Steigende Meeresspiegel, mehr Hitze, zu viel und zu wenig Regen – viele Menschen kennen und beschäftigen sich mit diesen Folgen des Klimawandels. Aber eine Frage wird dabei oft ausgespart; wir reden lieber um sie herum, als uns konkret mit ihr auseinanderzusetzen: Wie viele Menschen werden wegen des Klimawandels umziehen müssen? Und vor allem: Wohin ziehen sie?
Meine Vermutung ist: Wir können diese Klimamigration nicht mehr lange verdrängen. So wie die Stürme heftiger und die Sommer trockener werden, so werden sich in diesem und den nächsten Jahrzehnten immer mehr Menschen auf den Weg in klimatisch günstigere Gegenden machen. Wie diese Migration ablaufen wird, wird die Gesellschaften von morgen entscheidend prägen.
Gaia Vince ist eine britische Klimajournalistin und legt mit ihrem neuen Buch eine so mutige wie radikale Vision für dieses Jahrhundert vor: Sie will, dass die Menschheit ein großes geordnetes Umsiedlungsprogramm beginnt – und wir alle anfangen, darüber nachzudenken, wie Millionenstädte am Polarkreis funktionieren könnten. Ich habe mich mit ihr per Zoom darüber unterhalten, warum Deutschland schon heute anfangen müsste, Menschen aus klimagefährdeten Regionen aktiv aufzunehmen, welche Rolle Grenzen in einer Welt des Klimawandels noch spielen können und wo das Essen der Zukunft herkommen wird.
Sie haben ein Buch mit dem Titel „Nomad Century“ geschrieben, in dem Sie eine große Welle von Klimamigrationen vorhersagen. Solche Prognosen gab es früher auch schon, etwa von der Uno. Die mussten dann zurückgenommen werden. Was macht Sie so sicher, dass wir wirklich eine große Welle von Klimamigration erleben werden?
Die Klimamigration ist bereits unvermeidlich und hat begonnen. Millionen von Menschen sind auf dem Weg. Die Prognosen reichen von Hunderten von Millionen bis zu 1,5 Milliarden Migranten bis zum Jahr 2050. Der Klimawandel wird aber nicht zwangsläufig der einzige Grund sein, der die Menschen zur Flucht zwingt. Die Klimakrise verstärkt Bedrohungen.
Was heißt das?
Das bedeutet, dass es Menschen gibt, die bereits mit vielen Herausforderungen konfrontiert sind, wie etwa Armut oder Rassismus. Sie müssen möglicherweise gewaltsame Konflikte ertragen, haben nicht genug zu essen und sind mit Umweltproblemen wie dem Verlust von Wäldern oder verschmutzten Flüssen konfrontiert. All diese Dinge summieren sich. Und dann werden die durch den Klimawandel verursachten Dürren, Brände oder unerträgliche Hitze der letzte Auslöser sein, der die Menschen zur Abwanderung zwingt.
Ihre Zahlen sind aber relativ unkonkret, was die Flüchtenden betrifft: Zwischen Hunderten Millionen und 1,5 Milliarden Menschen liegt eine riesige Spannbreite.
Die ganz genaue Zahl der Menschen, die umziehen müssen, steht noch nicht fest. Das ist auch der springende Punkt in meinem Buch. Denn darin liegt etwas Gutes: Wir haben viele Möglichkeiten! Wenn wir den Klimawandel viel schneller aufhalten, als wir es jetzt tun, werden weniger Menschen umziehen müssen. Wenn wir in bestimmten Gebieten viel mehr Anpassungen vornehmen, werden weniger Menschen umziehen müssen. Wenn wir in großem Maßstab Geoengineering betreiben, also die gezielte Veränderung der Erdatmosphäre, werden weniger Menschen umziehen müssen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die wir ergreifen können. Natürlich ist keine davon einfach.
Welche Gebiete werden am stärksten betroffen sein?
Der tropische Gürtel um den Äquator, der gleichzeitig die am dichtesten besiedelte Region des Planeten ist. Aber auch die Küsten und Flussdeltas, in denen sich einige unserer größten Städte befinden. Einige Orte werden in der Lage sein, sich anzupassen – andere werden das nicht schaffen. Schon gar nicht mit der Bevölkerung, die sie derzeit haben.
Wir sprechen also über Länder wie Nigeria oder Brasilien und Städte wie Hongkong und São Paulo?
… Ja, aber auch über Orte wie Shanghai, Kairo oder Lagos. Und schauen Sie sich New Orleans in den USA an. Das ist eine tickende Zeitbombe. Wie oft kann es noch überflutet werden? Historisch, kulturell und wirtschaftlich ist das eine sehr wichtige Stadt in Amerika.
Und das gilt für so viele dieser Städte. Nehmen wir Mumbai als Beispiel. Mumbai ist eine wichtige Stadt in Indien, in der 22 Millionen Menschen leben. Ich will damit nicht sagen, dass jede:r Einzelne flüchten muss. Aber neun Millionen Menschen in Mumbai leben in Slums, in kleinen Betonkisten mit Wellblechdächern. Eine kleine wohlhabende Bevölkerung wird dort immer leben können. Wie in Dubai, das im Grunde zu einem klimatisierten Einkaufszentrum geworden ist. Aber alles, was diese Menschen brauchen, wird heute importiert: Essen, Wasser und jede einzelne Ressource. Für 22 Millionen Menschen wird das nicht machbar sein.
Was können wir tun, um diese Klimamigration zu stoppen oder die Lebensbedingungen der von ihr betroffenen Menschen zu verbessern?
Wir haben uns vom stabilen Klima der vergangenen 10.000 Jahre, dem sogenannten Holozän, entfernt und erleben nun extremere Wettermuster. Um uns anzupassen, müssen wir uns von umweltschädlichen Technologien verabschieden, die Infrastruktur energieautark und kohlenstoffneutral oder -positiv machen und Nahrungsmittel, Energie und andere Ressourcen umstellen, die wir verbrauchen.
Mal angenommen, in unseren utopischsten Träumen, die Menschheit würde diese Umstellung schaffen: Wie effektiv wäre sie wirklich, bezogen auf die Klimamigration?
Es gibt Orte im tropischen Süden, an denen die Anpassung einen großen Unterschied machen und den Menschen ermöglichen würde, viel länger zu bleiben. Aber das eigentliche Problem ist in vielen Fällen, dass die Menschen nicht gehen, wenn sie es zu ihrer eigenen Sicherheit tun sollten.
Wieso gehen die Menschen nicht rechtzeitig?
Sie tun es nicht, weil es sehr, sehr schwer ist, auszuwandern: Man verlässt sein soziales Netz, auf das man angewiesen ist, man verlässt seine Sprache, seine Gemeinschaft, sein Land, seinen Arbeitsplatz. Das alles zu verlassen, um an einen völlig unbekannten Ort zu gehen, mit all den Vorurteilen und einer unbekannten Sprache neu anzufangen, ist extrem schwierig. Menschen scheuen sich davor, das zu tun. Viele der Toten und Verzweifelten, die wir bei diesen großen Naturkatastrophen finden, sind Menschen, die hätten umziehen sollen, es aber nicht konnten. Es war zu schwer für sie. Und so haben sie die Evakuierungsbefehle missachtet oder sind nicht weggegangen, obwohl die Warnzeichen da waren. Wir müssen es den Menschen leichter machen, sich in Sicherheit zu bringen.
Das heißt: Sie sprechen sich für Einwanderung aus. Für viele Menschen ein extrem heikles Thema. Wie können wir Ihrer Meinung nach ein Gespräch darüber führen, obwohl es so viele Vorurteile und negative Gefühle gegenüber Einwanderung gibt?
Wir müssen dem schädlichen, einwanderungsfeindlichen Narrativ entgegentreten, das in ganz Europa weit verbreitet ist. Auf dem gesamten europäischen Kontinent, auch dort, wo ich lebe, in Großbritannien, stehen wir vor dem demografischen Problem, dass wir nicht genug Kinder bekommen, um eine ältere Bevölkerung zu versorgen. Aber nicht nur das: Wir haben derzeit auch einen enormen Arbeitskräftemangel, der durch Maßnahmen wie den Brexit in Großbritannien verursacht wird. Es gibt also ein echtes wirtschaftliches Argument für mehr Einwanderung in unseren beiden Ländern.
Ich will Ihnen in der Notwendigkeit von Einwanderung gar nicht widersprechen. Aber die Realität ist auch: Viele Menschen haben ein Problem damit. Sie wollen sich lieber abgrenzen. Europa könnte noch mehr Anstrengungen unternehmen, um die Grenzen im Süden zu sichern. Aus der Perspektive dieser Staaten kann das als eine vollkommen rationale Entscheidung angesehen werden.
Ich weiß. Es wird natürlich Versuche geben, diese Politik fortzusetzen. Ich sage Ihnen was, aus ganz persönlicher Sicht: Ich habe zwei Kinder, die zurzeit die Grundschule besuchen. Ich möchte nicht, dass sie in eine Armee eingezogen werden, um gegen Bangladescher oder Menschen aus Niger zu kämpfen. Mir wäre es viel lieber, wenn sie in verdichteten Städten leben würden und sie in eine Art integratives Projekt zum Aufbau produktiverer, nachhaltigerer Gesellschaften eingebunden sind. Die Art der ausgrenzenden und abwiegelnden Grenzpolitik, wie Europa sie momentan betreibt, funktioniert ja auch gar nicht.
Woran machen Sie das fest?
Es kommen immer noch Asylbewerber und Flüchtlinge. Sie werden weiterhin kommen, und ihre Zahl wird steigen, denn viele Menschen haben keine andere Wahl.
Was wäre Ihr Lösungsvorschlag?
Man wird das Konzept von Grenzen überdenken müssen. Sie sind einfach nicht mit einer Welt des Klimawandels vereinbar, in der es immer wieder extreme Katastrophen gibt.
Ist es bei der Entwicklung einer schlüssigen Antwort auf die kommende Klimamigration hilfreich, zwischen Klima-, Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen zu unterscheiden?
Aus meiner Sicht spielt es keine Rolle, was jemanden zu einem Flüchtling macht. Asylbewerber brauchen Asyl. Ich sehe da keine Hierarchie. Unsere europäische Kultur hat erst vor 200 Jahren die Vorstellungen von Grenzen entwickelt, die Menschen fernhalten und sie am Arbeiten hindern. Aber die meiste Zeit unserer Geschichte haben Menschen versucht, andere in ihre Gebiete zu bringen. Wir brauchten mehr und mehr Arbeitskräfte, wir kämpften ständig gegen andere Stämme, also brauchten wir mehr Leute in unseren Armeen. Oft haben wir ganze Dörfer erobert und sie aufgenommen.
Das mag ja alles sein – aber Menschen scheuen eben auch Veränderung. Das haben Sie mir ja vor wenigen Minuten selbst erklärt!
Viele Menschen haben Angst, dass sich ihre Kultur verändert, das verstehe ich. Aber erstens haben sich Menschen unterschiedlicher Herkunft schon immer vermischt; jede genetische Studie zeigt das sehr schnell. Zweitens sollte unser Gefühl von Stolz auf den Dingen beruhen, die wir tatsächlich geschaffen haben, nicht etwa auf unserer Nationalität, irgendwelchen vergangenen Schlachten oder einer traditionellen königlichen Familie. Sondern auf kulturellen Dingen. Und drittens: Wir verbessern unsere Kultur und bereichern sie, indem wir andere Menschen aufnehmen. Wir verlieren nichts. Wir verlieren nicht unsere Identität. Wir verlieren nicht unsere Kultur. Wir verlieren nicht unsere Sprache. Wir fügen ihr nur etwas hinzu. Aber ja, es braucht natürlich Investitionen, damit das so klappt.
Wie soll investiert werden?
Wenn Einwanderung erfolgreich sein soll, braucht sie zwei Arten von Investitionen: Erstens eine finanzielle. Und zwar in alle Bereiche, vom Wohnungsbau über Schulen bis zur Gesundheitsversorgung. Zweitens eine soziale Investition. Wir müssen in die Idee der Inklusivität investieren, in die Vorstellung, dass wir eine neue, größere Gesellschaft von Deutschen, von Briten, wovon auch immer aufbauen. Und diese sind Teil unserer Gesellschaft, Teil unserer Zukunft. Das sind neue Deutsche, neue Briten.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel für ein Land, wo es schlecht gelaufen ist mit diesem Vorhaben: Schweden hat zwar eine sehr großzügige Flüchtlingspolitik, aber die wichtige soziale Investition hat man dort nicht getätigt. Die Migranten fühlen sich nicht als Schweden, und die Einheimischen sehen die Migranten nicht als Schweden an. Das führt zu Ressentiments und Kriminalität und zum Aufstieg der extremen Rechten.
Es gibt Länder, die es besser gemacht haben: Australien hat den Ruf, eine ziemlich fremdenfeindliche, rassistische Gesellschaft zu sein. Jahrelang gab es dort eine Politik nur für Weiße. Sie ließen nur weiße Einwanderer zu, aber die Menschen, die kamen, wurden als neue Australier behandelt. Das war Regierungspolitik, und das konnte man in jedem Bereich des Lebens spüren.
Aber warum sollten die Länder des globalen Nordens die Menschen bei der Migration unterstützen?
Eigentlich ist es eine Entscheidung für uns. Wenn es eine Naturkatastrophe gibt – sei es eine Überschwemmung auf den Philippinen, ein Hurrikan an der Ostküste der USA oder eine Überschwemmung in Pakistan –, gibt es plötzlich eine Menge Menschen, die sehr schnell Hilfe brauchen, entweder dort, wo sie sind, oder woanders. Wenn man Menschen schon in jungen Jahren ausbildet, kann das ihrer Karriere an anderer Stelle helfen. Zum Beispiel braucht eine neue Biotech-Industrie, die das Lebensmittelsystem aufgrund des Klimawandels reformieren will, viele Arbeitskräfte. Diese jungen Menschen können ihre Karriere aufbauen und zur Entwicklung einer neuen Wirtschaft in ihrem neuen Land beitragen. Sie können ganz neue Industrien aufbauen. Sie können sich ein Leben aufbauen. Dann können sie auch ihre Eltern nachholen. Diese Art von Bewegung ist viel organischer, viel entspannter, viel überschaubarer als ungerichtete Migrationsströme. Weil diese schrittweise Einwanderung bedeuten würde, dass es keinen plötzlichen Umbruch für unsere Bevölkerung geben würde.
Das ist gut für die Geflüchteten. Aber was haben die Länder davon, in diese jungen Menschen zu investieren?
Wenn wir es richtig machen, bekommen wir in den bestehenden Gesellschaften die Fachleute, die wir brauchen. In Deutschland und auch in meinem Heimatland Großbritannien gibt es einen massiven Mangel an Pflegekräften. Wir haben nicht genug Leute, die in Altenpflegeheimen arbeiten, auch zu wenige Kindergärtnerinnen. Wir brauchen Leute in der Logistik, als LKW-Fahrer und in der Landwirtschaft. Wir müssen massiv auf Wärmepumpen umsteigen, auf Hausdämmung. Dafür haben wir nicht die nötigen Arbeitskräfte. Wir müssen diese Stellen besetzen.
In der jetzigen Phase können wir auswählen. Wir können Menschen mit den nötigen Fähigkeiten bei der Einwanderung unterstützen. Oder wir können ihnen helfen, diese Fähigkeiten entweder in ihrem Heimatland durch die Finanzierung von Berufsbildungsprogrammen oder in unserem Land zu entwickeln. All dies sind Arbeitskräfte, die nach und nach aufgenommen werden könnten, sodass es keine großen Umbrüche für unsere bestehende Bevölkerung bedeuten würde.
Es würde dazu beitragen, unsere Wirtschaft wiederzubeleben und gleichzeitig den Menschen zu helfen – ohne einen akuten Krisenfall. Aber diese Notlagen, in denen schnell gehandelt werden muss, werden wir natürlich auch bekommen. Wäre es nicht besser, wenn wir da schon einen gemeinschaftlichen Konsens über Migration entwickelt hätten, der dann auch in der Notsituation greifen kann?
Wie können sich Städte wie London, Oslo und Edinburgh auf diese neuen Bürger vorbereiten?
Wir müssen all diese Städte ohnehin anpassen, weil sie bislang nicht an den Klimawandel angepasst sind. Und wenn wir die Anpassungen vornehmen, müssen wir bedenken, dass die Bevölkerung wachsen wird. Wir brauchen dichte, begehbare Städte und viel mehr gemeinschaftlich genutzte Räume für die Entwicklung von Gemeinschaften mit sozialem Zusammenhalt. Vor allem aber müssen wir langfristiger denken. Wenn wir also den Ausbau der Infrastruktur planen, etwa des Verkehrs, der Zugverbindungen und dergleichen, müssen wir für eine größere Bevölkerung an Orten planen, an denen diese Bevölkerung wachsen kann. Es geht nicht darum, Unmengen von Migranten in entvölkerte ostdeutsche Städte zu schicken. Postindustrielle Städte, in denen es nichts gibt. Das wird nicht funktionieren. Die Menschen müssen dort sein, wo die Arbeit ist.
Es werden völlig neue Städte entstehen. Wird Island das neue Sizilien sein? Wird Grönland die neuen Megastädte des 21. Jahrhunderts beherbergen?
Die Arktis ist der Teil des Planeten, der sich am schnellsten erwärmt, und die Auswirkungen dieses Wandels zeigen sich in Form von schmelzenden Gletschern und Permafrostböden. Diese Entwicklung macht die arktische Region bewohnbarer, da die extrem niedrigen Temperaturen im Winter weniger unwirtlich werden. Allerdings ist es wichtig zu wissen, dass wir uns derzeit am Rande mehrerer Kipppunkte des Erdsystems befinden. Der Zusammenbruch des Ökosystems der Korallenriffe ist ein Beispiel für einen Kipppunkt, der bereits überschritten wurde, was sowohl für die Umwelt als auch für die weltweite Fischerei tragisch ist. Außerdem haben wir bereits besorgniserregende Veränderungen in der atlantischen Strömung festgestellt, die den Golfstrom antreibt, wie die jüngsten Schneefälle in den Vereinigten Staaten gezeigt haben. Diese Veränderung des Golfstrommusters stellt ein erhebliches Risiko dar. Eine weitere große Sorge ist der mögliche Zusammenbruch des arktischen Grünlandeisschildes, der erheblich zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen würde.
Das klingt sehr dystopisch. Nicht wirklich so, als dass ich morgen meine Familie einpacken und nach Grönland ziehen wollen würde.
Trotz dieser Risiken gibt es auch potenzielle Vorteile, wenn die arktische Region bewohnbarer wird: So könnte die landwirtschaftliche Produktion zunehmen, da in der Region verschiedene Arten von Nutzpflanzen angebaut werden können. Die arktische Region könnte weniger von den extremen Problemen betroffen sein, denen die Tropen ausgesetzt sind. Tatsächlich ist in vielen Ländern bereits eine Abwanderung in die Arktis zu beobachten.
Wenn diese Menschen nach Russland, Kanada oder Grönland ziehen: Was werden sie essen? Die Tropen sind sehr wichtig für die Ernährung der Welt.
Unser Ernährungssystem ist völlig kaputt. Wenn sich alle Menschen auf der Erde so ernähren würden wie der Durchschnitt der Vereinigten Staaten, hätten wir nicht mehr genug Nahrung für alle. Und es ist auch ungesund. Es ist ökologisch sehr schädlich. Unsere Lebensmittelindustrie ist der größte Verursacher der Abholzung und des Verlusts der Artenvielfalt. Sie trägt massiv zu den Treibhausgasemissionen bei. Sie ist im Moment nicht nachhaltig. Die größte Veränderung wird darin bestehen, dass wir uns fast ausschließlich pflanzlich ernähren werden, weil das viel effizienter und nachhaltiger ist. Fleisch wird es weiterhin geben, aber es wird viel teurer und seltener sein.
Ein Teil der Landwirtschaft wird in den Tropen wegen der Dürre und der schrecklichen Überschwemmungen unmöglich sein. Einiges wird noch funktionieren, aber landwirtschaftliche Arbeit wird nicht mehr möglich sein, weil es zu heiß ist. In solchen Gebieten gibt es also die Möglichkeit der Roboterlandwirtschaft oder der virtuellen Landwirtschaft aus der Ferne. So müssen die menschlichen Arbeitskräfte diese Bedingungen nicht ertragen.
Roboter, die Felder ernten, ohne dass ein Mensch in Sicht ist. Das wäre dann eine echte Science-Fiction-Zukunft!
In Europa gibt es bereits eine automatisierte Landwirtschaft, die die meisten der Aufgaben übernimmt, die früher von Menschen erledigt wurden. Es ist also kein großer Unterschied. Aber in vielen Ländern des globalen Südens ist die Landwirtschaft immer noch eine sehr, sehr arbeitsintensive Tätigkeit. Und das wird sich ändern. Es wird mehr dem ähneln, was wir in Europa und Amerika haben. Aber wir werden auch eine Menge landwirtschaftlicher Kornkammern verlieren. Und das ist ein Problem. Einiges davon wird also weiter nördlich ergänzt werden, weil sich die Anbaubedingungen etwa im Norden Kanadas und in Skandinavien massiv verbessern, wo bisher nur wenig angebaut wurde und jetzt viel mehr angebaut werden kann. Auch in Gewächshäusern und in der vertikalen Landwirtschaft, also in geschlossenen Räumen, haben wir ein großes Wachstumspotenzial. Darüber hinaus werden wir uns auch mit modifizierten Bakterien, Pilzen, Algen, Insekten und Meerespflanzen beschäftigen.
Unterwasserfarmen!
Unterwasserfarmen, ja! Es gibt so viel Wasser und im Meer so viel Platz, aber die Landwirtschaft wird natürlich anders sein als auf dem Land.
Ich habe den Eindruck, dass die bevorstehende Migration ein Echo der unterschiedlichen Migrationen ist, die die Menschheit bereits vor Zehntausenden von Jahren unternommen hat. Können wir etwas aus den klimabedingten Migrationen der Vergangenheit lernen?
Der Mensch hat sich immer bewegt. Es ist Teil dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein. Wenn man sich unsere nächsten lebenden Verwandten, die Schimpansen, ansieht, leben sie immer noch am selben Ort, im selben Wald, in derselben ökologischen Nische in den Tropen, in der sie seit Millionen von Jahren leben. Aber schau dir an, wo die Menschen leben. Wir sind über den ganzen Erdball verstreut. Wir leben in der Arktis und Antarktis. Wir leben sogar im Weltraum auf der ISS. Wir können unter Wasser überleben.
Und das liegt zum Teil daran, dass wir sehr gut darin sind, unsere Umwelt an uns selbst und unser eigenes Selbst an unsere Umwelt anzupassen. Aber das wichtigste Werkzeug, das wir haben, ist, dass wir hyper-sozial sind; die Fähigkeit zur Zusammenarbeit, die Netzwerke, die wir mit völlig Fremden bilden können, das ist unsere große Stärke.
Du sitzt in Berlin fest, ich sitze in London fest, alles um mich herum auf meinem Schreibtisch, was ich esse, was ich trage. Alles kommt aus weit entfernten Teilen des Planeten und wird durch diese Netzwerke zu mir gebracht. Unsere Fähigkeit zur Zusammenarbeit wird uns aus diesem Schlamassel herausführen. Wir müssen sie nur anerkennen und sie in diesem nomadischen Jahrhundert für uns nutzbar machen.
Vielen Dank an Sonnenschein, Mehrwegfahrer, Gerd und Komet aus meinem Recherche-Discord, die mir vor dem Interview Fragen für Gaia Vince geschickt haben. Und Dank an Eva, Nele, Noemi, Tom, die sich per Umfrage gemeldet hatten.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert