Collage: Raul Krauthausen vor dem gefluteten Ahrtal

Thomas Lohnes/Getty Images | Anna Spindelndreier

Klimakrise und Lösungen

Kommentar: Diese Umweltpolitik schadet Menschen mit Behinderung

Die meisten sind sich einig, dass die Klimakrise bekämpft werden muss. Nur: Wenn dieser Kampf so weitergeht, wird die Klimakrise vor allem behinderte Leben fordern.

Profilbild von Raúl Krauthausen
Freier Autor

Juli 2021, endlich wird in der gesamten EU eine praktikable Lösung für den Klimaschutz rechtswirksam. Doch es handelt sich nicht etwa um ein Verbot von Verbrennermotoren, eine Reduktion von fossilen Energien oder eine Begrenzung von industriellem Schadstoffausstoß.

Die Lösung für unsere Probleme lautet: Plastikstrohhalm-Verbot.

Was wie ein kleiner (und vielleicht lächerlicher) Schritt für die Menschheit in Richtung Klimaneutralität daherkommt, ist ein großer Rückschritt für die Behinderten-Community. Viele Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, Muskelerkrankungen oder Spastiken sind auf die Verwendung von Plastikstrohhalmen angewiesen. Ohne diese Strohhalme können viele Menschen mit Behinderung ihren Alltag nicht bewältigen.

Die Community reagierte mit Protest. Nur um von nicht-behinderten Menschen über Alternativprodukte belehrt zu werden. Natürlich kennen auch wir das große Angebot aus Metall, Glas, Papier, Bambus, Nudeln oder Silikon. Doch glaubt uns, wenn wir sagen, dass keine dieser Alternativen eine echte Alternative ist.

Metallstrohhalme lassen sich nicht biegen. Sie bergen ein Allergierisiko oder sogar eine Verletzungsgefahr. Denn wenn jemand eine Spastik hat, schneidet er sich daran den Mund auf oder beißt sich einen Zahn aus. Wie gefährlich Halme aus Glas in einem solchen Fall wären, bedarf wohl kaum einer Erklärung. Bambus ist ebenfalls unflexibel und zudem sehr teuer. Silikon wird schnell unhygienisch und, so biegsam es ist, es ist im Vergleich zu Plastik doch ein recht schweres Material, was beispielsweise für Menschen mit Muskelerkrankung eine Schwierigkeit bei der Benutzung darstellt. Außerdem bleibt der Knick, der bei Plastik mit optimalem Winkel zum Mund eingestellt werden kann, bei Silikon nicht bestehen. Dies ist jedoch für Menschen mit Mobilitätsproblemen essenziell.

Und was ist mit Papier? Ebenfalls nicht mit Knick einstellbar. Zudem lösen sich die Halme nach kurzem Gebrauch auf und bergen so ein zusätzliches Risiko, sich zu verschlucken. Heiße Getränke werden zur Gefahr und funktionieren auch mit Acryl- oder Nudel-Strohhalmen nicht. Plastikhalme sind immer noch die beste Lösung. Sie sind günstig, hygienisch, mehrfach verwendbar, sie haben – im Idealfall – einen Knick, bergen kein Verletzungsrisiko und lassen sich mit den Zähnen problemlos festhalten. Für viele Menschen mit Behinderung gibt es also keine wirkliche Alternative.

Uns bringt das in eine schwierige Lage. Gerne möchten wir dazu beitragen, den Klimawandel zu bekämpfen. Doch Lösungen, die für uns nicht funktionieren, können wir kaum mittragen. Viele Menschen mit Behinderungen bestellen sich aus dem nicht-europäischen Ausland weiterhin ihren Vorrat an Plastikstrohhalmen. Doch damit fallen wir negativ auf.

Wir werden zu Klimasündenden gemacht, die wir nie sein wollten.

Das Problem betrifft nicht nur Trinkhalme. Ein neues, wie ich finde sinnvolles, Bestreben geht dahin, Abgase in den Innenstädten reduzieren zu wollen. Menschen sollen dazu gebracht werden, auf den öffentlichen Nahverkehr umzusteigen. Doch der ÖPNV ist oft nicht barrierefrei. Teilweise kommen Rollstuhlfahrende gar nicht erst in die Busse oder Bahnen, anderen wird die Mitnahme verweigert. Viele behinderte Menschen bleiben somit immobil – oder sie nutzen das Auto.

Selbst E-Mobilität ist schwierig, denn die neue Infrastruktur an E-Ladesäulen ist nicht barrierefrei konzipiert. Rollstuhlfahrende beispielsweise kommen oft gar nicht an die Steckdosen und das Bedienfeld zum Bezahlen heran. Entweder weil diese zu hoch sind oder die Säulen an einer extra hohen Bordsteinkante mit Poller installiert sind, damit sie vor Zusammenstößen mit einem Auto geschützt sind. Zudem sind in der Regel die Parkplätze zu klein, um mit dem Rollstuhl um das Auto zu fahren.

Die beste Alternative für uns sind Autos mit Verbrennungsmotor. Wenn wir das Auto nehmen, tragen wir damit aber zwangsläufig zu mehr Schadstoffausstoß bei. Wir können es also gar nicht richtig machen.

Menschen mit Behinderung sitzen nicht mit am Tisch

Wenn wir Gremien betrachten, die solche Lösungen erarbeiten, fällt eine Sache auf: Nur selten finden wir behinderte Menschen vor, die prüfen, ob die Vorschläge auch für Menschen mit Behinderungen funktionieren. Menschen mit Behinderungen werden in Sonderschulen und Werkstätten abgeschoben. Das führt dazu, dass die Stimme Betroffener in Entscheidungsräumen ausbleibt. Es ist aber extrem wichtig, dass Menschen mit Behinderung mitentscheiden können. Denn ihre Perspektive ist andernfalls, wie wir sehen, die letzte, die genannt und die erste, die vergessen wird.

Auch, wenn es um die Klimakrise geht.

Wenn behinderte Menschen beim Erarbeiten von grünen Lösungen und Schutzkonzepten vergessen werden, spricht man von Ökoableismus. Die Journalistin Andrea Corinna Schöne definiert ihn als die „Nichtbeachtung der Lebenswelt von Menschen mit Behinderung in Umweltfragen und Nachhaltigkeit“ sowie als die „Missachtung der Schwierigkeiten behinderter Menschen, ökologisch zu leben“. Das mag in Sachen Strohhalme oder Nahverkehr noch relativ harmlos wirken, doch im Katastrophenfall kann diese Ignoranz behinderte Menschen das Leben kosten.

Wenn unsere Perspektive vergessen wird, kann das Leben kosten

Bei der Flutkatastrophe im Ahrtal im Sommer 2021 starben zwölf Bewohner*innen einer Einrichtung der Lebenshilfe in den Fluten. Obwohl vor der Flut gewarnt wurde, wurden diese Menschen nicht rechtzeitig evakuiert. Sie ertranken qualvoll. Allein an diesem Vorfall zeigt sich ein komplexes Cluster aus vielen Formen struktureller Benachteiligung, das die Gefahr im Notfall potenzierte.

Das Leben behinderter Menschen spielt sich oft in der Parallelstruktur ab. In Behindertenwohnheimen zum Beispiel können die Bewohner*innen oftmals nicht selbstbestimmt ihr Leben gestalten. Eine hohe Anzahl an Bewohner*innen werden zu oft von zu wenig Personal betreut und individuelle Wünsche nach Selbstbestimmung, wann (und was) gegessen oder getrunken wird, wann auf die Toilette, wann zu Bett gegangen wird, können nicht berücksichtigt werden. In der Nacht der Ahrtal-Katastrophe war ein Pfleger allein im Dienst und musste die 38 Bewohner*innen ohne Hilfe evakuieren. Individuelle Wünsche, am Leben zu bleiben, konnten nicht berücksichtigt werden.

Behinderten Menschen fehlen oft wichtige Informationen

Wie werden behinderte Menschen überhaupt über drohende Katastrophen informiert? Viele Behörden achten kaum darauf, dass Informationen über Pegelstände beispielsweise barrierefrei und selbstbestimmt zugänglich sind. Selbst Informationen der Bundesregierung sind, trotz Richtlinien zur digitalen Barrierefreiheit, gar nicht oder nur unzureichend barrierefrei nachzuvollziehen. Die Tagesschau wird mit Dolmetschung für deutsche Laut- und Gebärdensprache nur auf Phoenix ausgestrahlt. Phoenix in Standard-Definition (SD) ist jüngst von der ARD abgesetzt worden und ist nur noch für Geräte verfügbar, die HD-fähig sind. Selbst barrierefreie Informationen werden so mit einer Barriere versehen, die nicht alle Menschen überwinden können. So sind viele Menschen mit Behinderungen mit notwendigen Informationen unterversorgt, um sich gegebenenfalls selbst in Sicherheit zu bringen.

Wer behindert ist, hat ein höheres Risiko, arm zu sein

Das Armutsrisiko von Menschen mit Behinderung liegt bei 20 Prozent und somit überdurchschnittlich hoch. Grund dafür sind exklusive Strukturen, die Menschen mit Behinderungen vom gesellschaftlichen Leben ausschließen. Wenn behinderte Kinder in Förderschulen gesteckt werden, bleibt ihnen ein gleichberechtigter Zugang zu Bildung und späteren Arbeitsmöglichkeiten verwehrt. Statt auf dem ersten Arbeitsmarkt inkludiert zu werden, kommen sie als Beschäftigte in Werkstätten unter. Dort verdienen sie durchschnittlich 1,35 Euro pro Stunde und damit weit weniger als den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn.

Darüber hinaus unterliegen Menschen, die auf Leistungen der Eingliederungshilfe angewiesen sind, Einkommenslimitationen und dürfen nur ein begrenztes Vermögen ansparen. Wer zu viel verdient oder zu viel Vermögen hat, muss einen Eigenanteil an den Leistungsträger entrichten, was eine zusätzliche finanzielle Belastung darstellt. Das Leben als behinderter Mensch ist zudem mit Zusatzkosten versehen, die in der Community als Crip-Tax, also als Krüppelsteuer, bezeichnet werden. Dazu zählen Kosten für barrierefreie Mobilitäts- oder Transportoptionen, Hilfsmittel und Medikamente, die nicht von der Kasse übernommen werden, oder für notwendige Technologien.

Ein Haushalt mit einer behinderten Person braucht im Durchschnitt etwa 28 Prozent mehr Einkommen als ein vergleichbarer Haushalt ohne behinderte Menschen. Frauen mit Behinderung sind im Vergleich von Menschen mit und ohne Behinderung die finanziell am schlechtesten gestellte Gruppe.

Behinderung und Armut bilden einen Teufelskreis, der sich gegenseitig bedingt und aufrechterhält. Im Katastrophenfall potenziert sich durch ihn das Risiko. Armen Menschen stehen nicht dieselben Möglichkeiten, Informationen, Hilfsmittel oder Ressourcen zur Verfügung, um sich in Sicherheit zu bringen. Mit einem funktionierenden Rollstuhl ist eine Flucht besser möglich als mit einem alten oder kaputten – oder ohne Rollstuhl.

Ich kann im Brandfall nicht die Treppe runterlaufen

Wer kennt sie nicht, die Schilder an Aufzügen: „Im Brandfall nicht benutzen“. Klar, wenn das Gebäude brennt, nimmt man die Treppe. Doch wie ist der Plan für Menschen, für die Treppen keine Option sind? Wo sind weitere Hinweise, wie Menschen im Rollstuhl sich im Brandfall in Sicherheit bringen können? Diese Schutzkonzepte fehlen. Und sie fehlen nicht nur bei Aufzügen, sondern werden für viele Notlagen nicht mitkonzipiert.

Für die Flut im Ahrtal gab es kein Evakuierungskonzept, auch wenn es in Anbetracht der Flutwarnungen, die einige Stunden zuvor eintrafen, noch rechtzeitig hätte erarbeitet werden können. Stattdessen wurden Warnungen ignoriert und die Bewohner*innen ihrem Schicksal überlassen. Im Nachhinein übernahm die Lebenshilfe keine Verantwortung für die fahrlässigen Tode. Sie schob die Schuld auf die Behörden und die Politik und zeigte auch im Nachgang keine Initiative, Schutzkonzepte für behinderte Menschen aufzusetzen.

Meine Behinderung ist kein Negativfaktor

„Euthanasie ist die Lösung“ stand auf einem Stein, der dieses Jahr im Mai auf ein Wohnheim der Lebenshilfe in Mönchengladbach geschmissen wurde. Der mutmaßlich rechtsextrem motivierte Angriff erinnert an das von Adolf Hitler 1939 eingeführte Euthanasieprogramm. Dieses sollte die sogenannte arische Rasse von behindertem Leben bereinigen. Hunderttausende Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen wurden im Rahmen des Programms ermordet. Der Angriff in diesem Jahr zeigt, wie nahe knapp 80 Jahre nach Kriegsende noch immer die Abwertung behinderten Lebens liegt.

Diese Abwertung zeigt sich auch in den oben aufgeführten strukturellen Versäumnissen. Behindertes Leben hat im Kampf gegen die Klimakrise keine politische Priorität. Informationen, Schutzkonzepte, Barrierefreiheit, finanzielle Ressourcen sind Pfeiler der Selbstbestimmung und des Schutzes behinderten Lebens. Doch davon sind wir weit entfernt. Behinderte Menschen sind nicht rettungswürdig, sondern entbehrlich.

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Wer diese Aussage überspitzt findet, braucht nur auf die Pandemie zurückzublicken. Die ursprüngliche Triage-Regelung sah vor, dass zur Abschätzung von Behandlungserfolgen die Behinderung pauschal als Negativfaktor gewichtet werden sollte. Im Zweifel wären selbst behinderten Menschen in guter körperlicher Verfassung überlebenswichtige Behandlungen entzogen oder verwehrt worden. Allein, weil unsere Aktionsgruppe Ability Watch eine Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht und Recht bekommen hat, wurde diese Regelung geändert. Aber es zeigt wieder: Wenn wir uns nicht selbst für unser Überleben starkmachen, tut es sonst niemand.

Wir müssen es zu einer Selbstverständlichkeit machen, in Entscheidungsräumen auch die Perspektive von behinderten Menschen einzufordern. Denn überall dort, wo sie vergessen oder übergangen wird, kann es behinderte Menschen das Leben kosten. Und überall dort, wo sie gehört wird, profitieren auch nicht-behinderte Menschen. Niemand beschwert sich über funktionierende Aufzüge oder Fluchtwege ohne Hindernisse. „Nichts über uns ohne uns“ lautet ein Leitspruch der Behindertenbewegung. Oder noch besser: Nichts ohne uns!


Mehr Informationen zu Raul Krauthausen:

Seine Website: raul.de

Und seine Social Media Accounts:


Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Diese Umweltpolitik schadet Menschen mit Behinderung

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