Herr Max, Sie erforschen beim Deutschen Roten Kreuz seit mehr als zehn Jahren Krisen und Katastrophen. Ich muss zugeben: Ich bin nicht neidisch auf Ihren Job. Geht es da nicht immer nur um Tote und zerstörte Leben?
Zuletzt habe ich 2015 und 2016 im Rahmen der Geflüchtetenhilfe im Führungs- und Lagezentrum des DRK mitgearbeitet, da ist man schon nah am Geschehen und sieht den unmittelbaren Hilfebedarf der Menschen. Ich arbeite nach wie vor sehr eng mit meinen Kolleg:innen aus dem Krisenmanagement zusammen, bin selbst aber eher auf strategischer Ebene aktiv. Meine Kolleg:innen und ich versuchen herauszufinden, wie sich unsere Gesellschaft besser auf solche Situationen vorbereiten kann. Beispielsweise müssen wir Pflegebedürftige stärker in den Blick zu nehmen. Das wurde lange zu wenig berücksichtigt.
Was ist denn der Unterschied zwischen Krise und Katastrophe? Für mich ist beides dasselbe.
Eine Katastrophe ist in Deutschland, wenn der Hauptverwaltungsbeamte den Katastrophenfall feststellt.
Typisch deutsch! Und allgemeiner definiert?
Bei einer Krise sind nicht automatisch viele Menschenleben bedroht. Starke Regenfälle können beispielsweise eine Krise sein. Sie wären die Vorstufe einer Überflutung und können durch noch extremeren Regen zur Katastrophe werden. Eine Katastrophe stört den Alltag massiv und bedroht viele Menschenleben. Beispielsweise wenn Gebäude einstürzen und die Leute die Situation nicht alleine bewältigen können.
Was ist für Sie eine typische Katastrophe des 21. Jahrhunderts, also unserer Jetzt-Zeit?
Die typische Katastrophe gibt es nicht. Meine Beobachtung ist, dass jede Katastrophe und jede Krise anders ist als die vorige. Deshalb ist es auch nicht zielführend, sich ausschließlich auf Katastrophen vorzubereiten, indem man in die Vergangenheit schaut. Ich denke, dass wir mit Störungen des Alltags auch in Zukunft weiter konfrontiert sein werden. Und dass es nicht darum gehen darf, sich auf einzelne Szenarien vorzubereiten, sondern unsere Infrastrukturen zu stärken. Wie stellen wir beispielsweise so weit wie möglich die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten sicher? Auch, wenn etwa im Panamakanal mal irgendein Schiff schiefsteht.
Wir müssen also immer im Alarmmodus sein, bereit für Katastrophen jeder Art?
Ja, auch wenn das natürlich nicht einfach ist. Aber die bisherigen Konzepte greifen nicht für alle gesellschaftlichen Bedarfe. Überspitzt gesagt, lief es bisher ja so: Etwas geht kaputt, dann kommen die Katastrophenschützer:innen und ersetzen die kaputten Strukturen so lange, bis der Alltag wiederhergestellt ist. Hier braucht es neue Ansätze. Wir werden es in Zukunft auch nicht nur mit singulären Bedrohungen zu tun haben. Während der Flut im Ahrtal hat die Corona-Pandemie keine Pause gemacht. Das Gleiche wird uns mit anderen Katastrophen und Krisen passieren, etwa Waldbränden oder Hitzewellen.
Womit wir bei den Umweltkatastrophen wären. Die haben in den vergangenen 50 Jahren zugenommen, hat ein Bericht der Weltwetterorganisation ergeben. Ist Deutschland für diese Art der Katastrophe gut gerüstet?
Es ist noch etwas früh, um dazu etwas sagen zu können. Aber Deutschland hat auf jeden Fall noch eine ganze Menge zu tun. Die vergangenen Jahre haben uns ja gezeigt, wie wichtig es ist, sich gut vorzubereiten. Es ist auch schwierig, allgemein darüber zu sprechen, weil der Katastrophenschutz in Deutschland föderal organisiert ist.
Ich habe versucht, den Katastrophenschutz in Deutschland generell zu verstehen – und bin gescheitert. Mal ist der Landkreis zuständig, mal der Bund, mal das Bundesamt für Bevölkerungsschutz, dann wieder das Technische Hilfswerk. Wieso ist das so?
Wie bei jeder Föderalismusdebatte ist das Fluch und Segen. Ich glaube, dass Regelungen auf Bundesebene richtig sind, aber dass die meisten Lösungen regional entwickelt werden müssen. Genau dafür haben wir das Konzept des sozialraumorientierten Bevölkerungsschutzes entwickelt.
Was genau bedeutet das?
Sozialräume sind Lebensräume von Menschen. Das kann ein Dorf, eine Stadt oder ein bestimmtes Viertel sein. Es geht darum herauszufinden, welche Bedarfe und welche Ressourcen es in einem Sozialraum gibt. Beispielsweise schauen wir uns an, welche Menschen dort leben und leiten daraus ab, wie man sich besser auf eine Katastrophe vorbereiten könnte. Wenn eine Stadt acht ambulante Pflegedienste hat, leben dort vermutlich viele pflegebedürftige Menschen.
Was hätte das zum Beispiel für das Ahrtal bedeutet?
In dieser Region leben viele alte und pflegebedürftige Menschen. Das war für die Rettungskräfte eine Herausforderung – eine von vielen. Es braucht also Konzepte, um Menschen in vulnerablen Situationen besser begegnen zu können.
Ich als Anfang-20-Jährige habe das Gefühl, mein Erwachsenenleben ist nur noch eine Abfolge von Krisen und Katastrophen. Und unter jüngeren Menschen gibt es so etwas wie „Klimaangst“. Wie wird meine Generation durch Krisen und Katastrophen geprägt?
Die Wahrnehmung von Krisen und Katastrophen ändert sich ständig. Ich denke, dass viele Menschen inzwischen verstanden haben, dass sie auch selbst betroffen sein können. Früher gab es alle zehn Jahre ein Hochwasser, inzwischen reißt die Häufigkeit von Störungen des Alltags nicht ab. Mir ist das besonders während der Corona-Pandemie aufgefallen, als mich Freund:innen angerufen und gefragt haben, wie man richtig Lebensmittelvorräte anlegt. Vorher hat sich dafür niemand interessiert.
Wie genau sollten wir uns vorbereiten?
Das Wichtigste ist, dass wir alltägliche Strukturen und die des Katastrophenschutzes so gut wie möglich miteinander vernetzen und die Menschen für Krisen und Katastrophen besser sensibilisieren.
Was heißt das?
Dass sich verschiedenste Akteur:innen bereits vor der Krise oder Katastrophe kennen. Dazu gehören interkulturelle Zentren, Pflegeheime, Kirchen, oder der Lebensmitteleinzelhandel und natürlich besonders die Betreiber Kritischer Infrastruktur. Sie können dann eine Struktur schaffen, welche Ressourcen sie schnell aktivieren können – und zwar bevor die Katastrophe eingetreten ist.
Einfacher gesprochen, die Landrätin muss die Telefonnummer von den Seniorenheimen und den größten Supermärkten haben und wissen, wo sie im Notfall anruft?
Genau, aber die Verantwortung liegt nicht bei der Gemeinde allein. Die Gemeinde könnte zum Beispiel ein regelmäßiges Forum organisieren, wo alle Beteiligten eine gemeinsame Sensibilität für Krisen und Katastrophen entwickeln können. Es geht nicht darum, dass man sich alle sechs Wochen trifft. Aber alle müssen wissen, dass sie wichtig sind und einen Beitrag leisten können.
Was ist mit Unternehmen, spielen die auch eine Rolle?
Ja, Behörden und Unternehmen müssen sich viel mehr austauschen, denn viele Unternehmen haben ein Know-how, das im Notfall gefragt ist. Wir untersuchen aktuell in einer Studie, wie gut da die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und den Behörden im Ahrtal funktioniert hat.
Warum genau ist diese Vernetzung so wichtig?
Weil wir so das Potential nutzen können, das wir ohnehin schon haben. Ich denke, dass wir dann als Gesellschaft besser mit Krisen und Katastrophen umgehen können. Das klingt vielleicht ein bisschen banal, aber mir ist das klar geworden, als wir untersucht haben, wie wir die Menschen in Deutschland im Katastrophenfall mit Lebensmitteln versorgen könnten. Wir haben festgestellt: Die einzige sinnvolle Struktur dafür ist der Lebensmitteleinzelhandel. Sehr viele Lebensmittel zu lagern, ist in diesen Dimensionen nicht effizient.
Und warum hat sich der Katastrophenschutz bisher darauf konzentriert?
Weil es lange Zeit funktioniert hat. Unsere Katastrophenkonzepte kommen aus Zeiten des Kalten Krieges. Das funktioniert heute nicht mehr vollumfänglich, die gesellschaftlichen Rahmenbedingen haben sich sehr verändert und werden sich weiter verändern.
Wenn wir mal bei der Katastrophe im Ahrtal bleiben, bei der 134 Menschen ums Leben gekommen sind: Viele Leute, vor allem die Angehörigen der Verstorbenen, fragen sich noch immer: Wer trägt die Schuld dafür, dass so viele Menschen gestorben sind? Einzelne Verantwortliche? Oder liegt der Fehler im System?
Da wir als DRK selbst nicht warnen und dazu auch keine aktuellen Forschungsergebnisse vorliegen haben, möchte ich in dieser Debatte nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Es gibt aber einen Punkt, der aus meiner Sicht noch nicht genug diskutiert wird. Und zwar, wie genau man die Menschen warnt. Die technische Warnung ist das eine, aber das andere ist ja, was die Leute tun sollen, wenn sie die Sirene hören oder eine Warnung in ihrer App bekommen.
Was sollen die Leute denn tun? Aufs Dach klettern?
Darauf kann ich keine allgemeine Antwort geben, das ist abhängig von der Situation. Geht es um Starkregen, einen Wirbelsturm oder eine Hitzewelle? Im letzten Fall müsste man ältere Menschen zum Beispiel daran erinnern, genug zu trinken oder sich im Schatten aufzuhalten. Da müssen dann Pädagog:innen mit an den Tisch, die konkret ausarbeiten, mit welchen Botschaften und Informationen gewarnt werden soll.
Ich möchte trotzdem noch einmal nachhaken, auf das Ahrtal bezogen: Lag der Fehler hier an einer fehlenden Warnung, die auch noch zu spät rausging an die Menschen, an einer mangelnden Kommunikationskette – oder daran, dass die betroffenen Menschen nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten?
Aus unserer Forschung heraus sehe ich als eine der größten Baustellen, dass wir die Bevölkerung nicht mehr als eine homogene Gruppe betrachten dürfen. Wir müssen mehr Menschen erreichen, um sie besser auf Krisen und Katastrophen vorzubereiten. Vor allem die, die ohnehin schon hilfsbedürftig sind, zum Beispiel die in einer Pflegeeinrichtung. Mir ist natürlich klar, dass das sehr leicht gesagt ist, da ich als Externer darauf blicke. Für die Menschen dort ist schon der Alltag nicht selten eine Krise. Genau dafür müssen zwingend die Alltagssysteme in die Vorbereitung auf Krisen und Katastrophen bedarfsgerecht mit einbezogen werden.
Kriegen Sie nicht selbst die Krise, wenn Sie so viel über Katastrophen nachdenken?
Das Gute ist ja, dass ich vor allem an präventiven Ansätzen und innovativen Konzepten arbeite. Manche Katastrophen sind unvermeidbar, aber für mich geht es beim Deutschen Roten Kreuz darum, wie wir den Menschen in solchen Situationen besser helfen können.
Was stimmt Sie hoffnungsvoll?
Es wurde sehr lange von der „Vollkasko-Mentalität“ in Deutschland gesprochen. Also von dem Vorwurf, die Bürger:innen selbst würden nicht anpacken und nur warten, bis jemand kommt und ihnen hilft. Aber bei allen Krisen und Katastrophen der vergangenen Jahre haben wir das Gegenteil beobachtet. Die Leute haben sich organisiert und geholfen. Während der Pandemie haben sich viele angeboten, für Menschen aus Risikogruppen einkaufen zu gehen. Jetzt, wo viele Geflüchtete am Berliner Hauptbahnhof ankommen, engagieren sich sehr viele Freiwillige. Wir haben eine riesige Hilfsbereitschaft, Fähigkeiten und Potentiale in der Gesellschaft. Das müssen wir in den Bevölkerungsschutz einbeziehen!
Matthias Max leitet das Team Sicherheitsforschung und Innovationstransfer im Deutschen Roten Kreuz. Er ist Mitautor des Buches „Hilfeleistungssysteme der Zukunft: Analysen des Deutschen Roten Kreuzes zur Aufrechterhaltung von Alltagssystemen für die Krisenbewältigung“, das 2022 erschienen ist.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger