Das Bild zeigt einen Grafen, in dem verschiedene Linien eingezeichnet sind. Von unten steigen schwarze, düstere Wolken auf. In der Mitte ist ein Surfboard zu sehen. Der Hintergrund ist rötlich.

eigene Collage mit Jeremy Bishop/Unsplash

Klimakrise und Lösungen

Was gerade mit dem Klima passiert, überrascht selbst Experten

Es ist möglich, dass das Klimasystem endgültig aus den Fugen geraten ist. Das zeigen diese sieben Grafiken.

Profilbild von Rico Grimm
Politik- und Klimareporter

Ja, es gibt einen Klimawandel – das wissen alle. Aber dass sich dieser Klimawandel gerade beschleunigt und die Experten nicht genau wissen, warum?

Das wissen viel zu wenige.

Es besteht die Möglichkeit, dass das Klimasystem endgültig aus den Fugen geraten ist. Wir könnten am Anfang einer neuen klimatischen Epoche stehen.

Der US-Forscher James Hansen sagt: „[Die] beschleunigte globale Erwärmung ist die erste bedeutende Veränderung der globalen Erwärmungsrate seit 1970.“

Ich schrieb vor ein paar Monaten, dass das Klima in eine Freakzone eingetreten ist. Was ich damit meine: Es bewegt sich teilweise in Wahrscheinlichkeitsbereichen, die Statistikern die Schweißperlen auf die Stirn treten lassen, weil sie so selten sind.

Was wir aber 2024 erleben, ist noch beunruhigender. Mitte 2023 konnten alle noch hoffen, dass kein neuer Trend entstanden ist, dass wir schnell wieder aus der Freakzone rausrutschen.

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Damals stand das globale Wetterphänomen namens El Niño erst bevor. Es wirkt vor allem im Pazifik, entwickelt sich alle paar Jahre und hält jedes Mal ein paar Überraschungen für Wetter- und Klimaexperten bereit. Niemand weiß im Vorhinein, wie stark es wird.

Nun wissen wir es. Aber El Niño reicht eben nicht aus, um die klimatische Freakzone zu erklären, in der wir uns gerade befinden. Gavin Schmidt vom Goddard Institut der NASA sagt: „Unter Einbeziehung aller bekannten Faktoren hat sich der Planet im vergangenen Jahr um 0,2 °C stärker erwärmt als von den Klimaforschern erwartet.“

0,2 Grad sind eine außergewöhnliche Sache

0,2 Grad. Joa. Klingt lapidar, nicht? Würde sich die Temperatur des Raumes, in dem du gerade sitzt, um 0,2 Grad ändern, würdest du es nicht mitbekommen. Aber wir reden hier nicht von einer örtlich begrenzten Angelegenheit, sondern von der ganzen verdammten Erde. Von jedem Stein, den du als Kind in einen Bach geworfen hast, von jedem Berggipfel, auf dem du jemals standest, von jedem Sandstrand, der deine Füße gekitzelt hat. Von wirklich allem.

Und wenn sich alles um 0,2 Grad erwärmt und wir nicht wissen, warum es das tut, ist das eine außergewöhnliche Sache.

Das ist wirklich wichtig, wenn wir auf Klimazahlen und auf die dazu passenden Grafiken schauen. Es geht immer um das ganze Erdsystem!

Das hier ist die gemittelte Oberflächentemperatur der Erde. Sie wird aus Satellitendaten berechnet. Orange ist das Jahr 2023. Schwarz das aktuelle Jahr. Das graue Band zeigt die vergangenen 80 Jahre.

Das Klimadiagramm zeigt die tägliche Lufttemperatur der Erde von 1940 bis 2024, mit höheren Werten für 2024, was auf Erwärmung hindeutet. Daten: ECMWF ERA5; Quelle: ClimateReanalyzer.org, University of Maine.

Climate Reanalyzer

Was sehen wir? Dass das Jahr 2023 (orange) mit Beginn des europäischen Sommers den historischen Durchschnitt deutlich verlassen hat und nie wieder dorthin zurückgekehrt ist. Und dass es in den ersten drei Monaten 2024 genauso weiterging.

In Deutschland beschleunigt sich die Erwärmung

Lasst uns mal auf Deutschlands letzten Monat heranzoomen. War ein warmer März, oder? Er war vier Grad wärmer als das langjährige Mittel zwischen 1961 und 1990. Diese Grafik des Deutschen Wetterdienstes zeigt, wie groß die Abweichungen jeweils für den Monat März waren in den vergangenen 140 Jahren. Rot: zu warm. Blau: zu kalt. Seit 1990 sehen wir eigentlich nur noch rot und vor allem sehen wir, wie die Balken immer höher werden. Die Erwärmung beschleunigt sich.

Das Balkendiagramm zeigt die Temperaturanomalien für Deutschland im März von 1881 bis 2024. Positive Anomalien sind in Rot, negative in Blau dargestellt. Es gibt immer mehr warme Anomalien und sie werden immer größer. Datenquelle: DWD.

Deutscher Wetterdienst

Aber die Oberflächentemperaturen an Land sind nicht einmal das Besorgniserregendste. Den Experten machen die Ozeantemperaturen viel mehr zu schaffen. Das sind sie:

Das Liniendiagramm zeigt die täglichen globalen Meeresoberflächentemperaturen zwischen von 1981 bis 2024. Es zeigt Jahreslinien mit dem Mittelwert von 1982–2011 und deutlich höheren Temperaturen im Jahr 2024 (orange Linie). Daten: NOAA OISST V2.1; Bild: ClimateReanalyzer.org, University of Maine.

Climate Reanalyzer

Das aktuelle Jahr 2024 (schwarze Linie) übertrifft noch einmal deutlich das Freakjahr 2023 (orange Linie). Beide Jahre liegen außerhalb der historischen Norm. Das ist nicht normal, selbst nicht nach Maßstäben des Klimawandels – und es ist ein wirklich großes Problem.

„Findet Nemo“ wird bald zur unlösbaren Aufgabe

Denn Ozeane sind sehr träge. Die Energie, die das Wasser im vergangenen Jahr aufgenommen hat, gibt es nicht innerhalb von Monaten wieder ab. Es besteht die Möglichkeit, dass 2023 ein Jahrhundert-Trend etabliert wurde: immer wärmere Meere. Und wenn dieser Trend wirklich etabliert wurde, bekommen wir mehr Wetterextreme, Fische werden wandern und damit die Lebensgrundlage von Millionen Menschen zerstören. Und was nicht wandern kann, stirbt.

So wie die Korallen. „Findet Nemo“ wird bald zu einer unmöglichen Aufgabe, weil der kleine Anemonenfisch genauso selten wird wie sein Lebensraum. Gerade sterben wieder Massen von Korallen. Es ist ein Ökozid unter Wasser und wenn sich der Trend hin zu immer wärmeren Meeren nicht umdreht, sind wir die Generation, die das fantastische, prächtige Great Barrier Reef auf dem Gewissen hat. (Und all die anderen Riffe, die die Menschheit ernähren, begeistern und schützen.)

Vielleicht aber sind diese Riffe am Ende noch das kleinere Problem in den Meeren. Denn diese krassen Klimajahre beschleunigen auch Trends, die noch viel weitreichendere Folgen haben könnten: Die Antarktis schmilzt und eine sehr wichtige atlantische Meeresströmung schwächt sich ab.

Die Westantarktis ist ein Kipppunkt, der kippelt

Auf dieser Grafik siehst du, wie weit sich die antarktische Eisbildung jedes Jahr vom gemittelten Schnitt entfernt. Hier wird also gemessen, ob die Antarktis gerade ein besonders eisreiches oder eisarmes Jahr im Vergleich zu den Vorjahren erlebt.

All die blauen Linien sind die letzten Jahre. Gelb ist das Jahr 2023 und rot ist 2024. Im vergangenen Jahr hat sich weniger Eis gebildet als in den 30 Jahren zuvor. Nicht nur ein bisschen weniger, sondern deutlich weniger.

Das Diagramm stellt die Anomalie des antarktischen Meereisumfangs von 1989 bis 2024 dar, gemessen an der Abweichung vom Mittelwert von 1991-2020. Die täglichen Datenpunkte jedes Jahres sind in Blau gezeichnet, mit auffälligen Abweichungen für 2023 und 2024 in Gelb bzw. Rot.

Auch hier wieder daran denken: Wir reden über einen ganzen Kontinent! Wenn da eine Linie deutlich tiefer ist als der Schnitt, passiert etwas Außergewöhnliches.

Besonders gefährdet ist der sogenannte westantarktische Eisschild. Der schmilzt im hohen Tempo, wie diese Grafik der NASA zeigt. Je röter und dunkler eine Fläche, desto mehr Eis hat sie in den vergangenen 20 Jahren verloren. Und die Westantarktis ist fast schwarz.

Die Grafik zeigt die Veränderung der Eismasse in der Antarktis, dargestellt in Meter Wasseräquivalent relativ zum Jahr 2002. Farbige Bereiche kennzeichnen Verluste (Rot und Blau) und Zunahmen (Gelb) der Eismasse.

Nasa/Caltech JPL

Das Problem daran: An der Antarktis beginnen mächtige Meeresströmungen, die das Wetter und das Ökosystem der gesamten Südhalbkugel prägen. Verändern sich diese Strömungen, sind davon die Nahrungsketten von einer Milliarde Menschen direkt betroffen.

Würde das komplette westantantarktische Eis abtauen – wonach es gerade aussieht – würde das den Meeresspiegel um mehrere Meter heben. Hamburg stünde unter Wasser, genauso wie Shanghai, Miami, Singapur, Hongkong, Lagos, und Jakarta.

Ändern wir nichts, versiegt der Golfstrom irgendwann

Aus dem Was-Wäre-Wenn-Katastrophen-Szenario des Klimawandels wird jetzt Realität. Die krassen Klimajahre 2023 und 2024 haben die Wahrscheinlichkeiten noch weiter zu unseren Ungunsten verschoben. Die Zeit läuft ab.

Und wir wissen nun auch mit größerer Gewissheit, dass eine für uns Europäer überlebenswichtige Meeresströmung immer schwächer wird. Wir nennen sie umgangssprachlich Golfstrom. Eine neue Studie konnte dieses Szenario erhärten.

Diese Strömung transportiert warmes Wasser aus den Tropen nach Norden, vorbei an Europa, Richtung Grönland und zieht wie eine große Saugglocke kaltes Wasser aus dem Nordatlantik nach Süden. Tauendes Eis verlangsamt diese Strömung.

Die Ozeane sind warm, aber der Nordatlantik ist ein Problem für sich. Wieder ist orange das Jahr 2023 und schwarz das aktuelle Jahr. Der Nordatlantik hat sich eindeutig aus seinem historischen Gleichgewicht gelöst.

Das Diagramm stellt die tägliche Oberflächentemperatur des Nordatlantiks von 1981 bis 2024 dar, wobei die Jahre als Linien abgebildet sind und die Temperaturen in °C angeben. Das Jahr 2024 hebt sich mit einer höheren Temperatur (orange Linie) ab. Daten: NOAA OISST V2.1; Credit: ClimateReanalyzer.org, Climate Change Institute, University of Maine.

ClimateReanalyzer.org

Schon seit den 1960er-Jahren beschäftigen sich Wissenschaftler mit der These vom Golfstrom-Versiegen, aber bisher war da immer die Hoffnung, dass noch bessere Modelle, die noch mehr Variablen abbilden können und so der Realität näher kommen, zeigen werden, dass der Golfstrom nicht kippen kann. Aber die Supercomputer haben genau das Gegenteil ausgespuckt.

Wir wissen jetzt, dass der Golfstrom versiegen kann. Wir wissen, was uns vorwarnt, dass es passiert. Und diese Alarmsignale sagen uns, dass es passiert.

Wir wissen nur nicht, wann dieser Strom kollabiert.

Wenn er es tut, ist das das Ende Europas, wie wir es kennen. Bauernproteste wird es dann nicht mehr geben, weil es kaum noch Landwirtschaft in Europa geben wird, wenn die Temperaturen innerhalb von zehn Jahren um mehrere Grade (im Schnitt) sinken.

Noch einmal: Das ist kein Hirngespinst. Wer das liest und junge Kinder hat und auf Enkel hofft – deine Enkel könnten es erleben. Wir wissen es einfach nicht. Aber sollen wir es riskieren?

Nur eine Sache noch, ein letzter Chart. Der vielleicht, je nach Sichtweise, etwas Hoffnung gibt. Der Temperaturanstieg, den wir gerade erleben, befindet sich noch im Rahmen dessen, was die gängigsten Klimamodelle hervorgesagt haben.

Das Graph zeigt Klimamodelle (CMIP6) und Beobachtungsdaten von 1970 bis 2050. Die Temperaturabweichung vom 1900-2000 Mittelwert ist in °C dargestellt: Modellmittel (schwarz), Modell 5.-95. Perzentil (blau), Beobachtungen (Berkeley, rot) und der Trend von 1970-2023 (gelb gestrichelt).

Zeke Hausfather/Twitter

Die rote Linie zeigt die gemessenen Temperaturen. Allerdings zeigt das blaue Band den Möglichkeitsraum der Modelle: Das ist, statistisch gesehen, drin für die nächsten Jahre.

Ob wir 2050 am oberen Ende des blauen Bandes landen oder am unteren Ende; die Computermodelle wissen es nicht, keine KI weiß es. Denn die Zukunft ist nicht festgeschrieben. Wir schreiben sie.


Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Astrid Probst, Fotoredaktion: Philipp Sipos