Deutschland im Herbst 2018: In Köln gleicht das Rheinufer einer Steinwüste, so weit hat sich das Wasser zurückgezogen. In Oberwesel ragen Sandbänke aus dem Fluss. Vor Düsseldorf durchziehen Risse das ausgetrocknete Flussbett. Die wichtigste Wasserstraße Europas ist nur noch ein Rinnsal. Binnenschiffe müssen ihre Lademengen reduzieren oder gleich ganz im Hafen bleiben. Transportketten geraten ins Stocken. Unternehmen stellen die Produktion ein. In Nordrhein-Westfalen wird der Sprit zeitweise knapp und teurer, weil nur noch deutlich geringere Mengen Kraftstoff über den Fluss transportiert werden können. Die Ursache: Trockenheit und Hitze. Am Ende beträgt der wirtschaftliche Schaden rund fünf Milliarden Euro.
Dass es nicht noch schlimmer geworden ist, lag auch an dem Schnee- und Gletscherschmelzwasser, das aus den Alpen kam. Normalerweise ist dessen Anteil im Rhein relativ niedrig. Doch bei Niedrigwasser steigt er und lindert die Folgen der Dürren. Wie viel Schmelzwasser aus den Alpen kommt, ist in Krisenzeiten also besonders wichtig. Dann zählt beim Pegelstand jeder Zentimeter, damit Schiffe weiterhin fahren, Unternehmen weiterhin liefern und Industrieanlagen am Laufen bleiben können.
Durch den Klimawandel ist zunehmend mit lang anhaltenden Perioden von Hitze und Trockenheit in den Sommern zu rechnen – und damit auch mit extremem Niedrigwasser am Rhein. Der Herbst 2018 lieferte daher einen Vorgeschmack auf die Zukunft.
Aber die Klimaerwärmung bringt nicht nur mehr Trockenheit und Hitze am Rhein, sie sorgt auch dafür, dass die Alpengletscher schmelzen. Jedes Jahr verlieren sie an Masse. Wenn das Eis allerdings erst verschwunden ist, wird auch kein Gletscherschmelzwasser mehr in den Rhein fließen.
Wenn der Zustand der Gletscher über die Schifffahrt am Rhein entscheidet
„Eigentlich ist der Anteil von Gletscherwasser im Rhein sehr gering“, erklärt Jörg Belz, Hydrologe an der Bundesanstalt für Gewässerkunde in Koblenz. In Köln liege er normalerweise bei rund einem Prozent. Viel ist das nicht. Doch das ändert sich bei Niedrigwasser in sommerlichen Hitzeperioden: Bis zu 15 Prozent betrug der Anteil von Gletscherschmelzwasser im Rhein bei Köln im August 2018. Im Hitzesommer 2003 waren es bei Kaub sogar bis zu 20 Prozent.
„Wenn dieses Wasser nicht gewesen wäre, wäre der Wasserstand nicht nur früher und länger in kritische Bereiche abgesunken, er hätte auch ein deutlich tieferes Niveau erreicht“, sagt Belz. Konkret bedeutet das: 2018 wäre der Wasserpegel im Rhein bei Köln ohne Gletscherwasser noch rund 30 Zentimeter tiefer gesunken. Was zunächst vielleicht nach wenig klingt, hätte für die Schifffahrt jedoch fatale Auswirkungen gehabt.
Allein in Deutschland laufen 80 Prozent des Binnenschiff-Güterverkehrs über den Rhein. 182,5 Millionen Tonnen Güter werden pro Jahr auf dem Fluss transportiert. Auf dem Niederrhein sind jährlich knapp 200.000 Schiffe unterwegs, rund 550 Schiffe pro Tag. Bislang verlassen sich viele Unternehmen auf den Fluss wie auf eine gut laufende Maschine. Doch damit dürfte es bald vorbei sein.
Die Zukunft des Rheins: Niedrigwasser im Sommer, Hochwasser im Winter
„Im Laufe des 21. Jahrhunderts werden wir uns am Rhein im Vergleich zur Gegenwart auf eine stärker schwankende Wasserführung einstellen müssen“, sagt Jörg Belz. Was er damit meint: Die Extreme nehmen zu. Im Winter wird es zukünftig häufiger Hochwasser am Rhein geben, im Sommer mehr Niedrigwasser. Der Ausnahmezustand wird normaler und damit auch Perioden von Niedrigwasser wie jene im Sommer 2018.
Einer Studie der Bundesanstalt für Gewässerkunde und anderer Behörden zufolge könnten extreme Niedrigwasserereignisse wie 2018, die bisher statistisch alle 20 bis 60 Jahre auftraten, bis zum Ende des Jahrhunderts alle fünf bis 15 Jahre kommen. Die Transportkapazität des Rheins droht bis zum Jahr 2050 um bis zu zehn Prozent zu sinken. Bis dahin gleicht das Gletscherschmelzwasser die Folgen von Trockenheit und Hitze teilweise aus. Danach jedoch, wenn Gletscher gänzlich abschmelzen, könnte es noch extremer werden: Bis Ende des Jahrhunderts droht ein Rückgang um fast ein Viertel.
Schließlich gilt: Je niedriger der Wasserstand, desto weniger Fracht können die Schiffe transportieren. 2018 waren viele Schiffe nur mit einem Viertel ihrer normalen Kapazität beladen. Das macht den Transport teurer. Bei Niedrigwasser zahlen Unternehmen auch sogenannte Kleinwasserzuschläge, die zu den normalen Frachtsätzen addiert werden und umso höher steigen, je niedriger der Wasserpegel fällt. Der Gütertransport wird also teurer und lohnt sich ab bestimmten Pegelständen womöglich gar nicht mehr. Manche Unternehmen werden warten müssen, bis sie ihre Waren wieder transportieren können. Wobei auch die Zwischenlagerung kostspielig ist oder je nach Produkt gar nicht machbar. Lieferengpässe sind die Folge.
Sind neue, leichtere Schiffe die Lösung?
Stolz verkündete der Chemiekonzern BASF Ende Mai 2023 in einer Pressemitteilung die Taufe der „Stolt Ludwigshafen“, eines neuen Transportschiffes, das auch bei extremem Niedrigwasser fahren kann: „Nach dem Extrem-Niedrigwasser des Rheins im Jahr 2018 haben wir ein umfassendes Programm zur Verbesserung der Klimaresilienz des Standorts Ludwigshafen aufgelegt“, sagte dazu Uwe Liebelt, der Präsident der Europäischen Verbundstandorte der BASF.
Das Stammwerk von BASF liegt in Ludwigshafen, direkt am Rhein. Knapp 40.000 Menschen arbeiten dort. Rund 40 Prozent seiner Güter transportiert der Konzern per Schiff. Das Niedrigwasser von 2018 führte bei BASF damals zeitweise sogar zum Produktionsstopp. Die Kosten waren enorm. Damit sich das nicht wiederholt, wurde der Bau der „Stolt“ in Auftrag gegeben. Das Schiff kann selbst bei extrem niedrigen Pegeln ungefähr doppelt so viel Ladung transportieren wie die bisher verfügbaren Niedrigwasser-Schiffe.
Die Entwicklung der „Stolt“ ist nicht die einzige Maßnahme des Konzerns, um sich auf Klimaveränderungen vorzubereiten. Gemeinsam mit der Bundesanstalt für Gewässerkunde hat BASF in Ludwigshafen ein Frühwarnsystem entwickelt, das sie bis zu sechs Wochen im Voraus vor Niedrigwasser warnt. Außerdem arbeite BASF inzwischen flexibler, sagt eine Sprecherin auf Anfrage: Im Notfall könne man Güter jetzt auch schneller per Bahn transportieren.
BASF bereitet sich also vor. Die Entwicklung neuer, moderner Niedrigwasser-Schiffe muss man sich jedoch leisten können. Und auch weiterhin gilt: Je niedriger der Wasserstand, desto teurer wird der Transport. Je extremer also das Klima der Zukunft, desto häufiger Extremwetter, desto schwieriger die Anpassung – und desto wichtiger das Schmelzwasser aus den Alpen.
Seit 2022 hat Deutschland nur noch vier Gletscher
Ende Mai 2023 begann die Sommersaison an der Zugspitze: Die Sonne blendet, vereinzelt ziehen Nebelschwaden den Berg hinauf. Nike-Sneakers, Patagonia-Westen und Chanel-Taschen drängen sich in die Seilbahn zum Gipfel. Ein Besucher erklärt seinem Dackel liebevoll, wo er sich befindet: 2.962 Meter über dem Meeresspiegel. Hier, gleich unterhalb von Deutschlands höchstem Berg, liegt auch einer der letzten vier Gletscher des Landes, der Nördliche Schneeferner. Die Frage ist nur: wie lange noch?
„In zehn bis 15 Jahren dürfte er vermutlich verschwunden sein“, sagt Laura Schmidt, Geografin und Sprecherin der Forschungsstation Schneefernerhaus. Während sie an zahlreichen Messgeräten vorbeiläuft, deutet sie auf den Hang gegenüber. Mitte des 19. Jahrhunderts war noch das gesamte Zugspitzplatt vergletschert, sagt sie. Heute ist davon kaum noch etwas übrig. In den vergangenen Jahren schmolz so viel Eismasse ab, dass der Südliche Schneeferner seit 2022 nicht mehr als Gletscher gilt. Ein ähnliches Schicksal erwartet auch die anderen deutschen Gletscher an der Zugspitze und in den Berchtesgadener Alpen.
Auf den ersten Blick wirkt das nicht weiter dramatisch: Für die Wasserversorgung der Umgebung sind die bayerischen Gletscher unbedeutend. Sie liegen oben im Gebirge und sind viel zu klein. Doch gerade deshalb reagieren sie besonders stark und schnell auf Klimaveränderungen. Das heißt, sie funktionieren wie ein Indikator. An ihnen lässt sich ablesen, was auf uns zukommt – und wovor Expert:innen schon lange warnen. Allein 2022 haben die Alpengletscher laut Europäischem Klimabericht fünf Kubikkilometer Eis verloren. Das ist ungefähr so viel, als würde man 12.279 Kölner Doms mit Eis befüllen. Und in Zukunft dürfte es noch mehr werden.
Ende des Jahrhunderts werden bis zu 90 Prozent der Alpen-Gletscher verschwunden sein
„In Deutschland haben wir nur noch wenige Jahre, bis das Eis verschwunden sein wird“, sagt der Glaziologe Christoph Mayer. In seinem Büro im dritten Stock der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München türmen sich Bücher, Karten und Zeitschriften. Seit knapp 20 Jahren erforscht Mayer die Alpen-Gletscher. Eine Woche zuvor war er selbst noch an einem Gletscher im österreichischen Ötztal unterwegs, dem Vernagtferner.
„Anfang Mai messen wir, wie viel Schnee über den Winter dazukommt“, erklärt er. Im Herbst schauen er und sein Team dann, wie viel Eis über den Sommer abgeschmolzen ist. So können sie berechnen, wie die Gletscher sich verändern. Und seit etwa 15 Jahren verändern sie sich massiv: „Wir sind von einer Phase des moderaten Verlusts in eine Phase der Beschleunigung eingetreten“, sagt Mayer.
Seit der Industrialisierung hat der Mensch dafür gesorgt, dass die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre massiv zunimmt. Insbesondere dadurch, dass er fossile Energiequellen wie Kohle, Öl und Gas verbrennt. Deshalb ist es heute weltweit bereits durchschnittlich 1,1 Grad wärmer als zu vorindustriellen Zeiten. Das macht auch den Gletschern zu schaffen. Denn Gletscher sind Eismassen, die sich über lange Zeiträume durch Schneeansammlung und Verdichtung bilden. Sie entstehen in Gebieten, in denen im Winter mehr Schnee fällt, als im Sommer schmilzt. Im Verlauf vieler Jahre bildet sich so eine dicke Eisschicht, die in Bewegung ist. Doch aufgrund der Klimaerwärmung verlieren die meisten Alpengletscher inzwischen zu viel Eis.
Weil die Klimakrise ab einer Erwärmung von 1,5 Grad wesentlich gefährlicher wird, haben sich 195 Staaten im Pariser Klimaabkommen von 2015 darauf geeinigt, die Klimaerwärmung auf „deutlich unter“ zwei Grad zu begrenzen, idealerweise auf 1,5 Grad. Doch selbst wenn das gelingt, würden bis 2100 ungefähr 60 Prozent des Gletschereises in den Alpen verschwinden, erklärt Mayer. Sie befinden sich schon jetzt weit außerhalb ihres Gleichgewichts.
Laut dem neuesten Bericht des Weltklimarats IPCC ist die Menschheit aktuell aber weit davon entfernt, das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten: Mit der derzeitigen Klimapolitik wird die Welt sich bis 2100 sogar um etwa 3,2 Grad erwärmen. Christoph Mayer hält es deshalb für realistisch, dass ein Großteil der Alpen Ende des Jahrhunderts eisfrei sein wird. Bis zu 90 Prozent der Alpengletscher könnten dann verschwunden sein. „Das heißt aber nicht, dass es 2100 aufhört“, sagt Mayer, „das geht natürlich weiter.“
Klimawandel in den Alpen: Mit jedem Höhenmeter wird es wärmer
„Die großen Trends des Klimawandels sind seit mindestens 20 Jahren gut bekannt“, sagt Harald Kunstmann, stellvertretender Institutsleiter am Campus Alpin des Karlsruher Institutes für Technologie (KIT) in Garmisch-Partenkirchen: „Es wird heißer, es wird extremer, und es wird trockener, aber auch die Hochwasserrisiken steigen.“
Hier, bloß wenige Kilometer von der Zugspitze entfernt, berechnen Kunstmann und sein Team das Klima der Zukunft. Dafür arbeiten sie mit komplexen Computermodellen. Unter Berücksichtigung der steigenden Treibhausgase erstellen sie Prognosen über Temperaturen, Niederschläge, Windsysteme und den Wasserhaushalt.
Auf seinem Laptop führt Kunstmann die Ergebnisse einer solchen Simulation vor. Für den gesamten Alpenraum ist zu sehen, wie sich das Wetter bis 2050 bei steigenden Treibhausgasen verändert. Kunstmann deutet auf die Alpen-Karte auf seinem Bildschirm. „Immer wenn die Karte rot ist, ist es wärmer als der Mittelwert zwischen 1991 und 2020“, sagt er. „Wenn es blau ist, ist es kälter.“ Dann drückt er auf „Play“.
Je weiter die Simulation in die Zukunft geht, desto häufiger färbt sich die Karte rot. Doch nicht nur das: Das Rot wird auch immer dunkler. Es wird also insgesamt heißer. Und: Je höher ein Ort liegt, desto größer ist der Temperaturanstieg. „Das nennen wir die höhenabhängige Erwärmung“, sagt Kunstmann. Der englische Fachausdruck: Elevation Dependent Warming. Mit jedem Höhenmeter ist die Klimaerwärmung deutlicher zu spüren. In den Alpen liegt sie heute schon bei über zwei Grad, mehr als der weltweite Durchschnitt. Weil Gletscher in den Bergen liegen, beschleunigt dieses Phänomen ihr Abschmelzen. Doch steigende Temperaturen sind nur ein Problem. Das andere: Gletscher leben von Niederschlag im Winter. Sie brauchen Neuschnee.
Klimaerwärmung bedeutet nicht, dass es in den Alpen in Zukunft grundsätzlich weniger Niederschlag gibt. Das zeigt auch Kunstmanns Simulation. Während es im Sommer trockener wird, gibt es im Winter weiterhin Niederschlag. Doch dieser kommt in Zukunft immer häufiger in flüssiger Form vom Himmel – als Regen statt als Schnee. Aufgrund der Klimaerwärmung bekommen die Gletscher, aber auch die Alpen insgesamt also weniger Neuschnee. Das gefährdet nicht nur den Rhein.
Weniger Schnee- und Gletscherschmelzwasser betreffen auch Italien und Frankreich
Der Po, Italiens größter Fluss, ist im Frühjahr 2023 bloß ein Rinnsal. Er entspringt in den Cottischen Alpen, nahe der französisch-italienischen Grenze und mündet in der Nähe von Venedig ins Mittelmeer. Auf der Po-Ebene, einem fruchtbaren Tiefland im Norden Italiens, werden Reis und Früchte für die gesamte EU angebaut. Doch aktuell ist der Fluss bloß ein schmaler Wasserstreifen.
Laut der Autorità di Bacino Distrettuale del Fiume Po (AdBPo), liegt der Wasserdurchfluss in der Provinz Cuneo bei minus 70 Prozent. Die Behörde warnt bereits vor unfruchtbaren Böden für die Landwirtschaft. Ein Grund ist die anhaltende Trockenheit. Der andere: Schneemangel. Schmelzwasser aus den Bergen versorgt das Po-Becken im Frühling normalerweise mit Wasser. Doch im Winter fiel fast zwei Drittel weniger Schnee als im Durchschnitt.
Und in Frankreich? Dort war im vergangenen Jahr zu beobachten, wie zu niedrige Wasserpegel und Wärme potenziell die Stromversorgung beeinträchtigen können: Entlang der Rhône, die am Rhônegletscher in den Schweizer Alpen entspringt, mussten Kraftwerke kurzzeitig gedrosselt werden, weil sie nicht ausreichend mit Wasser gekühlt werden konnten. Und auch der Rhônegletscher wird 2100 wahrscheinlich einen Großteil seines Volumens verloren haben.
Europas Flüsse stehen also vor einer unsicheren Zukunft. Gemeinsam tragen sie rund 80 Milliarden Euro zur Wirtschaftsleistung der EU bei. Wie genau sich das Schmelzen der Gletscher darauf auswirkt, ist noch nicht absehbar. Hydrologe Jörg Belz findet aber noch einen anderen Punkt wichtig: Bislang handelt es sich bei den Berechnungen zu Folgen des Klimawandels für den Rhein um Prognosen. „Realität werden diese nur, wenn es in absehbarer Zeit nicht gelingt, die Treibhausgasemissionen substanziell zu verringern“, sagt er.
Dieser Artikel ist mit der Unterstützung des Journalismfund Europe entstanden.
Redaktion: Andrea Walter, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger