Reicht die Energiewende, um die Klimakrise zu lösen?
Der Mann, den ich vor ein paar Tagen auf einen Spaziergang getroffen habe, sagt: „Nein!“
Ye Tao ist ein 36-jähriger Nanotechnologe, der seit mehr als vier Jahren an einem Projekt arbeitet, das die Energiewende ergänzen soll. Tao ist Gründer und Direktor der MEER-Initiative, die Spiegel auf der Erde verteilen will, um ihr Klima zu verändern. Er ist Geo-Engineer.
Er glaubt, dass wir allein mit dem Ausbau von Solar- und Windenergie die Klimakrise nicht schnell genug lösen können. Denn der Schaden sei schon lange angerichtet. Es sei zwar richtig, die Emissionen von Treibhausgasen zu senken; wir seien damit aber auch etwas spät dran, sagte er mir im Schatten der Weltkriegs-Schutthügel im Berliner Volkspark Friedrichshain. Zwei Stunden lang spazierten wir durch den Park, während Tao mir berichtete, wie die Menschen das Erdsystem manipulieren sollen, um sich Zeit zu kaufen.
Das nämlich ist Geo-Engineering: Das zielgerichtete Eingreifen in die chemischen und physikalischen Prozesse der Erde.
Ye Tao möchte ihr einen großen Temperaturregler verschaffen. Er schlägt vor, auf der ganzen Welt Spiegel aus Glas zu verteilen, die Sonnenlicht reflektieren. Die Energie der Sonne soll so wieder zurück ins All geschickt und nicht von Boden oder Wasser aufgenommen werden. Der Treibhauseffekt würde sich dadurch verlangsamen, sagt Tao. Circa zwei Prozent der Fläche der Erde bräuchte man dafür.
Bereits heute spielen reflektierende Flächen eine entscheidende Rolle in der Klimakrise. Aber diese Flächen werden immer kleiner: Die hellen, glitzernden Eismassen an Nord- und Südpol reflektieren weniger Sonnenstrahlung, weil das Eis schmilzt.
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Ye Tao allerdings glaubt, dass seine Spiegel auch das Mikro-Klima ihrer Umgebung positiv beeinflussen können. In einem kleinen Experiment im Juli 2021 haben er und sein Team festgestellt, dass die Spiegel die darunter liegenden Böden um im Schnitt fünf Grad gekühlt und Feuchtigkeit im Boden gehalten haben. Für Tao ein Hinweis darauf, dass die Spiegel in Zukunft an und auf Agrarflächen genutzt werden könnten, die unter der Erderwärmung besonders leiden. Gleichzeitig könnten die Spiegel auf Dächern die Häuser kühlen und so den Stromverbrauch von Klimaanlagen senken. Zuletzt deutet Tao an, dass die reflektierte Strahlung auch zur Energieproduktion selbst genutzt werden könnte. Spruchreif sei diese Idee allerdings noch nicht.
Ende von fossiler Energie kann einen Schock auslösen
Tao hatte sich dieser Idee schrittweise genähert. Zuerst war da die Feststellung, dass die Menschheit perfiderweise nicht von heute auf morgen aufhören kann, fossile Energie zu verbrennen, ohne einen noch stärkeren globalen Temperatursprung zu riskieren. Die Partikel, die bei der Verbrennung entstehen, genauer die Sulfat-Aerosole, führen dazu, dass Wolken mehr Sonnenlicht reflektieren und so die Erde kühlen. Verschwinden sie, steigt die Temperatur auf der Erde.
Dieser Effekt ließe sich theoretisch ausgleichen, wenn die Menschheit parallel geordnet und schrittweise das ebenfalls aufheizende Kohlendioxid aus der Atmosphäre holt. Aber, so Tao, zumindest die maschinelle CO2-Absaugung lohne sich nicht. „Es kostet viel Energie und viel Geld; es skaliert nicht.“
Tao finanziert die Forschung an seinem Projekt zur Zeit mit Stipendien; Geld von Risikokapitalgebern will er nur annehmen, wenn es keine andere Lösung mehr gäbe. Denn Patente, die sich aus MEER ergeben, will er frei lizenzieren an jede:n, der oder die seine Technologie nutzen will.
Dass Menschen im großen Stil in die chemischen und physikalischen Prozesse der Erde eingreifen, ist keine Neuigkeit. Der Klimawandel selbst ist Folge eines solchen Eingreifens. Seit mehr als 200 Jahren entlassen die Menschen Treibhausgase in die Atmosphäre und haben so das Erdsystem manipuliert.
Allerdings hat James Watt seine Dampfmaschine nicht gebaut, haben die Stahlhütten von Thyssen-Krupp nicht Artilleriegeschütze geschmiedet, haben die chinesischen Immobilienentwickler von Evergrande nicht Geisterhäuser in die Provinz gestellt, um den Klimawandel zu verursachen. Der war nur Nebenprodukt von Fortschritt, Krieg und Kapitalismus.
„Zielgerichtet“ – das ist das entscheidende Wort bei Geo-Engineering. Taos Vorschlag bricht dabei mit einem Glaubenssatz unserer Klima-Debatte: Treibhausgase sind unsere Feinde; wir führen einen Kampf gegen Kohlendioxid, Methan und Lachgas.
Taos Denken ähnelt dem des Ökologen Charles Eisenstein, dessen Buch ich vor einem Jahr vorgestellt habe. Der kritisiert einen „Krieg gegen Kohlendioxid“:
„Dem Kriegsdenken wohnt eine Logik inne, die wir in der Klimakrise beobachten können: Besiege den Feind und erkläre den Sieg! Also: Schaffe alle fossilen Treibstoffe aus der Welt und das Problem ist gelöst. Aber das stimmt nicht.“ […] Der Feind komme, so Eisenstein, wie alle Feinde im Krieg als völlige Karikatur der Wirklichkeit daher. Das vereinfache die eigentlichen Gründe für unsere Umwelt- und Klimaprobleme bis zur Lächerlichkeit. „Die größte Bedrohung für das Leben auf der Erde sind nicht die Emissionen fossiler Brennstoffe, sondern der Verlust von Wäldern, Böden, Feuchtgebieten und Meeresökosystemen. Denn Leben erhält Leben“, schreibt Eisenstein.
Was ist das eigentliche Ziel?, fragt er. Und das fragt auch Ye Tao. Das eigentliche Ziel ist für ihn: all das schützen, was uns am Leben erhält.
Aber anders als Eisenstein, der einen ganzheitlicheren (und auch schwammigeren) Fokus hat, konzentriert sich Ye Tao allein auf die Temperatur. Auf der Webseite seines MEER-Projekts heißt es:
„Wir sind dabei, eine Hitzeschwelle zu überschreiten. Thermischer Stress dezimiert die Artenvielfalt und ruiniert Gewässer-, Meeres- und Land-Ökosysteme gleichermaßen. Der Mensch wird vielleicht nicht mehr da sein, wenn wir diese Grenze überschreiten. Sofern wir überleben, können wir Gespräche über niedrigere Emissionen und die Entsäuerung der Meere führen.“
Spiegelt sich in diesen Zeilen der radikale Pragmatismus, der in der Klimakrise immer wieder gefordert wird? Oder übersieht Tao etwas?
Er setzt auf konzeptioneller Ebene ungewöhnliche Akzente. Der bekannte US-Klimawissenschaftler Michael Mann und sein Kollege Ray Pierrehumbert schrieben im Guardian genau das Gegenteil:
„Letztendlich ist die CO2-Verschmutzung das, was zählt (Hervorhebung von mir). Geoengineering trägt nicht dazu bei, sie zu verringern und könnte von den Verschmutzern sogar als Argument für die fortgesetzte Verbrennung fossiler Brennstoffe und weitere Kohlenstoffemissionen benutzt werden.“
Geo-Engineering wäre ein Feigenblatt – das ist die Befürchtung. Ye Tao sagt, dass „Dekarbonisierung zur gleichen Zeit geschehen muss.“ Mehr noch: Seine Idee könne ein „Beschleuniger für Erneuerbare“ sein. Er sagt: „Spiegel sind wesentliche Komponenten für die konzentrierte Solarthermie und die auf Sonnenwärme basierende Werkstoffsynthese. Ein Beispiel ist das Start-up-Unternehmen Heliogen, das in Odeillo, Frankreich, Tests durchführt. Die Herstellung von Glas und Spiegeln in dem für MEER erforderlichen Umfang könnte die Kosten für diese erneuerbaren Technologien senken.“
Anders als andere Geo-Ingenieure will Tao, dass seine Idee auch umgesetzt wird. Es ist nicht nur eine Warnung an die Welt, ein letzter Ausweg; es ist ein konkreter Vorschlag.
Tao argumentiert, dass seine Idee Schritt für Schritt und zunächst lokal begrenzt umgesetzt werden könne, begleitet von Tests und Messungen. Der Eingriff ins planetare System würde sich über circa 100 Jahre ziehen, bis er seine volle Wirkung entfaltet; sollte es ungeplante Folgen geben, würde man sie früh entdecken und könne das Projekt noch rechtzeitig stoppen, sagt er.
Damit unterscheidet sich sein Vorschlag von bekannteren und mehr diskutierten Geo-Engineering-Ideen, bei denen in kurzer Zeit direkt die gesamte Atmosphäre manipuliert werden soll. Naomi Klein schrieb 2014 in ihrem Buch „Die Entscheidung: Klima gegen Kapitalismus“:
„Am häufigsten diskutiert wird die Option, Sulfat-Aerosole in die Stratosphäre auszubringen, sei es durch speziell ausgestattete Flugzeuge oder einen sehr langen Schlauch, der von Heliumballonen getragen wird (sogar der Einsatz von Kanonen ist im Gespräch). […] Über hundert begutachtete wissenschaftliche Arbeiten beschäftigen sich mit der Abschirmung der Sonne, und mehrere hochkarätige Forschungsteams sind im Begriff, Freilandversuche durchzuführen, um die Funktionsweise der einschlägigen Vorhaben unter Einsatz von Schiffen, Flugzeugen und überlangen Schläuchen zu testen. Wenn nicht bald Regelungen und Richtlinien entwickelt werden (und sei es, wie manche vorschlagen, ein generelles Verbot von Freilandversuchen), könnten in der Forschung demnächst Wildwest-Verhältnisse herrschen.“
Dazu passend haben gerade mehr als 60 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die Regierungen der Welt in der Fachzeitschrift „WIRES Climate Change“ aufgefordert, Solar-Geoengineering zu ächten:
„Wir sind der Meinung, dass solares Geo-Engineering auf planetarer Ebene im Rahmen des derzeitigen internationalen politischen Systems nicht auf eine global einvernehmliche und gerechte Weise geregelt werden kann.“
(Eine pointierte Kritik der Warnung findet ihr in diesem Twitter-Thread von Holly Jean Buck; zentrales Argument darin: Wenn die Weltgemeinschaft nicht in der Lage sein soll, Solar-Geoengineering global zu kontrollieren, wie soll sie dann in der Lage sein, es global zu ächten?)
Tao sagt über sein Projekt: „Es kann nur erfolgreich sein, wenn Regierungen es unterstützen.“ Denn bisher sei es noch viel zu teuer, die Spiegel herzustellen. Die Kosten müssten um circa 90 Prozent fallen, damit es eine realistische Option werden könne. Dazu braucht es die Hilfe der Staaten. Er stellt sich vor, dass beispielsweise eine kommunale Regierung in Südspanien nach Wegen sucht, Landwirtschaft in der Region trotz Temperaturanstieg weiter zu betreiben und dafür die kühlenden Spiegel einsetzen könnte. Die Reflektion der Sonnenenergie, die Kühlung der Erde, wäre dann aus Sicht dieser Regierung nur ein Nebeneffekt.
Wer managt denn die Atmosphären-Manager?
Nachdem Ye Tao und ich uns verabschiedet hatten, blieb eine Frage offen: Wenn jeder die Spiegel aufstellen könnte und sie wirklich lokal Vorteile bringen würden, welchen Anreiz hätten wir dann, diese Spiegel jemals wieder abzubauen?
Wenn die Energiewende fossile Energie überflüssig machte, bräuchte es dann in diesem Zukunftsszenario nicht eine politisch forcierte „Spiegelwende“, um wieder zurück auf Null zu kommen?
Die oben verlinkte Warnung der 60 Forscher und Forscherinnen enthebt richtigerweise Geo-Engineering dem rein physikalisch-naturwissenschaftlichen Spektrum. Die Gruppe fragt: Wer managt denn die Atmosphären-Manager?
Wie genau, wie demokratisch, wie inklusiv zielgerichtetes Manipulieren des planetaren Systems ablaufen würde, muss tatsächlich Kern von Geo-Engineering-Debatten sein. Sonst würden wir in die gleiche Falle laufen wie in der Klimakrise, wo prinzipiell völlig klar ist, wie sie zu lösen ist („STOP BURNING FOSSIL FUELS“), aber der Weg dorthin im Dunklen liegt, weil die Rückkopplungsschleifen in politischen Systemen mindestens genauso diffus und schwer vorhersehbar sind wie im planetaren System – und am Ende, deutlich formuliert, einfach jeder macht, was er will.
Wer tiefer in Ye Taos Projekt einsteigen will:
- Hier findet ihr seinen aktuellsten Vortrag und hier die dazugehörigen Slides (Achtung, großer Download ~ 140 MB).
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Till Rimmelle, Audioversion: Christian Melchert