Hast du zufällig 1.214 Milliarden Euro?
Nein?
Kennst du jemanden, der 1.214 Milliarden Euro hat?
Auch nicht?
Tja, Pech gehabt.
Dann kann sich Deutschland die Energiewende nicht leisten.
Das Berliner Boulevardblatt Bild fragte Anfang Mai vermeintlich offen, aber doch tendenziös:
Das ist eine trickreiche Frage.
Denn Energiewende-Gegner und Fans fossiler Kraftstoffe rechnen alles Geld, das irgendwo in die Energiewende fließt, zusammen. Egal, wer es zahlt, egal, was damit angeschafft wird und geben das dann als die „Kosten der Energiewende“ aus.
Sie tun also so, als ob dieses Geld einfach verpuffen würde und für immer verschwunden wäre. Fast so, als würde man dieses Geld tanken und in einem Motor verbrennen.
Aber damit lügen sie. Es ist eine von zwei Kosten-Lügen über die Klimakrise und Energiewende.
Keine Kosten, sondern Investitionen
Die Zahl von 1.214 Milliarden stammt aus einem Bericht der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young und des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft. Darin haben sie alles Geld zusammengerechnet, das in die Netze, die Stromerzeugung, ins Fernwärme-Netz, in Speicher und Wasserstoff fließen muss, damit Deutschland seine Energiewende-Ziele auch wirklich erreicht.
Dieses Geld zahlst nicht du. Und dieses Geld sind auch keine Kosten, sondern Investitionen.
Wer investiert, tut das mit Aussicht auf einen Ertrag – und genau daraus besteht die Lüge. Wenn die Bild fragt, ob Deutschland sich das „leisten könne“, ist das, als ob man einen 100.000-Netto-Gutverdiener fragen würde, ob er sich denn seine Altersvorsorge leisten könne.
Es gibt auch ein Gegenstück zu dieser Lüge.
Keine Kosten, sondern Investitionen
Seit Jahrzehnten schon warnen Klimawissenschaftler davor, dass die Klimakrise den Wohlstand der Menschen gefährden wird. Dafür haben sie zunächst aus der dafür zuständigen Fachrichtung, der Ökonomie, sehr viele Lacher bekommen.
Lange Zeit ging der Mainstream der Wirtschaftswissenschaften in seinen Modellen davon aus, dass die Klimakrise wenig bis gar keinen Effekt auf unseren Wohlstand haben werde. Er begründete das unter anderem damit, dass es ja schließlich auch kein nennenswertes Wohlstandsgefälle zwischen Alaska und Florida gäbe.
Richard Tol, einer der Wortführer dieser Theorie, sagte 2019, dass die Menschheit einfach „nach drinnen ziehen müsse, so wie die Saudis“, sollte sich die Erde um 10 Grad erwärmen.
Die Bild oben hat Kosten erfunden, die es so nicht gibt, weil es eigentlich Investitionen sind und diese nicht allein vom deutschen Steuerzahler gestemmt werden müssen.
Ich musste kopfschütteln
Aber Leute wie Richard Tol verschweigen Kosten, die es tatsächlich gibt.
Dürren, Starkregen, Produktivitätsverluste bei Hitze, überdehnte Infrastruktur – all das verursacht tatsächliche Kosten, weil ein Hitzeschlag eben keine produktive Investition in die Wohlfahrt der Nation ist.
Jahrelang stand ich kopfschüttelnd daneben, wie ausgerechnet Ökonomen, die zu allem und wirklich jedem Thema eine oft genuin interessante Meinung haben könnten, den Klimawandel so herunterspielen konnten.
Ein Problem: Die ganze Disziplin hat den Klimawandel einfach ignoriert. Das zeigt eine Auswertung ökonomischer Studien von Voxeu: Nur 0,074 Prozent aller Artikel in den neun wichtigsten wirtschaftswissenschaftlichen Zeitschriften.
Ein anderes Problem: Die Modelle, mit denen Ökonomen arbeiten, waren nicht up to date.
Sie basierten nicht auf den neuesten Erkenntnissen der Klimawissenschaft, sondern auf idealisierten Annahmen über den vermeintlich rationalen Menschen und den technischen Fortschritt.
Diese Modelle ändern sich aber gerade.
Zwei neue Studien haben in den vergangenen Monaten für Aufsehen gesorgt. Ein Forscherteam aus Potsdam hat berechnet, dass die Klimakrise weltweit Schäden von bis zu 38 Billionen Dollar verursachen wird. Schon jetzt seien 19 Prozent Einkommenssverlust bis 2050 sicher.
Ein US-Duo wiederum hat gerade eine Vor-Studie veröffentlicht, in der sie mit einem neuen, realistischeren Rechenmodell auf andere Zahlen als bisherige Studien kommen. Sie schreiben:
- Klimaschäden sind „Sechs Mal größer als bisher angenommen“
- Jeder zusätzliche Grad vernichtet 12 Prozent des globalen BIP
- Jede Tonne CO₂ verursacht Schäden von mehr als 1.000 Dollar
Sind diese Zahlen korrekt, bis auf die fünftletzte Stelle hinter dem Komma? Eher nicht, weil zu viele Variablen im Spiel sind.
Aber: Die beiden Studien gehen im Gegensatz zu früheren Arbeiten von realistischen Annahmen über die tatsächlichen Folgen der Klimakrise aus.
Das ist wichtig, weil wirtschaftswissenschaftliche Modelle nicht nur an Unis verwendet werden, sondern in eigentlich allen Büros, wo die Ressourcen unserer Gesellschaft verwaltet werden, im Weißen Haus, im Kanzleramt, in den Vorstandsetagen von Unternehmen etwa.
Erst, wenn diese Modelle dort realistischer werden, können wir über wahre Kosten sprechen.
Wie viel Zeit uns die Ignoranz der Wirtschaftswissenschaften im Kampf gegen die Klimakrise gekostet hat, kann ich nicht sagen, aber der Ökonom Steve Keen, mit dem ich einmal ein Interview geführt habe, hatte eine Vermutung:
„Hätten sich Ökonomen nicht eingemischt, wären wir zwanzig Jahre weiter!“
Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Isolde Ruhdorfer, Bildredaktion: Rico Grimm