischen, unseren Arm, den AMOC. Es steht die These im Raum, dass der AMOC mit fortschreitender Erderwärmung stoppen könnte. Käme es dazu, wären die Folgen vor allem für Europa katastrophal, weil der Kontinent um mehrere Grade abkühlen würde.

Bisheriger Stand der Forschung war: Es ist unklar, ob er zusammenbricht und wenn er zusammenbricht, dann nicht vor dem Beginn des 22. Jahrhunderts. Mehrere Studien allerdings, eine aus dem Jahr 2023 und eine von 2024, haben berechnet, dass der Zusammenbruch bereits in zehn Jahren beginnen könnte. Und sie haben auch gezeigt, woran wir diesen Zusammenbruch erkennen könnten. Zwischen dem Jahr 2035 und dem Jahr 2064, das zeigen die Modelle in diesen Studien, könnte sich der AMOC entscheidend abschwächen. Diese Ergebnisse führten zu erregten Schlagzeilen, die nahelegten, dass bald eine Eiszeit über Europa hereinbricht.

Fast gleichzeitig twitterte der renommierte deutsche Klimaforscher Stefan Rahmstorf Ergebnisse von einem Workshop, auf dem neueste Arbeiten vorgestellt wurden. Diese zeigten, dass der sogenannte subpolare Wirbel im nördlichen Atlantik bereits Mitte der 2030er Jahre mit einer Wahrscheinlichkeit von 35 bis 45 Prozent beginnt zusammenzubrechen. Dieser Tweet schob die Debatte weiter an.

Dabei ist Differenzierung wichtig: Der subpolare Wirbel ist nicht der ganze AMOC, und der AMOC ist nicht der ganze Golfstrom; es ist ein kleinerer Nebenarm im Golfstrom-System.

Zudem lässt sich seriös mit bestehenden Daten und Modellen überhaupt nicht sagen, wann und ob ein Kipppunkt erreicht wird, wie eine Studie zeigte, die als Antwort auf die vorherigen Untersuchungen geschrieben wurde. Darin schreiben die Autor:innen, dass die Modelle nur einen Zeitraum zwischen dem Jahr 2053 und 8065 nennen könnten.

Mit anderen Worten: Die statistische mögliche Spanne ist so groß, dass Vorhersagen sinnlos sind.

Aber, und das macht die ganze Debatte um den AMOC so kompliziert: dass er kippen kann, halten alle Forschenden für realistisch. Und wenn er kippt, wäre das katastrophal. Allerdings begründeten viele von ihnen in Interviews auch, warum sie sich überhaupt mit dem Thema beschäftigten.

Sie wollen, dass die Menschheit die Erderwärmung ernst nimmt.

Denn je weniger Emissionen wir ausstoßen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit für katastrophale Veränderungen im AMOC. Dass das möglich ist, zeigt die andere große Klimastory, die nichts direkt mit unserem Erdsystem zu tun hat, sondern mit uns Menschen.

Alle Daten zeigen: Wir kommen voran im Kampf gegen die Klimakrise.


Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Die Antarktis ist das unterschätzteste Klimaproblem

0:00 0:00

Einfach unterwegs hören mit der KR-Audio-App