Während sich viele Menschen über eine immer heißere Welt sorgen, vernachlässigen sie die Biodiversitätskrise. Dabei wird sie von Expert:innen sogar als existenziellere Gefahr eingestuft als der Klimawandel: Denn ohne biologische Vielfalt gäbe es kein sauberes Trinkwasser, keinen fruchtbaren Boden und keine Nahrungsgrundlage. Das klassische Beispiel: Ohne die Wildbienen fehlen wichtige Bestäuber und die Obst- und Gemüseernten brechen ein. Dass wir uns bereits mitten im Massenaussterben befinden, zeigen die immer länger werdenden roten Listen von bedrohten Tier- und Pflanzenarten. Hier habe ich genau erklärt, was die Biodiversitätskrise ist und warum sie jeden etwas angeht.
Eine der wichtigsten Maßnahmen, um die biologische Vielfalt zu erhalten, sind Schutzgebiete – also Zonen, in denen die menschlichen Einflüsse beschränkt und gefährdete Arten gezielt erhalten werden können. Bisher stehen weltweit 7,7 Prozent der Meere und 16,2 Prozent der Landflächen unter Schutz. Längst nicht genug, sagen die Wissenschaftler:innen der US-amerikanischen E.O. Wilson Biodiversity Foundation. Gemeinsam mit der Yale Universität ermitteln sie im „Half-Earth Project“, welche Gebiete auf der Erde besonders schützenswert sind. Und schlagen vor, die Hälfte der Erde unter Schutz zu stellen. Ich habe mit dem Umweltschützer und Programmdirektor der Stiftung, Brooks Bonner, darüber gesprochen, wie das funktionieren soll.
Über das Half-Earth-Project
Das „Half-Earth Project“ ist das Kernprogramm der gemeinnützigen E.O. Wilson Biodiversity Foundation, die 2005 in Anlehnung an den US-amerikanischen Biologen und Naturschützer Edward O. Wilson gegründet wurde. Neben Bildungsarbeit und Unterstützung von Wissenschaftler:innen liegt der Fokus vor allem auf der Half-Earth-Project Map. In Zusammenarbeit mit der Yale Universität wird dort unter anderem visualisiert, wo bestimmte Arten vorkommen und welche menschlichen Einflüsse es gibt, um so gezielte Maßnahmen für den Naturschutz zu unterstützen.
Ihr fordert mit dem Half-Earth-Project, dass die Hälfte der Erde unter Schutz gestellt wird. Jahrelang hat die Weltgemeinschaft darüber gestritten, ob man mehr Schutzgebiete ausweisen sollte. Im November 2022 kam es dann zu einer historischen Einigung: Bis 2030 sollen 30 Prozent der weltweiten Ökosysteme an Land und Meer unter Schutz gestellt werden. Damit könnt ihr doch nicht zufrieden sein.
Es ist großartig, dass es mit dem Montreal-Abkommen ein messbares Ziel gibt, auf das sich fast alle Länder geeinigt haben. Dreißig Prozent der Land- und Meeresfläche bis 2030 unter Schutz zu stellen, geht auf jeden Fall in die richtige Richtung. Wenn wir den Großteil der Arten auf unserem Planeten erhalten wollen, brauchen wir aber noch mehr Schutzgebiete, die vor allem auch gut betreut werden müssen.
Wie kommt ihr auf die Hälfte der Welt?
Die Idee für das Half-Earth Project entstand ursprünglich durch das Buch „Half-Earth: Our Planet’s Fight for Life“ des US-amerikanischen Biologen Edward O. Wilson. Er erklärt darin, dass wir, wenn wir die Hälfte der Erde unter Schutz stellen, sowohl mindestens 85 Prozent aller Spezies als auch unsere eigene Lebensgrundlage sichern können. Im Moment zeigen die Berechnungen, dass wir bis Ende des Jahrhunderts die Hälfte aller Arten verlieren. Heute funktionieren viele Schutzgebiete wie kleine, isolierte Inseln. Damit Arten aber vielfältig und widerstandsfähig sind, müssen die Schutzgebiete größer und miteinander verbunden sein. Auf dieser Basis haben wir 2016 das Half-Earth-Project gestartet. Uns ist aber klar, dass 50 Prozent ein sehr hochgestecktes Ziel sind. Es ist als „Moonshot“ gedacht, etwas, das Hoffnung macht und das Beste in der Menschheit inspiriert.
Wie wollt ihr dieses 50-Prozent-Ziel denn erreichen?
Bei unserer Arbeit geht es insgesamt weniger um die tatsächliche Umsetzung, sondern vor allem darum, Informationen bereitzustellen. In Zusammenarbeit mit dem Yale Center for Biodiversity and Global Change stellen wir die frei zugängliche „Half-Earth Project Map“ bereit. Es ist eine dynamische Weltkarte und ein Tool, um zu zeigen, wo standortspezifische Artenschutzmaßnahmen am dringendsten benötigt werden, um die Arten der Erde, einschließlich unserer eigenen zu schützen. An der Karte können sich Fachleute, Regierungen, Gemeinden und indigene Gruppen orientieren, um selbst wirksame Erhaltungsstrategien in ihren Regionen umzusetzen.
Ihr zeigt, was besonders schützenswert ist?
Ja, dafür nutzen wir bestimmte Indikatoren, die man sich auch auf der Karte anschauen kann. Unter anderem kann man dort sehen, wo welche Tierarten vorkommen, ob menschliche Aktivitäten, beispielsweise Bergbau oder Landwirtschaft, stattfinden und was schon unter Schutz steht. Für jedes Land kann man sich auch die Top zehn Prozent der Gebiete anzeigen lassen, die besonders schützenswert sind. Generell ist es sinnvoll, intakte Ökosysteme frühzeitig zu erkennen und zu schützen. Geschädigte Ökosysteme wiederherzustellen ist zwar auch wichtig, aber sehr aufwändig und teuer. Außerdem sollten wir als Menschen nicht so naiv sein, zu denken, dass wir all die komplexen Zusammenhänge in der Natur verstehen und eins zu eins duplizieren können. Zum Beispiel wenn ein trockengelegtes Moor wiedervernässt wird: Das übernimmt zwar wieder wichtige Funktionen, wie beispielsweise CO2 zu speichern, es wird nie ganz so, wie es ursprünglich war. Die komplexen ökologischen Prozesse und die jahrhundertealte Entwicklung lassen sich nicht einfach zurückdrehen. Am sinnvollsten ist es also, die noch intakten Ökosysteme zu bewahren.
Woher bekommt ihr die Daten für eure Karte?
Dafür arbeiten wir mit vielen unterschiedlichen Organisationen zusammen. Die Daten für die Half-Earth-Map stammen von unseren Partnern der Yale University, die ihre Informationen von wissenschaftlichen Expert:innen und Fernerkundungsquellen, wie Satelliten, bekommen sowie von Citizen-Science-Projekten, beispielsweise der Vogelbeobachtungs-App eBird.
Welche Hälfte der Erde sollte unter Schutz gestellt werden?
Es ist besonders wichtig, endemische Arten, die nur in einem bestimmten Gebiet vorkommen, zu schützen. Regionen in den Tropen, wie der Amazonas, das Kongobecken und Südostasien, sind extrem vielfältig und beherbergen den Großteil der Pflanzen und Tiere. Daher sind sie besonders wichtig für den Artenschutz. Im Gegensatz dazu haben beispielsweise polare Gebiete oder Wüsten kaum biologische Vielfalt.
Das würde bedeuten, dass biodiversitätsarme Industrieländer wie Deutschland wenig zu tun hätten, während die Länder des globalen Südens viele Schutzgebiete ausweisen und damit mehr Verantwortung übernehmen müssten. Ist die Verantwortung nicht sehr unfair verteilt?
Das stimmt. Deshalb sollten wir verschiedene Wege finden, um Naturschutz zu finanzieren, besonders so, dass lokale Gemeinschaften davon profitieren. Und es ist wichtig, alle Beteiligten einzubeziehen, seien es indigene Gruppen, lokale Gemeinschaften oder Kommunalverwaltungen. Genau das ist auch Teil unserer Rolle: Wir wollen durch technisches Know-how und Informationen unterstützen, damit Länder Fortschritte machen können, die nicht über die gleichen Ressourcen verfügen wie Europa oder Nordamerika. Sie sollen in der Lage sein, die Arten zu schützen, die am stärksten bedroht sind. Am Ende sollten wir ein Gleichgewicht zwischen Naturschutz und Entwicklung finden, also einen „produktiven“ Naturschutz fördern.
Was meinst du damit?
Zum Beispiel haben wir vor Kurzem mit der ecuadorianischen Nonprofit-Organisation Fundación Paisajes Sostenibles (PASOS) zusammengearbeitet, die in der Esmeraldas Provinz gemeinsam mit der Landesverwaltung ein neues Schutzgebiet umgesetzt hat. Dafür haben wir einen sogenannten „Biodiversitäts-Snapshot“ für das Gebiet erstellt, auf denen man einen schnellen Überblick über die Arten und ihren Zustand bekommt. Das nutzt PASOS, um effektive Schutzmaßnahmen zu erarbeiten, Finanzierungsanträge zu stellen und mit verschiedenen Stakeholdern zu kommunizieren. Das Schutzgebiet hilft aber nicht nur den über 200.000 Hektar Regenwald, sondern auch den lokalen afro-ecuadorianischen Gemeinden, die von der nachhaltigen Nutzung der Ressourcen profitieren und gleichzeitig das Gebiet schützen.
Es sollen also in den Schutzgebieten auch Menschen leben können?
Genau und ich glaube, es ist sehr wichtig, das Narrativ über Schutzgebiete zu verändern. Es geht nicht darum, einfach Land abzusperren und Menschen fernzuhalten. Viel eher brauchen wir diesen produktiven Naturschutz, bei dem wir lokale Gemeinschaften und indigene Gruppen mit einbeziehen, damit sie die natürlichen Ressourcen effektiv verwalten können. Diese Menschen wissen oft ganz genau, wie man die Umwelt nachhaltig nutzt, weil sie schon seit Generationen dort leben. Es geht also darum, dass Naturschutz nicht als Hindernis, sondern als Möglichkeit gesehen wird, Gemeinschaften zu stärken und ihre Ressourcen für die Zukunft zu bewahren.
Sowohl um das 30-Prozent-Ziel als auch ein 50-Prozent-Ziel zu erreichen, müssen alle Länder mithelfen. Was muss Deutschland konkret tun?
Im Gegensatz zu vielen tropischen Gebieten existieren in Deutschland nicht so viele Arten mit begrenztem Verbreitungsgebiet. Das heißt, viele der Pflanzen und Tiere in Deutschland findet man auch in anderen Ländern, wo sie möglicherweise gut geschützt sind. Insgesamt hat Deutschland schon viel dafür getan, um verschiedene Lebensräume als Schutzgebiete auszuweisen. Der nächste wichtige Schritt ist zu überprüfen, wie gut diese Arten tatsächlich geschützt werden. Ein gutes Management und die Überwachung der Arten in diesen Schutzgebieten sind entscheidend, um ihre langfristige Überlebensfähigkeit zu gewährleisten.
Gibt es etwas, das ich persönlich tun kann, um dabei zu helfen?
Am meisten lohnt es sich, mit dem eigenen Balkon oder Garten anzufangen. Statt auf Monokulturen oder Rasenflächen zu setzen, kannst du Blumen, Sträucher und Bäume pflanzen, die in deiner Region heimisch sind. So kann man sich aktiv mit der Natur auseinandersetzen und gleichzeitig einen kleinen Beitrag zur Unterstützung der natürlichen Nahrungsnetze leisten. Und weil isolierte Gärten nicht reichen, überzeugst du am besten deine Nachbar:innen und deine Gemeinde von der Artenvielfalt.
Redaktion: Brigitte Wenger, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger