Wie geht es den Zebras in der Ukraine? Vielleicht nicht die erste Frage, die einem in den Kopf kommt, wenn man an die ökologischen Folgen des Angriffskrieges durch Russland denkt. Aber tatsächlich gibt es in der Ukraine neben wild lebenden Zebras auch Bisons, Antilopen und die größte Herde der seltenen Przewalski-Wildpferde. Sie alle sind Teil von Askania-Nova, dem ältesten Steppen-Schutzgebiets Europas. Und das gibt es schon seit über 100 Jahren: 1874 wurde es von Baron Friedrich von Falz-Fein, einem Nachfahren deutscher Kolonisten, angelegt und 1921 unter Schutz gestellt.
Der Experte: Viktor Shapoval
Er leitet das 333 Quadratkilometer große Naturschutzgebiet im süd-ukrainischen Oblast Cherson. Seit 2001 arbeitet der studierte Biologe als Botaniker in Askania-Nova, im Dezember 2021 wurde er zum Direktor ernannt.
Zwei Monate, nachdem Viktor Shapoval zum Direktor des 333 Quadratkilometer großen Naturschutzgebiets im Oblast Cherson ernannt wurde, brach der Krieg aus. Inzwischen ist die Region von Russland annektiert. Ich habe ihn gefragt, wie es Askania-Nova und seinen Bewohner:innen unter der russischen Besatzung geht.
Wo bist du gerade?
Ich bin in der Ukraine, in Kiew.
Nicht in Askania-Nova?
Nein, ich habe das Gebiet am 30. September letzten Jahres verlassen. Am 29. September wurde die Annexion der Region Cherson angekündigt. Meine Abreise war notwendig, um die weitere Finanzierung des Reservats zu organisieren. Das kann ich nur hier, auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet.
Askania-Nova steht seit Kriegsbeginn unter russischer Besatzung.
Ja, die Ereignisse vom 24. Februar 2022 waren auf jeden Fall ein Schock. Wir mussten schnell handeln, denn anders als in vielen anderen Naturreservaten gibt es in Askania Einrichtungen, die ohne menschliche Unterstützung nicht existieren können. Der botanische Garten in der Steppe, der von Wasserversorgung abhängt, zum Beispiel. Und Zootiere, die auf Pflegepersonal angewiesen sind. Wir haben in den ersten Monaten einen relativ autonomen Betrieb aufgebaut.
Wie meinst du das?
Durch den Krieg wurden die Lieferketten für das Tierfutter und die Finanzierung unterbrochen. In den ersten Monaten ging es darum, finanzielle Hilfe zu organisieren und Futtermittel, Treibstoff und Ersatzteile auf Vorrat zu kaufen. Wir haben viele Spenden von Ukrainer:innen und Umweltschutzorganisationen sowie Bürger:innen aus Europa bekommen, die das möglich gemacht haben. Auch in Zukunft werden wir weiter auf diese Mittel angewiesen sein. Über unseren Partner, der Ukrainian Nature Conservation Group, sammeln wir Spenden.
Die ersten Monate hat die russische Besatzung also gar keinen direkten Einfluss auf den Park genommen?
Genau, es war eine etwas paradoxe Situation. Die Besatzungsverwaltung wurde erst im März 2023 ernannt, nach 13 Monaten der Besatzung. Bis dahin waren wir in der Lage, alles aus eigener Kraft aufrechtzuerhalten.
Was hat sich im März verändert?
Am 20. März erschienen die ersten Stellvertreter der russischen Verwaltung, Sergej Kirijenko und der Gouverneur der Cherson Region, Vladimir Saldo, in Askania. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit. Das hat auch die offizielle Ernennung und das Erscheinen eines Besatzungsdirektors von Askania-Nova ausgelöst. Offensichtlich muss der neu ernannte Direktor als Gastgeber solche Gäste empfangen. Seitdem hat sich die Situation verändert. Wir haben keinen direkten Einfluss mehr auf die Geschehnisse im Reservat. Das heißt aber nicht, dass wir nicht wissen, was dort geschieht.
Von ehemals 269 Mitarbeitenden sind aktuell noch 140 in Askania-Nova.
Ja, das stimmt. Von diesen 140 Personen ist die große Mehrheit, nämlich 90 Prozent, technisches Personal. Das heißt, Menschen, die sich direkt um die Tiere und Pflanzen kümmern. Im Gegensatz zu den Russen, die absolut keine Ahnung haben, wie eine Naturschutzeinrichtung funktioniert, haben sie viel Erfahrung. Askania-Nova hält sich jetzt auf Kosten der von uns geschaffenen Reserven, wie Futtermittel, über Wasser. Die Tatsache, dass die Situation heute nicht kritischer ist, verdanken wir dem Engagement unserer Mitarbeitenden und den Spendengeldern.
Von wie vielen Pflanzen und Tieren sprechen wir hier eigentlich?
Askania-Nova ist ein riesiges Gebiet, etwa 333 Quadratkilometer. Es unterscheidet sich von anderen Naturschutzgebieten, da es nicht nur natürliche Ökosysteme enthält, sondern auch Arten, die in dieses Gebiet eingeführt wurden. Die Vegetation der geschützten Steppe umfasst etwa 527 Arten. Auf dem Gelände des Botanischen Gartens gibt es etwa 2.000 Pflanzenarten. Die Tiere leben entweder unter halbfreien Bedingungen im Zoo oder im natürlichen Ökosystem der Steppe. Insgesamt sind es etwa 120 Tierarten, die eingeführt wurden, wie Przewalski-Pferde, Zebras und Bisons. Allein 1.600 Individuen sind Huftiere. Die Artenvielfalt in der Steppe geht in die Tausende, es gibt eine große Anzahl von Vögeln und Wirbellosen.
Askania-Nova ist das älteste Schutzgebiet der Ukraine. Was für eine Bedeutung hat der Park für die Ukrainerinnen und Ukrainer?
Es besteht kein Zweifel, dass Askania wichtig ist. Wenn du in der Ukraine jemanden auf der Straße fragen würdest, welche Biosphärenreservate er oder sie kennt, würde Askania-Nova als erstes genannt werden. Es wird ständig besucht und die Huftier-Sammlung hat den Status eines nationalen Schatzes der Ukraine. Aber es kann nicht nur in einem nationalen Kontext gemessen werden, sondern ist auch von globaler Bedeutung. Askania-Nova ist wegen seiner außergewöhnlichen Landschaft seit 1985 sogar im internationalen System der UNESCO-Naturschutzgebiete eingetragen.
Wie hat sich der Krieg denn bisher auf das Naturschutzgebiet ausgewirkt?
Am 24. Februar um 9 Uhr morgens standen die russischen Truppen bereits auf dem Gebiet der Gemeinde. Das heißt, dass es während der Invasion keine aktiven Kämpfe auf dem Gebiet des Reservats gab. Die Frontlinie ist aktuell etwa 60 Kilometer entfernt. Das ist es, was Askania-Nova bisher gerettet hat. Wenn ein Naturschutzgebiet zur Frontlinie wird, bedeutet das praktisch seine Zerstörung. Andere Gebiete in der Region Cherson haben also viel mehr gelitten, trotzdem gibt es auch hier negative Auswirkungen. Beispielsweise die Geräusche der Flugzeuge. Flüge über das Schutzgebiet sind eigentlich verboten, sie lösen bei den Tieren Panik und Stress aus. Und auch russische Militärangehörige sind seit Oktober letzten Jahres im Dorf Askania-Nova stationiert. Sie lagern militärische Ausrüstung hier, fällen Bäume und nutzen sie als Deckung. Außerdem gab es Brände. Und natürlich der direkte materielle Schaden: Landwirtschaftliche Geräte und anderes Eigentum des Reservats wurden beschlagnahmt oder geplündert.
Immerhin wurden bisher keine Tiere direkt angegriffen.
Ja. Das Büro des Reservats befindet sich in einer Siedlung mit etwa 2.700 Einwohner:innen, die im Zentrum des Naturschutzgebiets liegt. Also alles, was im Reservat stattfindet, wird von der lokalen Bevölkerung beobachtet. Daher wurden keine Tiere erschossen, wie beispielsweise auf den Inseln Byrjutschyj und Dscharylhatsch in Cherson. Bisher wird von Seiten der Besatzungsverwaltung Recht und Ordnung eingehalten. Aber die Tatsache, dass die Russen in Askania-Nova nichts tun, kann auch gefährlich sein.
Wie meinst du das?
Sie schützen wahrscheinlich nur das, was sie wegnehmen wollen. Die Krim liegt ganz in der Nähe. Vielleicht planen sie, Tiere über die Krim abzutransportieren – insbesondere die wertvollen Huftiere. Es gibt traurige Geschichten aus anderen Teilen der Region Cherson, wo die Besatzer buchstäblich alles mitgenommen haben, was sie stehlen konnten. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Gemälde aus einem Kunstmuseum, Ausrüstung oder geschützte Tierarten handelt. Alles, was die Russen mitnehmen können, ist bedroht.
Mal angenommen, dass die Przewalski-Pferde aus dem Park gestohlen werden: Wird es möglich sein, eine solche Populationen wiederherzustellen?
Das ist eine schwierige Frage, die vom Verlauf der Ereignisse abhängt. Theoretisch kann vieles wiederhergestellt werden, aber die Verluste wären katastrophal. Denn es handelt sich um einen einzigartigen Genpool, der über Jahrhunderte entstanden ist. Ihn wiederherzustellen, würde enorme materielle Ressourcen und viel Zeit erfordern. Bei den Przewalski-Pferden gibt es verschiedene genetische Linien. Die sogenannte Askania-Nova-Linie ist im Gegensatz zu den Przewalski-Pferden, die in europäischen Zoos gehalten werden, widerstandsfähiger.
Was wünscht du dir für die Zukunft?
Das beste Szenario wäre die frühestmögliche Befreiung. Wenn der Vormarsch unserer Armee plötzlich erfolgt und entweder das Gebiet umzingelt wird oder sich die russischen Truppen einfach zurückziehen. So, dass es in Askania-Nova keine Kämpfe gibt. Sollte es zu direkten militärischen Zusammenstößen entlang der Grenzen des Naturschutzgebiets kommen, wäre das eine echte Katastrophe.
Wie geht es jetzt weiter?
In diesem Jahr jährt sich der Geburtstag des Gründers des Reservats, Friedrich von Falz-Fein, zum 160. Mal. Trotz der schwierigen Umstände haben wir eine Sondersitzung abgehalten und arbeiten an einer Sammlung von Dokumenten, die diesem Anlass gewidmet sind. Es ist unsere Aufgabe und die der gesamten internationalen Gemeinschaft, alles dafür zu tun, dass sein Lebenswerk erhalten bleibt. Ich bin noch im Amt. Und hoffe, dass die Befreiung des Gebiets in naher Zukunft stattfindet. Dann werde ich nach Askania-Nova zurückkehren und meine Arbeit wieder voll aufnehmen.
Das Interview wurde auf ukrainischer Sprache geführt mit Hilfe einer Übersetzerin.
Redaktion: Judka Strittmatter, Übersetzung: Alona Myshakova, Schlussredaktion: Rebecca Kelber, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger