Ein Mann läuft neben einem Nashorn her, er trägt eine grüne Uniform. Im Hintergrund sieht man Bäume.

Alle Fotos: © Biorescue

Klimakrise und Lösungen

Interview: „Jedes Nashornbaby wird ungefähr eine Million Euro kosten“

Najin und Fatu sind die letzten Nördlichen Breitmaulnashörner der Welt, beide weiblich und unfruchtbar. Thomas Hildebrandt will ihren Nachwuchs in der Petrischale züchten. Lohnt sich das?

Profilbild von Leoni Bender

Die beiden letzten Nördlichen Breitmaulnashörner der Welt leben im Ol-Pejeta-Reservat in Kenia. Sie sind die letzten ihrer Art und daran können Najin und Fatu aus eigener Kraft auch nichts mehr ändern: Sie sind weiblich und unfruchtbar.

2019 startete deshalb ein Biorescue-Programm, das die nördlichen Breitmaulnashörner mit Hilfe von assistierter Reproduktion zurückholen möchte: Embryonen aus dem Reagenzglas. Der Reproduktionsmediziner Thomas Hildebrandt vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) in Berlin leitet das Projekt. Ich habe mit ihm darüber gesprochen, wie sinnvoll die Rettung wirklich ist, wofür die Nashörner Soldaten und ein „Ethik-Team“ brauchen und wann mit Kälbern zu rechnen ist.


Wir verlieren etwa jede Stunde eine Pflanzen- oder Tierart. Wie wichtig ist da die Rettung des Nördlichen Breitmaulnashorns?

Es geht nicht nur um den Erhalt des Nördlichen Breitmaulnashorns. Bei dem Projekt geht es um die Rettung einer Schlüsselart und um den Erhalt eines sehr komplexen Ökosystems. Nashörner verteilen Pflanzensamen, bereiten Dünger auf und geben Nahrung für Insekten ab, die wiederum Nahrung für andere Tiere ist. Das bedeutet, wenn man das Nördliche Breitmaulnashorn rettet, dann rettet man auch Tausende von anderen Arten, die direkt oder indirekt mit diesem Nashorn verbunden sind.

Also ist die Rettung des Nashorns eine Naturschutzmaßnahme?

Naturschutz im 4.0-Modus, würde ich eher sagen. Zum einen ist Reproduktionsmedizin die Hochburg der biologischen Forschung. Sie hat aber auch den Mehrwert, dass wir direkt in den Artenschutz eingreifen können und Ökosysteme wieder aktiv reparieren können. Das ist unser Ziel. Und wir wollen auch zeigen, wie dumm es eigentlich ist, Ökosysteme so massiv zu schädigen.

Da stimme ich dir zu. Aber ist die Rettung auch wirklich sinnvoll?

Klar, das kann man sich immer fragen. Auch wir fragen uns das. Aber wir machen das nicht nur, weil wir es machen können, sondern weil die nördlichen Breitmaulnashörner aus unserer Sicht ökologisch und global von Bedeutung sind. Ich glaube, das ist wirklich eine Art Werteabschätzung. Deshalb ist es auch so wichtig, ein Ethik-Team dabei zu haben.

Was macht so ein Ethik-Team?

Wir wissen, dass Wissenschaft von den Augen der breiten Öffentlichkeit häufig anders gesehen wird als von uns selbst. Mithilfe des Ethik-Teams wollen wir vermeiden, dass es ein Elfenbeinturm-Projekt wird, was auf wenig Verständnis trifft. Und deshalb suchen wir sehr aktiv die Auseinandersetzung und Diskussion, zum Beispiel in den sozialen Medien. Wir haben zwei Philosophen bei uns im Biorescue-Projekt, die diesen Part aktiv übernehmen.

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Was für Fragen sind das?

Darf man einem Tier Leid zufügen, wenn man ein anderes Tier retten kann? Oder: Darf man Ressourcen verwenden, die überproportional für die Rettung einer Tierart eingesetzt werden, wenn davon zum Beispiel Schulklassen unterrichtet werden könnten? Dafür muss man genau ausarbeiten, um was es hier wirklich geht. Und das ist die Rettung einer Schlüsselart.

Aber das Nördliche Breitmaulnashorn ist ökologisch bereits ausgestorben. Diese Schlüsselrolle im Ökosystem kann es doch auch aktuell schon gar nicht mehr erfüllen?

Das ist richtig. Aber Ökosysteme haben eine gewisse Trägheit. Das heißt also, bevor dramatische Dysfunktionen entstehen, dauert es. Wenn eine Schlüsseltierart herausgenommen wird, dann hat das natürlich dramatische Konsequenzen auf lange Sicht, aber nicht auf sofortige Sicht. Es wird nicht in fünf Jahren das Ökosystem zusammenbrechen, weil keine Nördlichen Breitmaulnashörner mehr da sind. Aber es wird in 50 oder 100 Jahren spürbare Konsequenzen haben.

Menschen knien vor einem Nashorn, dem ein Metallstab aus dem Hintern tagt. Sie sehen lachend auf einen Bildschirm.

Thomas Hildebrandt (in der Mitte) und sein Team haben es bereits mehrfach geschafft, Fatu Eizellen zu entnehmen. Die Embryonen sollen von einen Südlichen Breitmaul-Weibchen ausgetragen werden. © Biorescue

Also bleibt noch ein bisschen Zeit, bis Auswirkungen zu spüren sind.

Ja. Und wir wollen 20 bis 30 Tiere wieder zurück in den Kongo bringen. Dass Wiederansiedlung funktionieren kann, zeigen Erfolgsstorys zum Beispiel des Europäischen Bisons oder des Kalifornischen Kondors. Man muss aber sagen, dass unser Projekt wirklich das ambitionierteste ist. Also wir haben zwei unfruchtbare Tiere und das Ziel, eine gesunde Population aufzubauen. Wir denken aber, dass wir das schaffen können.

Wir haben zwei unfruchtbare Tiere und das Ziel, eine gesunde Population aufzubauen. Wir denken aber, dass wir das schaffen können.
Reproduktionsmediziner Thomas Hildebrandt

Najin und Fatu können selbst aus gesundheitlichen Gründen keine Nachkommen austragen. Die Forschenden setzen deshalb auf künstliche Befruchtung und Stammzellforschung. Von dem jüngeren Weibchen Fatu entnommene Eizellen wurden mit dem Sperma bereits verstorbener Nördlicher Breitmaul-Bullen im Labor künstlich befruchtet. Die Embryonen sollen von Leihmüttern – Südlichen Breitmaulnashörnern – ausgetragen werden. Parallel arbeiten die Wissenschaftler:innen an Stammzell-Techniken: Ende 2022 gelang es erstmals, aus Hautzellen des nördlichen Breitmaulnashorns sogenannte Urkeimzellen herzustellen. Aus denen können unter den richtigen Bedingungen sowohl Ei- als auch Spermienzellen erzeugt werden. Der Wissenschaftler Masafumi Hayashi von der Osaka University, der Teil des Biorescue-Teams ist, veröffentlichte die Ergebnisse in einer Studie. Der Stammzellen-Ansatz ist deshalb so wertvoll, weil dadurch das Genmaterial von weiteren verstorbenen Nördlichen Breitmaulnashörnern Teil des Programms werden kann. Eine hohe genetische Vielfalt ist die Voraussetzung einer gesunden Population.

Wie ist denn der aktuelle Stand? Könnt ihr das Nashorn retten?

Mit dem Einsatz von assistierter Reproduktion ist es uns gelungen, die ersten Embryonen zu produzieren. Mittlerweile haben wir 24 von diesen hochwertigen Embryonen und sind jetzt dabei, die ersten Übertragungversuche mit dem Südlichen Breitmaulnashorn zu machen. Das erfolgt mit Südlichen Breitmaulnashorn-Embryonen, um zu beweisen, dass der Ansatz funktioniert. Wenn das geklappt hat, machen wir mit den kostbaren Embryonen vom Nördlichen Breitmaulnashorn weiter. Aber wir sind unter Zeitdruck.

Wieso das, ich dachte, ihr habt noch 50 bis 100 Jahre?

Weil wir davon ausgehen, dass es nicht nur um den Erhalt der genetischen Vielfalt geht, sondern auch um die soziale Vererbung. Das Nördliche und das Südliche Breitmaulnashorn unterscheiden sich sehr stark voneinander. Wir hoffen, dass wir die ersten Kälber zur Welt bringen, wenn die beiden Tiere noch leben. Damit sie sie aufziehen können, sozusagen. Sie sollen auf das Baby übertragen können, wie sie sich verhalten und kommunizieren.

Hände arbeiten an einer kleinen Petrischale, die unter einem Mikroskop liegt. Mit einer Pipette wird etwas in die Schale gegeben.

Die entnommenen Eizellen werden mit dem Sperma eines bereits verstorbenen Nördlichen Breitmaul-Bullens im Labor künstlich befruchtet. © Biorescue

Also wird es bald Nördliche Nashorn-Kälber geben?

Wir haben jetzt nochmal eine Finanzierung bis Dezember 2025 und wir hoffen, dass bis zu diesem Zeitpunkt ein Kalb zur Welt kommt. Weil wir danach dann auch nicht genau wissen, wie es mit den Ressourcen weitergehen wird.

Die Finanzierung kommt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie durch Spenden.

Genau. Der Großteil stammt mit 6,2 Millionen über sechs Jahre vom BMBF. Aber wir haben intern kalkuliert, dass jedes Baby ungefähr eine Million Euro kosten wird. Und diese Ressourcen haben wir im Augenblick nicht zur Verfügung. Wir brauchen noch mehr Unterstützung. Aber prinzipiell müssen wir auch als Wissenschaftler:innen erstmal zeigen, dass wir nicht Dinge versprechen, die sich dann nicht realisieren lassen.

Wir haben kalkuliert, dass jedes Baby ungefähr eine Million Euro kosten wird.
Reproduktionsmediziner Thomas Hildebrandt

Aber selbst wenn es gelingt, wie würde denn das Zukunftsszenario aussehen? Die Nashörner sind durch Wilderei ausgestorben und die Jagd auf sie ist ja weiterhin ein großes Problem.

Es gibt das wunderbare Beispiel des Tasmanischen Tigers. Der wurde im 20. Jahrhundert noch für Geld gejagt. Heute gibt der Australische Staat Millionen für Forschung aus, um die ausgestorbene Art wieder zurückzuholen. Das zeigt, dass die Regierung innerhalb von wenigen hundert Jahren eine 180-Grad-Wendung gemacht hat. Und ich glaube auch, dass in Zentralafrikanischen Staaten das Bewusstsein in den jüngeren Generationen größer wird, dass das Nördliche Breitmaulnashorn Natural Heritage, also Nationales Naturerbe ist. Und dass die Touristen in ihre Länder reisen, um diese besonderen Tiere zu sehen. Es wäre sehr dumm, diese Tiere der Wilderei zu opfern, wenn man dafür Tausende von Touristen ins Land kriegt.

Gibt es von eurer Seite eine Zusammenarbeit mit der Politik in Kenia?

Wir haben über die vergangenen vier Jahre ein extrem gutes Verhältnis mit dem Kenya Wildlife Service aufgebaut, also der staatlichen Organisation in Kenia, die für den Erhalt der Nationalparks sorgt, und auch der Tourismusminister hat mehrmals persönlich an diesen Untersuchungen der Tiere teilgenommen. Wir haben eine Partnerschaft entwickelt mit unseren Kolleg:innen in Kenia, die darauf abzielt, dass wir gemeinsam mit allen Möglichkeiten das Ziel verfolgen, das Nördliche Breitmaulnashorn zu retten.

Seit wann ist die Lage für Nördliche Breitmaulnashörner eigentlich so brenzlig?

Das letzte Baby, das in Menschenhand geboren wurde, war Fatu, das war im Jahr 2000. Und bis etwa 2003 gab es auch relativ regelmäßige Geburten im Garamba National Park in der Demokratischen Republik Kongo. Das war der letzte Ort, wo Nördliche Breitmaulnashörner gemanagt und gesehen wurden. Und die hat dann in kürzester Zeit die ugandische Rebellengruppe Lord Resistance Army ausgerottet. Ab 2006 gab es keine Nördlichen Breitmaulnashörner mehr in freier Wildbahn.

Ein Nashorn steht auf einer Wiese. Der Himmel ist wolkenverhangen.

Seit 2006 gibt es keine Nördlichen Breitmaulnashörner mehr in freier Wildbahn. © Biorescue

Und mittlerweile gibt es nur noch die beiden Weibchen Najin und Fatu, die im Ol-Pejeta-Reservat in Kenia leben. Wie geht es denn den beiden, wie leben sie?

Najin und Fatu geht es in dem Reservat hervorragend. Beide Nashörner werden rund um die Uhr von Soldaten bewacht, so dass der Verlust über mögliche Wilderei ausgeschlossen ist. Außerdem haben sie fünf Pfleger, die sich permanent um sie kümmern.

Die 34-jährige Najin hat leider einen handballgroßen Ovartumor, man sieht ihr aber diese schwere innere Erkrankung nicht an. Die 23-jährige Fatu hat mehrere Zysten und Fibrome, also kleine gutartige Hautknoten an der Gebärmutter entwickelt, sodass sie keinen Nachwuchs bekommen kann. Sonst ist sie sehr gesund. Im März 2018 ist der letzte Bulle, er hieß Sudan, mit über 40 Jahren gestorben. Beziehungsweise: Er musste aus gesundheitlichen Gründen eingeschläfert werden.

Najin und Fatu geht es in dem Reservat hervorragend. Beide Nashörner werden rund um die Uhr von Soldaten bewacht und haben fünf Pfleger, die sich permanent um sie kümmern.
Thomas Hildebrandt vom Leibniz-IZW in Berlin

War das ein schlimmes Gefühl für dich, den letzten Bullen gehen zu lassen?

Nein, Emotionen sind gut, aber helfen den Tieren eigentlich nicht. Im direkten Umgang mit den Tieren bin ich immer wie eine Maschine. Und Sudan ist ja im weitesten Sinne nicht richtig tot. Wir haben 2014 Sperma und Hautzellen gewonnen. Die werden wir auf jeden Fall in unserer Stammzellenforschung einsetzen und hoffen, dass wir da noch neue Nachkommen produzieren können.

Ich habe vor Kurzem gelesen, dass sich die Zukunft des Nashorns in einer Petrischale entscheiden wird. Kann man das so sagen?

Ja, auf jeden Fall. Zum ersten Mal muss eine Großtierart in die Petrischale, um weiterleben zu dürfen. Wir Menschen können wirklich verrückte Dinge machen. Wir können Arten ausrotten, sie aber auch durch die Petrischale wieder zurückholen.

Manche Organisationen gehen noch weiter als ihr. Die US-amerikanische Firma Colossal arbeitet an „De Extinction“-Projekten. Sie wollen beispielsweise das seit Tausenden von Jahren ausgestorbene Mammut zurückholen. Die Schlüsselfunktion dieser Tiere haben wir damit schon lange verloren. Wie sinnvoll findest du solche Projekte für den Artenschutz?

Das ist eine sehr gute Frage. Erstmal muss ich sagen, dass ich tatsächlich Scientific Advisor für Colossal bin. Aber ich finde ihre Begründung, dass sie das Mammut zurückholen, um Ökosysteme zu reparieren, doch sehr an den Haaren herbeigezogen. Die Motivation, warum ich da mitmache, ist, dass Colossal eine gigantische Werbemaschinerie ist, die es geschafft hat, Unmengen an Geld zu sammeln. Das bedeutet, dass dort eine Maschinerie der Technologieentwicklung entstehen wird. Also das Zurückholen des Mammuts hat überhaupt nichts mit Artenschutz zu, aber die Technologien, die dort im Prozess des Mammut-Projektes entwickelt werden, können durchaus eine hohe Bedeutung für den Artenschutz haben.

Nimmt das nicht Spenden für den Schutz von anderen Tieren weg?

Nein, Colossal ist eine am Börsenmarkt notierte Firma. Das sind also Investoren, die sich erhoffen, daraus Geld zu machen. Keine Gutmenschen, sondern Finanziers oder Hedgefonds. Das ist ein völlig anderes Konzept und funktioniert wahrscheinlich auch nur in den USA. Aber da sehr erfolgreich.

Wir sollten den Verlust einer Großtierart als Supergau ansehen.
Thomas Hildebrandt, Leiter des Biorescue-Programms

Hast du das Gefühl, dass durch solche Projekte der Eindruck entsteht, dass wir alles irgendwie im Nachhinein reparieren können? Und dadurch die Dringlichkeit verdrängt wird, jetzt Arten schützen zu müssen?

Das wird uns teilweise auch vorgeworfen. Also, dass wir eine Art „Blank-Card“ für schlechte politische Entscheidungen ausstellen. Dem würde ich sehr widersprechen. Wir können deutlich aufzeigen, wie aufwändig sowas ist und mit wie vielen Narben eine solche Reparatur eines Ökosystems einhergeht. Jeder mit gesundem Menschenverstand wird begreifen, dass das nicht gängige Praxis werden sollte. Wir sollten den Verlust einer Großtierart als Supergau ansehen. Man kann das natürlich reparieren und wir werden den Weg dazu aufzeigen, aber man sollte das nicht als Routine ansehen.


Danke an die KR-Leser:innen Ute und Andreas, für euren Input bei der Recherche.

Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

„Jedes Nashornbaby wird ungefähr eine Million Euro kosten“

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