Ein rotes Meer, in dem ein Graph liegt

Eigene Collage mit Inés Álvarez Fdez/Unsplash

Klimakrise und Lösungen

Es wird langsam wärmer, aber schneller schlimmer

Denn das Klimasystem ist wie eine Ketchupflasche.

Profilbild von Rico Grimm
Politik- und Klimareporter

Wir leben in einem besonderen klimatischen Moment. Das bekommen gerade immer mehr Menschen mit. Aber nicht genug Menschen beachten eine verzwickte Eigenschaft des Klimasystems. Sie wird immer wichtiger, jetzt, wo die Klimakrise voranschreitet.

Es wird langsam wärmer, aber schneller schlimmer. Anders gesagt: Temperaturen steigen gleichmäßig-linear. Die Folgen der Klimakrise dagegen werden exponentiell schlimmer.

Das bedeutet, dass wir noch nicht erlebt haben, was schon jetzt so gut wie sicher eintreten wird. Das hört sich kompliziert an, ist es aber nicht. Denn jeder von uns kennt dieses Prinzip.

Jedenfalls jeder Mensch, der schon einmal versucht hat, aus einer Ketchupflasche gerade die richtige Menge Ketchup herauszukriegen, ohne ein Messer dafür zu benutzen.

Die Energie von vier Hiroshima-Bomben

Du nimmst die Flasche und schüttelst sie. Es passiert nichts. Du schüttelst heftiger: wieder nichts. Du brauchst mehr Kraft, schüttelst noch heftiger und da platscht der Ketchup in solch einer Menge auf den Teller, dass du spontan und etwas verlegen in die Runde der Grillfreunde fragen musst, „ob nicht zufällig noch jemand Ketchup braucht.“

Die Ketchupflasche ist das Klimasystem. Und das Schütteln, das sind wir Menschen und unsere Treibhausgas-Emissionen. Seit mehr als 200 Jahren heizen wir den Planeten auf und fügen dem Erdsystem immer mehr Energie hinzu. Um genau zu sein, fügen wir dem Erdsystem jede Sekunde die Energie von vier Hiroshima-Bomben zu.

Jahrzehntelang haben wir das in unserem Alltag kaum bemerkt. Nur wer ganz genau hinschaute, mit Messstationen auf Hawaii oder Satellitenscans des antarktischen Eises, merkte, dass sich das Erdsystem verändert.

Inzwischen werden die Folgen immer deutlicher und wir müssen uns auf eine unangenehme Wahrheit vorbereiten: Die Folgen der Klimakrise werden nicht langsam schlimmer werden. Sondern eher von heute auf morgen. So wie der Ketchup von jetzt auf gleich aus der Flasche spritzt.

Das ist Nicht-Linearität; oder wenn Dinge plötzlich völlig anders werden. Das ist der Grund, warum die Experten immer wieder rufen, dass jedes Grad zählt. Denn jedes Grad mehr verstärkt diesen sich ohnehin schon selbst verstärkenden Prozess noch weiter.

Deswegen ist es eben nicht das Gleiche, wenn sich die Erde von 0 Grad auf 1 Grad und dann von 1 Grad auf 2 Grad erwärmt.

Das bedeutet: Wir stehen erst am Anfang der katastrophalen Klimakrisenfolgen.

Aktuell sieht es so aus, dass wir 2,8 Grad Erderhitzung gegenüber der vorindustriellen Zeit erreichen; das zeigt das blaue Band in dieser Grafik. Schon jetzt stehen wir bei 1,1 Grad Erderwärmung. Der grüne Pfad markiert das Paris-Szenario.

Eine Grafik, die verschiedene Prognosen gibt

Noch ein gutes Beispiel

Es gibt abseits der Ketchupflasche noch ein weiteres sehr eingängiges Beispiel, um zu verstehen, warum es zwar nur langsam wärmer, aber schneller schlimmer werden kann.

Ein Deich!

Eine große Flut kommt.

Szenario 1: Deich hält. Alles in Butter.

Szenario 2: Er hält nicht. Deich nutzlos. Land überschwemmt.

Die Unterschiede zwischen Szenario eins und zwei sind extrem. Bis zu einem Zeitpunkt X gibt es keine Schäden, keine Toten. Dann, in wenigen Minuten beginnt das Unglück, das Menschen nicht mehr aufhalten können und wir springen direkt in das Szenario maximalen Schadens und größter Gefahr für Menschen und Tiere. Es gibt keinen Zwischenzustand von „wenig Schaden“ und „kleiner Gefahr“.

Der kanadische Schriftsteller John Vaillant beschreibt in seinem brillanten Buch „Fire Weather“ (auf Deutsch: „Die Bestie“), wie ein verheerender Waldbrand im Mai 2016 die kanadische Stadt Fort McMurray, ein Zentrum der Ölindustrie, überrollte. Die Bewohner der Stadt hatten sich über die Jahrzehnte an die Waldbrände gewöhnt; diese waren Teil ihres Alltags, aber immer nur eine entfernte Gefahr. Das dachten sie auch dieses Mal.

Sie gingen weiter ihrer Beschäftigung nach, bis sie plötzlich raus aus der Stadt mussten, ganz schnell, alle Bewohner gleichzeitig. Kurz vor Mittag des 3. Mai 2016 schien das Feuer noch kontrollierbar, um 18.49 Uhr kam der Evakuierungsbefehl für die ganze Stadt. Der Feuerwehrchef der Stadt sagte im kanadischen Fernsehen: „So etwas hat noch niemand gesehen. So wie das passiert ist, so wie es sich fortbewegt hat, so wie es sich verhalten hat – das schreibt das Lehrbuch neu.“

Das Bild zeigt eine dramatische Szene, in der zahlreiche Autos auf einer Autobahn im Stau stehen, während sich rechts von ihnen ein großer Waldbrand ausbreitet. Dichter Rauch und Flammen sind deutlich sichtbar und färben den Himmel in bedrohliche Orange- und Grautöne. Der Verkehr scheint aufgrund der Nähe des Feuers vollkommen zum Erliegen gekommen zu sein, und die Situation wirkt äußerst gefährlich.

Bewohner von Fort McMurray fliehen entlang des Highway 63 am 3. Mai 2016 aus der Stadt. Wikipedia/CC BY-SA 4.0

Sollte es zur Katastrophe kommen, könnte man hinterher sagen: Die Deiche waren nicht hoch genug! Die Stadt war nicht gut genug auf den Waldbrand vorbereitet!

Und das stimmt natürlich. Schon heute können wir Deiche bauen, die einen „Klimapuffer“ haben und wir tun es auch. Aber können wir den Deich beliebig hoch bauen? Können wir wirklich jeden Deich hoch genug bauen? Kann das jedes arme Land?

Bei diesem Beispiel geht es „nur“ um Deiche. Für alles, was wir als Gesellschaft nutzen, müssten wir prüfen, ob es auch in mehreren Jahrzehnten unter veränderten Klimabedingungen noch einsetzbar wäre.

Einen Großteil der Infrastruktur, unserer Häuser, Straßen und Brücken haben wir für eine Welt gebaut, die nicht mehr existiert: eine Welt, in der wir ein stabiles Klima hatten.

Asphalt auf Straßen ist für maximal 70 Grad ausgelegt. Bei Beton ist der Grenzwert noch niedriger. Wird es zu heiß, platzt er:

Aufgeplatzter Asphalt

Vitalii Petrushenko/Getty Images

Schienen sind ebenfalls für bestimmte Temperaturen ausgelegt. Werden die Grenzwerte überschritten, ist das hier die Folge:

Verbogene Bahnschienen

MahmutSonmez/Getty Images

Eine Sache ist dabei wichtig. Diese Folgen sind nicht gleichmäßig verteilt. Mit jedem Zehntelgrad mehr ist eine andere Region auf der Welt anders betroffen, weil jede Region andere Schwellen- und Grenzwerte für ihre Infrastruktur hat. Deswegen kommt es auch immer wieder zu einer verstörenden Gleichzeitigkeit von Normalität und Katastrophe: 2024 erlebte Deutschland einen feuchten Frühling. Gleichzeitig hatten 80.000 Haushalte in Vietnam kein frisches Wasser.

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Eine Lösung wäre: Wir überprüfen alle Infrastruktur, alle Gebäude, Maschinen, Leitungen, und wenn wir neu bauen, bauen wir nur noch mit einem extremen Klimapuffer. Wir verwenden hitzebeständigeren Asphalt und bauen Deiche von vornherein drei Meter zu hoch. Das aber setzt voraus, dass wir den Klimapuffer auch sicher kennen.

Wo wir Menschen Deppen sind

Was, wenn unsere Annahmen nicht stimmen? Wir können nicht annehmen, dass wir die wahren Risiken der Klimakrise richtig vorhersagen und dann darauf reagieren können.

Wir Menschen sind Deppen, wenn es darum geht, in die Zukunft zu denken. Wir unterschätzen immer und immer wieder exponentielle, chaotische Entwicklungen. Sonst käme es nicht alle paar Jahre zu einer Finanzkrise. Sonst wäre die Corona-Pandemie anders verlaufen. Sonst, nun ja, gäbe es auch keine Klimakrise.

Dort, wo es uns als Gesellschaft gelungen ist, wirklich sichere Systeme zu bauen, zum Beispiel in der Luftfahrt, ist uns das erst gelungen, nachdem Tausende Flugzeuge abgestürzt sind. Und es dauerte in Summe Jahrzehnte. So viel Zeit wird uns die Klimakrise mit ihren sich exponentiell verstärkenden Folgen nicht lassen.

Eine Gesellschaft, die monatelang diskutieren muss, ob sie Masken trägt, um ihr Gesundheitssystem zu stabilisieren, hat auch Schwierigkeiten damit, die exponentiellen Folgen der Klimakrise zu begreifen. Es ist eine Gesellschaft, die Probleme damit haben wird, sich schnell an die krassen Folgen der Klimakrise anzupassen.

Und jetzt auch noch: Kipppunkte

Wer sich ein wenig auskennt, hat es schon bemerkt. Die berühmten Kipppunkte im Klimasystem sind nicht-lineare Folgen der Klimakrise. Allerdings erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit katastrophaler Folgen noch weiter. Das heißt: Katastrophen verstärken sich gegenseitig.

Wenn es um Klimafolgen geht, bemühen manche Menschen immer wieder einen Chart. Diesen hier. Er zeigt, wie viele Menschen in jedem Jahrzehnt durch „klimabedingte“ Katastrophen gestorben sind. Wir sehen: Der Trend fällt rapide. Immer weniger Menschen sterben.

Balkendiagramm mit dem Titel 'Climate-Related Disasters Kill Ever Fewer'. Zeigt weltweite Todesfälle durch Überschwemmungen, Dürren, Stürme, Waldbrände und extreme Temperaturen. Die x-Achse listet Jahrzehnte von den 1920er-Jahren bis 2021 (geschätzt für das volle Jahr). Die y-Achse stellt Todesfälle dar, die von 0 bis 500.000 reichen. Die Todesfälle sind im Laufe der Zeit zurückgegangen, erreichten ihren Höhepunkt in den 1920er-Jahren und nahmen in jedem Jahrzehnt allmählich ab, bis sie in den 2020er-Jahren weniger als 50.000 betrugen

Aber der Chart zeigt nicht die ganze Geschichte.

Dieser hier zeigt das gesamte Bild: 1910 sind genauso wenig Menschen gestorben wie heute. Das zeigen die orangen Balken. Wer bei dieser Statistik die ersten Zeiträume einfach weglässt, manipuliert die Grafik.

Balkendiagramm mit dem Titel 'Figure A. Total deaths per decade (1900-2020)'. Zeigt die Gesamtzahl der Todesfälle (in Millionen) von 1900 bis 2020. Die x-Achse listet Jahrzehnte von 1900 bis 2020, während die y-Achse Todesfälle von 0 bis 5 Millionen darstellt. Die höchsten Todeszahlen traten in den 1920er und 1930er Jahren auf, beide über 4 Millionen. Die Todesfälle sind stetig zurückgegangen und erreichten in den 2000er und 2010er Jahren weniger als 1 Million.

CRED/EM-DAT

Die wahre Geschichte ist: Wir hatten in den 1920er und 1930er Jahren extreme Naturkatastrophen, die durch sozialpolitische Entscheidungen und Bedingungen verschlimmert wurden. Zum Beispiel verhungerten in der Ukraine in den 1930ern Millionen Menschen. Zwar gab es 1931 eine Missernte, trotzdem war die Hungersnot die Folge einer bewussten Entscheidung des sowjetischen Diktators Josef Stalin.

Das ist ein extremes Beispiel, das zeigt, dass Politik die Folgen von Naturkatastrophen verschlimmern kann. Etwas weniger extrem, etwas kleiner: Sind die Gesundheitssysteme der Welt bereit, mit den Folgen immer größerer Hitzewellen umzugehen? Nein.

Wenn die Gesundheitssysteme aber Menschen nicht mehr adäquat versorgen können, fehlen diese Menschen wiederum an anderer Stelle. Zum Beispiel beim Deichbau.

Mehr Hitze senkt die Arbeitsleistung

Menschen, die – und das ist wichtig – draußen arbeiten, wo es keine Klimaanlagen gibt, arbeiten immer schlechter. Schauen wir uns an, was große Hitze mit der Produktivität von Menschen macht. Noch eine Grafik dazu.

Links ist die Produktivität zu sehen. Bei einem Sprung von 27 Grad Celsius auf 35 Grad sinkt die Produktivität im schlimmsten Fall um 80 Prozent. Das zeigt die blaue Linie. Das ist noch so eine nicht-lineare Folge der Klimakrise, die direkt und tief in unser System eingreift.

Graph zeigt den Zusammenhang zwischen natürlicher Feuchtkugeltemperatur (°C) und prozentualer Produktivität. Die x-Achse stellt die natürliche Feuchtkugeltemperatur (°C) dar, die von 27 bis 36 reicht. Die y-Achse zeigt die prozentuale Produktivität, die von 0 bis 100 % reicht. Verschiedene Kurven repräsentieren verschiedene Luftstromgeschwindigkeiten: 100 ft/min (durchgezogene blaue Linie), 400 ft/min (durchgezogene rote Linie), 800 ft/min (durchgezogene orange Linie) und ihre entsprechenden unteren Grenzen (gestrichelte Linien). Die Produktivität sinkt mit steigender Feuchtkugeltemperatur

Dear 2018, “Modelling Productivity Loss from Heat Stress”

Wir hatten jetzt Nicht-Linearität, Grenzwerte und Kipppunkte in der natürlichen wie in der politischen Welt. Kannst du noch?

Feedback, das nach Jahrhunderten kommt

Dann lass uns auf ein letztes Konzept schauen: Delayed Feedback – das ist Rückkopplung, die verzögert kommt.

Die australische Ärztin Liz Allen schrieb im Januar 2020, dass die dortigen Kliniken Untersuchungen absagen mussten, weil der Rauch der Waldbrände die Arbeit der MRT-Maschinen störte. Zu keinem Zeitpunkt waren die Krankenhäuser selbst in physischer Gefahr, trotzdem konnten sie nicht normal arbeiten. Und dieser Effekt trat erst ein, nachdem es bereits wochenlang gebrannt hatte. Das nennt man „verzögerte Rückkopplung“.

Ein anderes Beispiel für so eine verzögerte Rückkopplung ist, wenn der sibirische Permafrostboden erst anfängt, im großen Stil zu schmelzen, nachdem die Menschheit mehr als 200 Jahre lang 40 Milliarden Tonnen CO₂ in die Atmosphäre geblasen hat.

Wir wissen aus der bildungspsychologischen Forschung: Feedback, das erst nach Wochen kommt, ist vergleichsweise wirkungslos. Wochen! Die Klimakrise zwingt uns aber Feedback-Schleifen auf, die sich über Jahrhunderte spannen.

Das bedeutet auch: Wir könnten bereits auf dem Weg sein, die Klimakrise in den Griff zu bekommen, wir würden es aber nicht direkt in Form weniger Wetterextreme merken.

Was ich bis jetzt geschrieben habe, klingt, als ob wir, die Menschheit, den Aufgaben, die uns die Klimakrise stellt, nicht gewachsen sind. Ich glaube trotzdem, dass wir das hinbekommen können. Wir müssen uns aber darauf einstellen, dass es erst deutlich schlimmer wird, ehe es besser wird.

Und es wird besser werden. Auch dafür gibt es Anzeichen. Welche das sind, zeige ich dir in meinem nächsten Artikel. Abonniere meinen Newsletter, um den Artikel nicht zu verpassen.


Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Es wird langsam wärmer, aber schneller schlimmer

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