Wenn du irgendwann in der Zukunft die Geschichte unserer Zeit aufschreiben würdest, würdest du dich an den Mai 2022 erinnern? Würde dieser Monat prominent in deiner Chronik vorkommen?
Ich würde diesem Monat wahrscheinlich ein ganzes Kapitel widmen. Denn zum ersten Mal erleben wir, was die Klimakrise wirklich bedeutet. Die Welt erlebt ihren ersten richtigen Klimakrisen-Moment.
Die Klimakrise war nie nur ein Problem steigender Meeresspiegel und steigender Temperaturen. Ich würde soweit gehen: Wer die Klimakrise nur für eine Krise der natürlichen Welt hält, hat sie nicht verstanden. Ihre ganze Wucht, ihre ganze Gefährlichkeit bezieht sie daraus, dass sie unterschwellig jeden menschlichen Bereich beeinflusst durch Hitze, Trockenheit, unbeständige Wetterphänomene.
Wir haben unsere Gesellschaften in einer Zeit eines extrem stabilen Klimas gebaut. Wenn sich dieses Klima ändert, übt das Druck auf unsere Gesellschaften aus, für den wir bisher kaum gewappnet sind, schlicht weil wir diesen Druck bisher in solcher Intensität über eine lange Dauer nicht kennenlernen konnten. Wir sind fundamental unvorbereitet, mit den sich verschränkenden, gegenseitig verstärkenden gesellschaftlichen Folgen der Klimakrise umzugehen.
Klingt abstrakt, ich weiß. Aber genau in diesem Monat zeigt sich zum ersten Mal, wie aus „Wetter“ eine Macht werden kann, die einem Tiefenstrom gleich alles lenkt und verstärkt, was auf der Welt passiert. Die Klimakrise zieht sich wie ein roter Faden durch aktuelle Ereignisse, die auf den ersten Blick weniger miteinander zu tun haben.
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Nehmen wir die beginnende globale Hungerkrise. Nehmen wir also die Versorgung der Welt mit Weizen. Seit Monaten rasen die Weizenpreise von Rekord zu Rekord. Man könnte sagen: Das liegt am Ukraine-Krieg, der mit Russland und der Ukraine zwei Länder betrifft, die zusammen einen großen Teil des weltweit gehandelten Weizens produzieren. Das aber wäre nur die eine Hälfte der Geschichte. Die andere Hälfte geht so: Neuseeland meldet nach extremer Trockenheit Ernteeinbrüche beim Weizen, genauso wie die USA, Frankreich, Israel, Kanada oder Indien. Und wie die Ernte des chinesischen Winterweizens ausfällt, ist noch unklar. Offizielle aber warnen bereits: Sie könnte weniger gut als üblich werden.
Der Hunger ist auch Folge des Klimawandels
Auf die Weizenknappheit haben einige Länder bereits mit Exportverboten reagiert. Seit dem 13. Mai exportiert Indien keinen Weizen mehr, Ungarn, Bulgarien, Serbien schränken ihre Exporte ein. Und diese Verbote betroffen nicht nur Weizen. Indonesien etwa meldet, kein Palmöl mehr exportieren zu wollen. Trockenheit gab es zwar immer wieder in der Geschichte der Menschheit, aber der Klimawandel hat die beispiellose Hitzewelle, die gerade Indien überrollt und bei der Vögel verdurstend vom Himmel fallen, 30-mal wahrscheinlicher gemacht. Das hat ein Forscherteam gerade ausgerechnet.
Wir könnten natürlich bei all den anderen Dürren in der Welt so tun, als hätten sie nichts mit dem Klimawandel zu tun, solange es dazu keine Studien gibt. Aber wie plausibel ist es, dass steigende globale Temperaturen zwar die eine Dürre in Indien 30-mal wahrscheinlicher gemacht haben, aber nicht die Dürren in den sechs anderen Ländern, die ich oben erwähnt habe?
Dass irgendetwas nicht stimmt auf dem globalen Lebensmittelmarkt, hat inzwischen jeder Mensch an der Supermarktkasse gemerkt. Innerhalb von Monaten sind die Preise für Käse, Obst und Brot sprunghaft angestiegen. Zwanzig, dreißig Prozent sind normal. Das wiederum treibt die Inflation. Inflation heißt, dass du dir jeden Monat für einen Euro immer weniger kaufen kannst, weil die Preise steigen. Der Euro wird entwertet. Aktuell in einer Geschwindigkeit von in Deutschland 7,4 Prozent, in den USA sind es sogar mehr als acht Prozent. Monat für Monat. Ein Treiber der Inflation sind die Nahrungsmittelpreise, die wiederum auch durch die Missernten steigen. Ein anderer Treiber sind die Öl- und Gaspreise.
Seit Jahren schon haben Experten und Expertinnen davor gewarnt, dass wir zu wenig Öl und Gas fördern, um den Bedarf der Menschheit zu decken. Die Öl- und Gasindustrie hat zu wenig Geld in die Erschließung neuer Vorkommen gesteckt. Das liegt nicht nur, aber auch daran, dass wir eben eine Klimakrise haben und die Erschließung neuer Vorkommen genau das Gegenteil dessen ist, was wir gerade tun sollten. Investoren meiden die Branche, finanzieren lieber neue Solarparks. Gleichzeitig verteuert der CO2-Preis die Energie, und Regierungen verbieten es Unternehmen, neue Felder zu erschließen.
Klimakrise und Energiewende befeuern Inflation
Ich muss es hier betonen: Das passiert zu Recht. Das ist richtig so. Dennoch zeigt sich gerade in diesem Dilemma, vor welche Herausforderungen uns die Klimakrise wirklich stellt. Viele Entscheidungen gleichen einem Pakt mit dem Teufel. Heute weniger Inflation, morgen mehr Überschwemmungen? Ja, danke.
Isabel Schnabel, die Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank und damit hauptberuflich Inflationsbekämpferin ist, sieht es so: Die Welt werde gleichzeitig von drei Kräften getroffen, die die Geldentwertung vorantreiben. Erstens, Fossilflation. Das ist das, was ich gerade beschrieben habe. Zweitens zerstören Naturkatastrophen und ihre Folgen Lieferketten, Produktionsstätten, machen das Wirtschaftsleben unberechenbarer. Das nennt sie Climateflation. Drittens, Greenflation. Das ist die Geldentwertung, die entsteht, weil die Welt immer mehr auf erneuerbare Energien setzt, gleichzeitig aber die Rohstoffe für diesen Trend nicht in ausreichender Zahl vorhanden sind. Nickel, Lithium, Kobalt, alles für die Energiewende kritische Rohstoffe. Alles Rohstoffe, deren Preise sich in den vergangenen Jahren vervielfacht haben. Die Folge: Solarzellen kosten tendenziell mehr, E-Autos, E-Bikes, Batterien. Bis die Bergbaufirmen neue Vorkommen erschlossen haben, dauert es bis zu zehn Jahre. Mindestens so lange kann auch der Inflationsdruck anhalten.
Der Ausbau erneuerbarer Energien hat in den vergangenen Monaten in Deutschland aber auch einen anderen Trend in Gang gesetzt, der bisher noch versteckt ist, aber bald für jeden oder jede offensichtlich sein wird: der relative Bedeutungsverlust von Bayern und Baden-Württemberg. Beide Bundesländer sind auch deswegen Gravitationszentren der Bundesrepublik geworden, weil sie extrem wirtschaftsstark sind. Bei der Ansiedlung neuer Unternehmen hatte in der Vergangenheit beiden Regionen billige Energie geholfen, die vor allem aus Atomkraft stammte. Die AKWs allerdings werden alle abgeschaltet. Und Solarzellen und Windräder haben die Regierungen der beiden Bundesländer nicht schnell genug ausgebaut.
Zu wenig Solar- und Windenergie: Bayern wird ein bisschen unwichtiger
Die Folge: Die beiden Weltkonzerne Intel und Tesla haben ihre neuen Fabriken in Sachsen-Anhalt und Brandenburg errichtet. Sie begründeten diesen Schritt explizit damit, dass in diesen Regionen die Versorgung mit grünem und damit mittelfristig auch billigerem Strom gesichert ist. Der ambitionierte schwedische Batteriehersteller Northvolt wiederum baut sein neues Werk in Schleswig-Holstein, in der windreichsten Gegend der Republik. Die Wirtschaftsgeschichte zeigt deutlich, dass sich Industrie oft dort ansiedelt, wo die Energie billig ist. Nord- und Ostdeutschland werden aus diesem Blickwinkel betrachtet wichtiger für das Bruttoinlandsprodukt als der Süden. Das wird auch verändern, wer den Ton in der deutschen Politik angibt. Niemand sollte sich wundern, wenn der nächste Kanzler ein Mann aus Schleswig-Holstein ist. Heißt er nun Robert Habeck (Grüne) oder Daniel Günther (CDU).
Sogenannte Klimawahlen soll es allerdings schon viele gegeben haben. Also Wahlen, bei denen Klima am Ende ausschlaggebend für das Ergebnis gewesen ist. In Deutschland steht diese These auf extrem wackligen Füßen, wie ich schon einmal hier beschrieben hatte. Aber in Australien fand gerade die vermutlich erste richtige Klimawahl der westlichen Welt statt. Die Konservativen, die in den vergangenen Jahren Kohle als Energieform bejubelt, manchmal den Klimawandel abgestritten und sich allgemein sehr oft über die „Greenies“ lustig gemacht hatten, haben die letzte Parlamentswahl in Australien krachend verloren. Nicht nur, aber vor allem weil den Australiern nach Rekord-Waldbränden und verheerenden Überschwemmungen in diesem Sommer (dem australischen) die Hutschnur platzte. Der neue Premierminister versprach in seiner Siegesrede, Australien zur „Supermacht der erneuerbaren Energien“ zu machen. Je mehr Naturkatastrophen die Welt erleben wird, desto mehr Klimawahlen werden folgen.
Wenn Krieg auf Waldbrand trifft
Ob und wann überhaupt eine Klimawahl in Russland stattfinden wird, wage ich hier nicht zu prophezeien. Aber selbst zwischen Ukraine-Krieg und Klimakrise gibt es eine kleine, aber sehr aufschlussreiche Verbindung: In Sibirien wüten Waldbrände. So weit, so normal. Im Raum steht allerdings die Frage, ob Russland wegen des Ukraine-Krieges überhaupt in der Lage ist, diese Brände zu löschen. Denn in der Vergangenheit hatte der russische Präsident Wladimir Putin immer wieder auch die Armee eingesetzt, um bei den Löscharbeiten zu helfen. Vielleicht gelingt es der russischen Feuerwehr trotzdem, der Brände Herr zu werden, wer weiß. Aufschlussreich ist das Detail aber so oder so, weil es uns genauso wie die vier anderen Beispiele etwas lehrt: Die Klimakrise ist kein vom Rest des Weltgeschehens losgelöstes Phänomen.
Wir müssen zu jeder Zeit damit rechnen, dass sie Probleme verstärkt, die dann wiederum die Bekämpfung der Klimakrise unwahrscheinlicher machen. Beispiel: Wenn alle über hohe Preise an der Tankstelle stöhnen, braucht es für Politiker und Politikerinnen extrem viel Disziplin, nicht der populistischen Versuchung nachzugeben, die Preise künstlich zu senken und so sogar Anreize dafür zu schaffen, noch mehr CO2 in die Atmosphäre zu blasen. Eine Disziplin, die die Ampel-Regierung beim Tankrabatt nicht aufbringen konnte. Noch ein Beispiel: Dass der Klimawandel Ernteerträge mittelfristig unter Druck setzt, ist seit langem bekannt und bis zu einem gewissen Grad einkalkuliert. Wie aber steht es mit einem Angriffskrieg, in dem die beiden wichtigsten Getreideexporteure der Erde verwickelt sind? So etwas findet sich nicht in den Modellen wieder.
Wenn wir die Klimakrise betrachten, gehen wir oft stillschweigend, vielleicht auch hoffend davon aus, dass wir „nur“ der Klimakrise Herr werden müssen. Inflation, Kriege und Hunger (Pandemien auch nicht zu vergessen!), begleiten sie aber, werden sogar verstärkt durch die Klimakrise.
Die Probleme verschränken sich, Arm in Arm. Einem uns noch fremden Rhythmus folgend, treiben sie uns vor sich her. Noch nie war das in meinen Augen so deutlich wie in diesem Monat. Die Welt erlebt ihren ersten richtigen Klimakrisen-Moment. Nur bekommt sie es nicht mit. Weil sie abgelenkt ist von Inflation, Krieg und Hunger.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Phlipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger