Stau, Smog und Lärm: Dagegen kämpfen nicht nur deutsche Städte. Auf der ganzen Welt hinterfragen Politiker:innen und Anwohner:innen die dominante Rolle des Autos und korrigieren ihre Stadtplanung. Sie sind kreativ, manchmal radikal und nicht immer sind alle mit den Maßnahmen einverstanden. Doch die Ergebnisse – bessere Luft und weniger Stau – sprechen für sich.
Am Beispiel von Tokio, Ljubljana, London und Tallinn erkläre ich dir vier Maßnahmen, die den Autoverkehr reduziert haben. Diese Beispiele haben gemeinsam, dass sie in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen noch nicht angewandt werden. Dabei haben sie das Potenzial, die Verkehrswende auch hier zu beschleunigen.
Nummer 1: Revolution der Parkplätze in Tokio, Japan
Durchschnittlich steht ein deutsches Auto 23 Stunden am Tag herum. Autos parken also deutlich länger, als sie fahren. Verkehrspolitik ist daher auch immer Parkplatzpolitik. Dafür ist Tokio das beste Beispiel, denn die japanische Hauptstadt betreibt die vielleicht strengste Parkplatzpolitik der Welt.
Das Auto einfach am Straßenrand abzustellen, ist in Deutschland üblich – und in Tokio undenkbar. Dafür sind die Flächen in der 34-Millionen-Metropole zu knapp. Die Stadt geht daher einen radikalen Weg: Wer in Tokio ein Auto anmelden will, muss zuerst einen privaten Stellplatz nachweisen. Klingt harmlos, hat aber messbare Folgen, denn Tokio stellt für Anwohner:innen keine öffentlichen Stellplätze bereit. Diese werden privatwirtschaftlich gehandelt – und kosten deutlich mehr als zum Beispiel die Anwohner-Vignette für 10,20 Euro in Berlin.
Wie teuer ein Stellplatz in Tokio ist, hängt von Lage, Anbieter und Größe ab, mindestens kostet er 60 Euro im Monat. Pro Jahr kann ein Stellplatz sogar bis zu 4.560 Euro kosten. Kein Wunder, dass die Autodichte in Tokio sehr gering ist: Obwohl das Einkommensniveau in Japan hoch ist, entfallen auf 1.000 Einwohner gerade einmal 220 Autos, in Deutschland sind es zweieinhalb mal so viele. Auch der Pkw-Anteil an den Verkehrswegen ist mit zwölf Prozent niedriger als überall in Europa. Zum Vergleich: In Berlin liegt der Pkw-Anteil bei allen Fahrten bei 25 Prozent.
Übrigens waren die Parkplatzregeln in Deutschland früher so ähnlich wie in Tokio. Bis zu einem Gerichtsurteil aus dem Jahr 1966 durfte man sein Auto nur auf privaten Stellplätzen parken, auf öffentlicher Fläche war Parken verboten. Erst mit dem Autoboom der Nachkriegszeit wurde diese Regelung unpraktisch. Würde Deutschland wieder eine Stellplatzpflicht wie in Japan einführen, käme das vermutlich einer urbanen Revolution gleich.
Nummer 2: Die Ächtung der Autos in Ljubljana, Slowenien
Als Zoran Janković, der Bürgermeister von Ljubljana, im Jahr 2006 seine Vision der Stadt vorstellte, verpasste ihm ein Bürger eine Ohrfeige. Vielen in der Bevölkerung erschien es zu radikal, was der Bürgermeister vorhatte: Er wollte das historische Zentrum der Stadt für den Autoverkehr sperren und daraus eine 17 Hektar große Fußgängerzone machen. Aus Parkplätzen sollten Parks entstehen, aus grauem Asphalt grüne Erholungsorte. Doch Ladenbesitzer:innen befürchteten Geschäftseinbußen und Anwohner:innen protestierten, dass sie nicht mehr direkt vor der Haustür parken können.
Zoran Janković ließ sich nicht beirren und 2007 wurde das Zentrum für Autos gesperrt. Die Stadtregierung hatte bereits Konzerte und Festivals auf den neu gewonnenen Flächen organisiert, um den Menschen zu zeigen, wie der frei gewordene öffentliche Raum genutzt werden kann. Gleichzeitig baute die Stadt die Infrastruktur fürs Fahrrad aus, pflanzte Bäume und erklärte Straßen zu Fußgängerzonen. Außerdem baute die Stadt die Alternativen zum Auto aus: 2009 stellte Ljubljana den „Kavalier“ vor: ein kleiner, grüner, elektrischer Shuttle-Bus, der alte und körperlich eingeschränkte Menschen kostenfrei durchs autofreie Zentrum transportiert. 2011 ging in Ljubljana ein ebenfalls nahezu kostenfreies Fahrrad-Verleihsystem an den Start.
Und die Bürger:innen? Nach anfänglichem Protest gewöhnten sich die meisten Menschen an das neue Stadtbild. Laut offiziellen Daten verbesserte sich die Luftqualität um 70 Prozent und der Anteil des Autoverkehrs in der ganzen Stadt ging insgesamt um 19 Prozent zurück. Die einzige Kritik von Beobachter:innen ist, dass die Stadt seit der Umwandlung ihre Authentizität verloren habe und sich mehr und mehr gentrifiziere. Doch den alten Zustand zurückhaben? Wohl kaum: Eine Umfrage aus dem Jahr 2018 ergab, dass 97 Prozent der Bevölkerung die Rückgabe des Zentrums an den Autoverkehr ablehnen.
Nummer 3: Kampf gegen den Stau in London, Großbritannien
Schon vor 20 Jahren führte London eine City-Maut für die Innenstadt ein, die London Congestion Charge. Congestion bedeutet Stau. Der Name verrät, was das Ziel der Maut ist: Staus verringern. Tagsüber müssen Autofahrer:innen, wenn sie über die vielen Brücken in die City of London fahren wollen, eine Gebühr von 15 Pfund (ca. 17,50 Euro) bezahlen. Von der Stau-Maut befreit sind Busse, Taxis, alle Rettungsdienste, E-Autos sowie Motor- und Fahrräder. Rabatte gibt es für den Gewerbeverkehr und für Anwohner:innen.
Zur Londoner Staugebühr kam 2019 eine Umwelt-Maut dazu, die Ultra Low Emission Zone (ULEZ). Erst galt sie nur für die Innenstadt und wurde 2021 auf das gesamte Londoner Stadtgebiet ausgeweitet. Wer die strengen Abgaswerte nicht erfüllt, zahlt in ganz London die Umwelt-Maut von zwölf Pfund (ca. 14 Euro). Das betrifft vor allem Dieselfahrzeuge und ältere Benziner.
Die Auswirkungen der Congestion Charge direkt nach der Einführung waren enorm: Der Verkehr an den Werktagen ging um 18 Prozent zurück. Der Stau reduzierte sich um 30 Prozent, während der Busverkehr um 30 Prozent zunahm. Staus gibt es in London zwar immer noch. Die Staugebühr schaffte es jedoch, die Folgen des Verkehrswachstums der vergangenen Jahrzehnte abzumildern. 2019 wurden durch die Maut nach Berechnungen drei Millionen Autofahrten im Jahr eingespart.
Auch die Einführung der Londoner Umweltzone im Jahr 2019 brachte positive Effekte. Zum Beispiel halbierte sich der Ausstoß schädlicher Stickoxide im Zentrum. Trotzdem ist die erweiterte Umweltzone umstritten: Kritiker:innen monieren, dass die Bewohner:innen von Vorstädten auf ihr Auto angewiesen seien und durch die Umwelt-Maut benachteiligt würden. Londons Opposition aus Konservativen verspricht bereits, die Umweltzone rückgängig zu machen und Rishi Sunak, der Premierminister des Vereinigten Königreichs, sagte, er sei „auf der Seite der Autofahrer“.
Nummer 4: Null-Euro-Tickets in Tallinn, Estland
Es gibt nur wenige Städte auf der Welt, in denen der öffentliche Nahverkehr komplett kostenlos ist. Die estländische Hauptstadt gehört seit 2013 dazu. Tallinn gilt in dieser Hinsicht als internationaler Vorreiter. Einige kritische Stimmen sind der Ansicht, dass der damalige Bürgermeister von Tallinn, Edgar Savisaar, nur seine Beliebtheitswerte steigern wollte. In der Tat kam die Idee bei den Bürger:innen sehr gut an: Im Frühjahr 2012 stimmten drei Viertel der Tallinner:innen für einen kostenfreien Nahverkehr, der 2013 schließlich eingeführt wurde.
Das Null-Euro-Ticket ist nur für registrierte Einwohner:innen kostenlos, Gäste der Stadt müssen zahlen. Das hatte zur Folge, dass das Einwohnermeldeamt der Stadt nach dem Referendum einen sprunghaften Anstieg der Anmeldungen erlebte. Die neuen Anmeldungen waren so zahlreich, dass die Stadtregierung 2015 vermeldete, dass der kostenfreie ÖPNV kein Loch in den Haushalt gerissen hatte, im Gegenteil: Die gestiegenen Steuereinnahmen brachten der Gemeindekasse ein Plus von 20 Millionen Euro ein, schreibt der Guardian.
Doch die Meinungen über den kostenlosen ÖPNV sind nicht alle positiv. Die Opposition in Tallinn fordert regelmäßig, Bus und Bahn erneut mit einem Preisschild zu versehen, damit die Stadt einen größeren finanziellen Spielraum beim Ausbau der Infrastruktur habe. Auch gibt es Stimmen unter Mobilitätsexpert:innen, die der Ansicht sind, der Anteil des Autoverkehrs habe seit 2012 sogar zugenommen. Daten zeigen, dass die Fahrgastzahlen direkt nach der Einführung des kostenlosen ÖPNVs zwar leicht gestiegen sind, doch gleichzeitig nahm auch der Autoverkehr zu. Welchen Einfluss der kostenfreie ÖPNV auf diese Entwicklung genau hat, ob nicht andere Faktoren wie veränderte Wohlstandsentwicklung überwiegen, ist jedoch schwer zu ermitteln.
Insgesamt bleibt das Null-Euro-Ticket in Tallinn unter den Bürger:innen weiterhin beliebt und es ist unwahrscheinlich, dass es in naher Zukunft abgeschafft wird. Gerade seit der steigenden Inflation infolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine fahren viel mehr Menschen Bus und Bahn.
Diese Ideen funktionieren, auch wenn deutsche Städte sie nicht einfach so kopieren können
Diese vier Maßnahmen sind nur ein kleiner Ausschnitt von Städten, die versuchen, die Verkehrswende voranzutreiben. Natürlich lassen sich diese Ansätze nicht eins zu eins auf deutsche Städte übertragen. Eine autofreie Innenstadt würde in Berlin anders funktionieren als in Ljubljana, weil Berlin kein klar definiertes Zentrum besitzt. Ein kostenfreier ÖPNV wäre in einer Millionenstadt mit einem leistungsstarken ÖPNV teurer als in Tallinn. Aber eines zeigen diese Beispiele deutlich: Ideen, wie sich eine Stadt radikal verkehrsfreundlicher machen lässt, gibt es längst. Und umsetzen lassen sie sich auch.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger