Es gibt Dinge im Leben, die sind zwar unangenehm, aber wichtig, manchmal sogar für unser Leben. Professionelle Zahnreinigungen zum Beispiel, Fahrradhelme, oder: Sirenen.
Sirenen hatten lange Zeit die gleiche Bedeutung wie Zahnreinigungen und Fahrradhelme: Der Großteil Deutschlands kam ohne sie aus. Ich auch. Aber dann kam die Flutkatastrophe im Ahrtal. Und im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht wurde die Sirene zum vielleicht wichtigsten Gerät in Deutschland rehabilitiert. Genauer gesagt das bei uns typische Modell E57. Mit dem nämlich wird in Deutschland meist vor großen Katastrophen gewarnt.
Das Problem ist nur: Funktionierende Sirenen sind in Deutschland Mangelware. Ich habe mich gefragt: warum eigentlich? Schließlich machen die einfach nur … Lärm? Wieso können wir die Bevölkerung nicht übers Handy warnen? Und was hat sich im Katastrophenschutz in den vergangenen Jahren verbessert?
Um meine Fragen zu beantworten, habe ich viel gelesen, beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BBK) nachgefragt, mit einem Katastrophenforscher, einem Experten für digitale Warnungen und einem Beigeordneten des Deutschen Städte- und Gemeindebundes gesprochen. Denn ich wollte wissen: Sind wir bereit für die nächste große Katastrophe?
Die Sirene: alt, laut, geil
Die wichtigste Frage gleich vorab: Wie kann etwas, das so wichtig ist wie eine Sirene und im Zweifel über Menschenleben entscheidet, Mangelware sein? So: Anfang der 1990er Jahre gab es in Deutschland noch rund 80.000 Sirenen. Doch nach dem Ende des Kalten Krieges wirkte es nicht mehr zeitgemäß, jederzeit für den Katastrophenfall bereit zu sein. Viele Sirenen wurden deshalb nicht gewartet oder sogar ganz abgebaut. 2015 funktionierten in Deutschland nur noch 15.000 Stück. Kurz nach der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 forderte der Deutsche Feuerwehrverband deshalb, das Sirenennetz in Deutschland flächendeckend aufzubauen. Ist das auch passiert?
Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz hat ein Sirenenprogramm mit 86 Millionen Euro gestartet. Verantwortlich für die Sirenen sind die Kommunen. Sie konnten beim BBK Geld beantragen, um neue Sirenen zu installieren und alte zu reparieren. Die 86 Millionen Euro sind bereits vollständig aufgebraucht, schrieb mir das BBK auf Anfrage. Das bedeutet aber nicht, dass das Sirenenproblem gelöst ist.
Ein Beispiel dafür ist die Gemeinde Kirchheim in Bayern: Die Verwaltung will neue Sirenen installieren und alte modernisieren. Die Kosten für sechs Sirenen kalkuliert die Verwaltung auf 136.000 Euro – dafür würde es nur 78.100 Euro Fördergeld geben. Kirchheim wartet deshalb erstmal auf neue Fördergelder, bevor es seine Sirenen modernisiert.
Wie viele Sirenen in Deutschland funktionieren, weiß kein Mensch, denn es gibt kein zentrales Register. Man müsste bei allen 10.796 Kommunen Deutschlands anrufen und fragen, ob ihre Sirenen heulen können. Das ist ein Problem, an dem das BBK gerade arbeitet. Mit Ländern und Kommunen erstellt es ein bundesweites Sirenenverzeichnis.
Bevor es damit weitergeht, wie man die Bevölkerung noch warnen kann, schau dir mal dieses Video von „SirFanBoy“ an. Für Freiwillige aus der Feuerwehr scheint der Sirenen-Heulton etwas zutiefst Beglückendes zu sein, wenn man den Kommentaren glaubt. In der Kommentarspalte steht zum Beispiel: „Wie ich diesen Ton liebe“, oder: „Da geht mir das Herz auf.“
https://www.youtube.com/watch?v=2yMfNQPE1mE
Im 21. Jahrhundert müssen wir die Bevölkerung natürlich nicht unbedingt mit Sirenen aus Zeiten des Kalten Krieges warnen. Es gibt eine Warn-App, noch eine weitere Warn-App und die Technologie der Zukunft: Cell Broadcast. Aber der Reihe nach.
Apps: zeitgemäß und kompliziert
Die am häufigsten genutzte Warn-App heißt Nina und wird vom Bund betrieben. Die App warnt beispielsweise vor einem Waldbrand, vor Hochwasser, oder vor starkem Unwetter. Nutzer:innen können einen bestimmten Landkreis abonnieren oder ihren Standort einstellen, für den die App dann warnt. Die zweite App heißt Katwarn und wird vom Fraunhofer-Institut für offene Kommunikationssysteme betrieben.
Vor einem Jahr hatten knapp neun Millionen Personen die Nina-App heruntergeladen, heute sind es immerhin 12,5 Millionen. Die Katwarn-App verzeichnet mehr als fünf Millionen Downloads. Ein Katwarn-Sprecher schreibt dazu: „Insgesamt sind Downloadzahlen nicht sehr aussagekräftig, da die Nutzung von Apps in der Regel sehr dynamisch ist, das heißt, Apps öfter installiert und deinstalliert werden.“ Insgesamt haben also sehr optimistisch geschätzt 17,5 Millionen Menschen eine Warn-App installiert, was ungefähr 21 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Das ist nicht besonders viel – und seit der Flut im Ahrtal haben auch nicht viel mehr Menschen die App heruntergeladen.
Dazu kommen noch weitere Probleme: Wer viele Push-Benachrichtigungen bekommt, bemerkt eine Warnung der App möglicherweise gar nicht. Wer kein Smartphone hat, kann sich die Apps nicht herunterladen. Und wenn das Internet ausfällt, wie es im Ahrtal zwischenzeitlich der Fall war, können wir die Apps sowieso vergessen.
Bereit für die Zukunft: Cell Broadcast
Eine bessere Möglichkeit, um eine Warnung an Handys zu schicken, wäre Cell Broadcast. Das funktioniert so: Jedes Handy registriert sich automatisch in einer Funkzelle, um Verbindung zum Netz herzustellen. Über diese Verbindung kann man dann eine Nachricht an alle Handys schicken, die sich gerade in einer bestimmten Funkzelle befinden. Dafür braucht der Absender nicht mal die Telefonnummern der Handys. Das macht es auch für Datenschützer:innen unbedenklich. Die Nachricht sieht aus wie eine SMS, ist aber keine.
Das BBK arbeitet schon seit 2020 daran, Cell Broadcast in Deutschland einzuführen. Es gibt nämlich eine EU-Richtlinie, die alle EU-Länder dazu verpflichtet, Cell Broadcast möglich zu machen. Ich habe bei Thomas Blinn angerufen, er ist Experte für mobile Kommunikationssysteme und Katastrophenschutz bei der AG Kritis, einer unabhängigen Arbeitsgruppe für IT-Sicherheit. Ihn habe ich gefragt: Wie läufts mit der digitalen Sirene? Er hat gesagt: „Cell Broadcast wird in Deutschland vermutlich maximal schlecht umgesetzt werden.“ Blinn rechnet damit, dass weniger als die Hälfte aller Mobiltelefone in Deutschland mit Cell Broadcast erreicht werden. Das liegt an der EU und ein bisschen auch an Deutschland. Was ist schiefgelaufen?
Cell Broadcast wurde Anfang der 2000er Jahre genutzt, als das Internet noch nicht weit verbreitet war. Nutzer:innen konnten, einfach gesagt, einen Kanal mit einer dreistelligen Nummer abonnieren und empfingen dann beispielsweise Börsennachrichten. So würde das heute auch mit den Warnungen funktionieren. Das Problem ist, dass die EU in ihrer Richtlinie vierstellige Kanalnummern festgelegt hat. Für neuere Smartphones ist das kein Problem. Aber ältere Smartphones und vor allem das Nokia deiner Oma können nur dreistellige Kanalnummern empfangen, oder Cell Broadcast ist tief in den Einstellungen versteckt. Sprich: Gerade die Menschen, die sich keine Warn-App herunterladen können, werden auch kein Cell Broadcast empfangen können.
In den Niederlanden und in Litauen funktioniert Cell Broadcast trotzdem. Die beiden Länder haben sich nämlich nicht an die europäische Norm gehalten und dreistellige Kanalnummern eingeführt, sodass Cell Broadcast für möglichst viele empfänglich ist. Deutschland hat das nicht getan. Ich habe das BBK gefragt, warum. Eine Sprecherin schrieb mir, dass man dem internationalen Standard gefolgt sei und deshalb vierstellige Kanalnummern festgelegt habe. Außerdem wisse man nicht, wie viele Menschen mit Cell Broadcast erreicht werden können.
Uns bleibt also nichts anderes übrig, als doch auf die gute alte Sirene zu vertrauen, die uns alle im Katastrophenfall aus dem Schlaf reißen kann, egal ob wir ein I-Phone 11 oder einen Nokia-Knochen besitzen.
Falls du zu den „Sirenenfreunden Südwestpfalz“ gehörst, denkst du dir vermutlich: Hätte ich dir gleich sagen können! Die Sirenenfreunde Südwestpfalz sind eine sehr aktive Facebook-Gruppe mit mehr als 20.000 Mitgliedern, die regelmäßig verkündet, wenn sich eine Gemeinde neue Sirenen zulegt. Auf dem Titelbild der Gruppe steht: „Sag JA zum Erhalt der SIRENE! Apps können sie ergänzen aber NIEMALS ersetzen!“ Dazu sage ich nur: OKAY, Sirenenfreunde!
Mehr Geld! Mehr Macht!
Der häufigste Satz, den ich bei meiner Recherche gehört habe: „Katastrophenschutz ist Ländersache.“ Es kann sinnvoll sein, wenn die Bundesländer selbst entscheiden, wie sie Katastrophenschutz umsetzen. Und es kann auch sinnvoll sein, dass die Kommunen das umsetzen. Schließlich wissen die Leute vor Ort am besten, wann der Dorfbach über seine Ufer tritt und wo man sich in Sicherheit bringen kann. Es führt aber auch zu einem Wirrwarr an Zuständigkeiten.
Viele Helfer:innen waren angesichts des Krisenmanagements während der Flutkatastrophe im Ahrtal frustriert. Einsatzkräfte des Technischen Hilfswerks (THW) mussten in einem Fall tagelang auf einem Parkplatz in Rheinland-Pfalz darauf warten, endlich helfen zu dürfen. Das liegt daran, dass das THW eine Katastrophenschutzorganisation des Bundes ist. Das THW kann nicht einfach ausrücken, wenn jemand Hilfe braucht, sondern muss auf seinen Einsatzbefehl warten – und das kann manchmal dauern. Katastrophenschutz ist zwar Ländersache, aber Zivilschutz ist Sache des Bundes. Oft überschneiden sich die Aufgaben. Verwirrt? Das sind auch die Leute, die dafür zuständig sind. Und genau das ist das Problem.
Das BBK hat angekündigt, sich neu auszurichten und deshalb ein „Kompetenzzentrum Katastrophenschutz“ gegründet. Es befindet sich gerade in einer Pilotphase und soll die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern verbessern. Ich habe mit verschiedenen Experten telefoniert und sie gefragt, was sie von dem neuen Kompetenzzentrum halten, zum Beispiel mit Timm Fuchs vom Deutschen Städte- und Gemeindebund oder mit dem Katastrophenforscher Martin Voss von der Freien Universität Berlin. Beide halten es für sinnvoll. Aber: Es bräuchte von allem mehr. Mehr Geld, mehr Kompetenzen, mehr Zusammenarbeit.
Zwar soll das BBK mehr Geld und Stellen bekommen: fast 286 Millionen Euro und 112 neue Stellen für 2022. Und der Bund wird den Ländern in den nächsten zehn Jahren zehn Milliarden Euro für den Katastrophenschutz bereitstellen. Timm Fuchs sagt dazu aber, dass „die zusätzlichen Mittel auch schnell bereitgestellt werden müssen.“ Er fordert die Finanzierung von Schutzräumen und Vorratshaltung von beispielsweise Notstromaggregaten in den Kommunen. Und Voss sagt: „Wir müssten von allem ein Vielfaches machen. Der Schutz der Bevölkerung müsste viel stärker gewichtet werden.“
Sind wir also bereit für die nächste Katastrophe?
IT-Experte Blinn sagt: „Eher Daumen nach unten.“
Katastrophenforscher Voss: „Da könnte ich mich in Rage reden.“
Beigeordneter Fuchs: „Die Problematik mit den Sirenen zeigt, dass wir besser warnen müssen.“
Einig sind sich die drei aber auch noch in einer anderen Sache. Katastrophenforscher Voss sagt dazu: „Die Zeit drängt. Mehr denn je.“
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert