Regierungen und internationale Organisationen arbeiten daran, dass sich die Erde zügig und zusätzlich zum sowieso schon stattfindenden Klimawandel um noch ein paar weitere Zehntel Grad aufheizt. Das ist erklärtes Ziel der Vereinten Nationen (UN), der USA, der EU, der Weltgesundheitsorganisation WHO. Auch China hat im vergangenen Jahrzehnt große Anstrengungen unternommen, um dieses Ziel zu erreichen.
So jedenfalls müsste man es formulieren, wenn man den Kampf für eine sauberere Luft allein aus der Klimaperspektive betrachtet. Denn natürlich zielen die Regierungen nicht bewusst auf noch mehr Erderwärmung, sondern auf weniger Luftverschmutzung. Die Regierungen wollen weniger Stickoxide, Schwefeldioxide (SO₂) und Ruß in der Atmosphäre. Das alles sind Abfallprodukte der modernen fossilen Lebensweise. In Summe kosten sie jedes Jahr sieben Millionen Menschen das Leben.
Aber weniger dreckige Tanker und Kohlekraftwerke bedeuten kurzfristig: heißere Sommer, heißere Meere, stärkere Regen, extremere Dürren.
Denn das Abfallprodukt Schwefeldioxid wird in der Luft zu Schwefelsäure, die hervorragend Sonnenlicht reflektieren kann und die Bildung von Wolken fördert, die wiederum auch Sonnenenergie zurück ins All werfen. Und weil die Menschheit in den vergangenen Jahrhunderten so viel Schwefeldioxid ausgestoßen hat, ist das für das Weltklima ein tatsächlich wichtiger Faktor geworden.
Der Weltklimarat schätzt in seinem jüngsten Bericht aus dem Jahr 2021, der Kühlungseffekt durch die Luftverschmutzung liege zwischen 0,2 und 0,8 Grad Celsius. Das heißt: Im extremen Fall hat sich die Erde eigentlich bereits um deutlich mehr als zwei Grad erwärmt, nicht nur um 1,1 Grad, was als der aktuelle Stand gilt.
Der Wissenschaftler Sebastian Sippel vom Leipziger Institut für Meteorologie geht allerdings davon aus, dass der extreme Wert nicht der wahrscheinlichste ist. Er hält eine künstliche Abkühlung durch Schwefeldioxid von 0,4 Grad für wahrscheinlicher. Aber auch diese niedrigere Zahl würde bedeuten: Die eigentliche Erwärmung der Erde könnte 40 Prozent höher sein, als wir gerade annehmen.
Und weil es der Menschheit tatsächlich in den vergangenen Jahrzehnten gelungen ist, Luftverschmutzung einzudämmen und weniger Schwefeldioxid auszustoßen, bekommen wir diese eigentliche Erwärmung gerade zu spüren. Wir können etwa den krassen Klima-Sommer 2023 vermutlich nicht verstehen, ohne auf Partikel in der Luft zu schauen.
Woher das Schwefeldioxid in der Luft stammt
Das Frühjahr 2020 lieferte dabei ein hervorragendes experimentelles Setting, um den Zusammenhang zwischen Schmutzpartikeln in der Luft und Sonnenenergie, die auf die Erde trifft, zu beobachten. Denn als größere Teile Europas, Nordamerikas und Chinas in den Lockdown gingen, fuhren weniger Autos, drosselten Fabriken ihre Produktion und Kraftwerke ihre Leistung. Das bedeutete weniger Luftverschmutzung und theoretisch auch mehr Sonnenenergie, die die Erde erreicht. Und tatsächlich: In der chinesischen Stadt Wuhan, die einen der härtesten Lockdowns der Welt erlebte, traf laut einer chinesischen Studie fast doppelt so viel Sonnenstrahlung auf die Erde wie vor den Lockdowns. Ein US-amerikanisches Team konnte mit seinen Klimamodellen zeigen, dass sich die Erdoberfläche dort um circa 0,3 Grad Celsius erwärmt hatte.
All das Schwefeldioxid, das die Menschheit seit der Industriellen Revolution Jahr für Jahr in die Atmosphäre schickt, hat also den wärmenden Effekt von Treibhausgasen wie CO₂ abgemildert. Wie stark dieser Effekt weltweit ist, ist allerdings völlig unklar. Daran ändert auch die Lockdown-Studie des US-Teams nichts. Die Wissenschaftler schauten auf einen kurzen Zeitraum, der räumlich begrenzt ist. Wichtiger ist aber der globale Maßstab.
Die Schwefeldioxid-Emissionen brechen seit den 1980er Jahren ein
Jedes Jahr stößt die Menschheit etwas weniger als 100 Megatonnen an Schwefeldioxid aus. Die gesamte Menge hat, wie unsere Grafik unten zeigt, seit den 1980er Jahren vor allem dank strengerer Regeln in Europa und Nordamerika abgenommen. Sie ist aber immer noch circa 100-mal größer als in vorindustriellen Zeiten. In Asien und Afrika steigen die Emissionen aktuell, wobei gerade auch in Asien immer strengere Gesetze zum Schutz der Luftqualität verabschiedet werden, allen voran in China.
Hauptquellen für Schwefeldioxid sind in Deutschland laut Umweltbundesamt die Öfen von Kraftwerken und Industrieanlagen, wobei der Trend steil nach unten zeigt. Das ist das Ergebnis strengerer Abgasregeln für Kohleanlagen jeder Art, die vor allem nach den Diskussionen um das Waldsterben in den 1980er Jahren erlassen worden sind.
Aber nicht nur fossil betriebene Kraftwerke stoßen Schwefeldioxid aus. Die zweite große relevante Quelle sind Schiffe, die über die Meere fahren. Die überwiegende Mehrheit von ihnen verbrennt Schweröle, die ein Abfallprodukt der Benzin- und Dieselherstellung in Raffinieren sind. Diese Schweröle sind von Haus aus schwefelhaltiger als PKW-Kraftstoffe. Das bedeutet, dass beim Verbrennen mehr Schwefeldioxid in die Atmosphäre gelangt als beim Verbrennen einer vergleichbaren Menge Benzin. Bei Schiffen allerdings haben mehrere Verschärfungen der Abgasregeln zu einem epischen Einbruch der Emissionen geführt. Minus 80 Prozent innerhalb von wenigen Monaten.
Die Schwefeldioxid-Emissionen sinken also rapide. Gleichzeitig stoßen wir aber immer mehr Treibhausgas aus. Klimaaktivisten wie der Niederländer Leon Simons versuchen deshalb schon seit Jahren, die Öffentlichkeit und ihre Kollegen und Kolleginnen aus der Klimaforschung für das Szenario zu sensibilisieren: Weil Schiffe und Kohlekraftwerke die Luft weniger verpesten, wärmt sich die Erde schneller auf. Denn der kühlende Effekt von Schwefeldioxid fehlt.
Das Szenario, das der Weltklimarat nicht auf dem Schirm hat
Nicht einmal der Weltklimarat hat dieses Szenario auf dem Schirm. Er veröffentlicht natürlich Prognosen über die zukünftige Entwicklung der Emissionen. Er geht aber davon aus, dass Schwefeldioxid- und Treibhausgasemissionen gleichzeitig und im gleichen Umfang sinken. Das aber trifft gerade eben nicht zu.
Wir erleben stattdessen, was Simons und seine Co-Autoren in einer Präsentation als Termination Shock beschreiben: immer weniger Schwefeldioxid-Emissionen lassen die Erderwärmung schneller steigen.
Man kann das Problem des Termination Shock auf drei Arten interpretieren. Erstens wäre es eine theoretische Möglichkeit, den Kampf gegen Luftverschmutzung zu beenden und alle Schwefelfilter abzubauen. Das will aber völlig zu Recht niemand.
Zweitens können wir den Termination Shock als Ansporn begreifen, wirklich von den fossilen Brennstoffen loszukommen. Denn kurzfristig gibt es zwar einen Termination Shock, langfristig spielt er aber keine Rolle, wenn wir wirklich im gleichen Umfang Treibhausgase einsparen. Dieses Einsparen gelingt am einfachsten, wenn zum Beispiel Kohlekraftwerke direkt abgeschaltet werden oder Schiffe mit grünem Methanol statt mit Schweröl fahren.
Und wenn schon Kohlekraftwerke laufen müssen, dann muss die Filtertechnik auch andere Schadstoffe als SO₂ herausholen. Das kann gelingen und so auch der Termination Shock abgeschwächt werden. Jens Tambke vom Umweltbundesamt sagte mir: „In China werden die SO₂-Emissionen gerade drastisch reduziert, weil neue Kohlekraftwerke mit entsprechenden Filtern ausgestattet werden – gleichzeitig sinken jedoch auch die Ruß-Emissionen. Ruß hat eine starke erwärmende Wirkung auf das Klima. Messungen zeigen nun, dass der erwärmende Effekt durch reduzierte SO₂-Emissionen mehr als ausgeglichen wird durch die wegfallende Erwärmung dank des nicht-emittierten Rußes. Was aber natürlich gleich bleibt, ist der Treibhauseffekt des CO₂.“
Rechtfertigung für Geo-Engineering
Aber seitdem die Problematik bekannter wird, wird auch noch eine dritte Deutung prominenter, beispielhaft in diesem viralen Twitter-Thread, den neun Millionen Menschen zu sehen bekamen: Wenn Schwefeldioxid so einen großen Effekt auf das Klima hat, sollte die Menschheit darüber nachdenken, diesen Effekt künstlich zu verlängern, indem Schwefel in den Himmel geschossen wird. Sie sollte aktiv sogenanntes Geoengineering betreiben. (Wenn du dazu eine Frage hast, sage es mir hier in dieser Umfrage.)
Denn es funktioniere ja, das zeige das „unfreiwillige Geoengineering-Experiment“, das die Menschheit in den vergangenen 100 Jahren durch die Luftverschmutzung durchgeführt hat. Die meiste Zustimmung, 10.000 Likes, gab es für diesen Satz in dem Twitter-Thread: „Der größte Perspektivwechsel für mich ist, dass wir nicht fragen sollten, ob wir Geoengineering betreiben sollten … Wir tun es bereits, und das seit einem Jahrhundert. Wir sollten fragen, ob wir einen großen Schritt machen und es absichtlich und mit Bedacht tun sollten, weil wir sehen können, dass es funktioniert.“
Der Twitter-Thread ignoriert dabei völlig, dass die Menschheit zwar grundsätzlich weiß, „dass es funktioniert“, aber überhaupt nicht weiß, wie genau es funktioniert. Schließlich ist ja unklar, wie groß der kühlende Effekt durch Schwefeldioxid in der Luft ist. Außerdem ignoriert er ganz praktische Fragen, etwa jene, dass Schwefelpartikel verklumpen können und wie genau der Schwefel in ausreichenden Mengen in die Atmosphäre gelangen soll. Es wären 6.700 Flugzeuge jeden Tag dafür nötig, um es in der Luft zu verteilen. Aber dennoch, die Diskussionen über Geoengineering haben begonnen und sie werden immer lauter werden.
Ein Beleg dafür ist auch der sehr erfolgreiche US-Autor Neal Stephenson, der dem Termination Shock seinen jüngsten Roman widmete. Darin manipuliert ein texanischer Unternehmer die Atmosphäre, um den Klimawandel zu bremsen. Im Buch streitet sich die Menschheit um dieses Experiment. Es ist ein Streit mit hohem Einsatz. Denn sollte der Unternehmer aufhören, die Atmosphäre zu manipulieren, würde sich die Erde ohne die kühlenden Teilchen extrem schnell aufheizen.
Dass ausgerechnet Stephenson das Thema aufgreift, sollte uns aufhorchen lassen. Denn der Mann hat ein Gespür, für das, was wichtig werden könnte. In seinem Roman „Snow Crash“ flüchten die Hauptfiguren immer wieder in eine voll entwickelte virtuelle Welt. Er beschrieb im Jahr 1992, was im Jahr 2022 die Schlagzeilen dominierte: das Metaverse.
Redaktion: Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Susan Mücke, Grafik und Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger