Ich sitze im Auto irgendwo in den Serpentinen der kanadischen Rocky Mountains, spät nachts Anfang September. Es ist der dritte Tag meines Roadtrips durch British Columbia und Chris O’Connor – stolzer Holzarbeiter, Feuerwehrmann, Bürgermeister von Kanadas Hitzerekordstadt Lytton, Ehemann, alles davon a.D. – verliert sich nun völlig in seiner Wut. Seit Stunden spielen The Doors und ungefähr genauso lange diskutieren Chris und ich nun schon über das Thema, das er liebt und hasst zugleich: die Klimakrise. Er wirft hinter dem Steuer seinen Kopf hin und her – wie Jim Morrison in Concert, nur ist seine Bühne eine Straße am Talhang.
„Ihr verfickten Millenials. Ihr glaubt immer, ihr wüsstet alles. Einen Scheiß wisst ihr!“
Immer mehr fuckings, immer mehr shits dehnen seine Sätze. Chris wütet. Und ich? Ich kann nicht mehr.
Lytton, die heißeste Stadt Kanadas
Drei Tage zuvor lachte Chris noch in sein Handy. Ein roter Pickup, ein Anhänger und darauf ein Scooter für fette, alte Männer: Er sei ganz einfach zu erkennen, sagt er über Zoom. Und dann kurvt er schon um die Ecke, bleibt ruckelnd stehen vor den Türen des Vancouver Flughafens. Unsere gemeinsame Reise, vier Tage und 1649 Kilometer, beginnt mit Handschlag (er) auf Fistbump (ich).
Chris will mir seine Heimat zeigen: Lytton. 35 Jahre lang lebte er hier, in einer für das ländliche Kanada typischen Kleinstadt. Ein paar Hundert Einwohner, dazu ein Krankenhaus, eine Feuerwache, ein Schnapsladen, ein Fußballfeld, eine Kirche. Immer mal wieder war Lytton sogar in den Nachrichten. In der Regel immer dann, wenn hier mal wieder ein neuer Temperaturrekord gemessen wurde (was in den vergangenen Jahren regelmäßig passierte). Doch seit drei Monaten ist Lytton weltberühmt.
Alles begann Ende Juni. Da brach Lytton an drei Tagen in Folge den kanadischen Hitzerekord. Am Ende waren es 49,6 Grad Celsius, ganze zwei Grad mehr als in der US-amerikanischen Rekordstadt Las Vegas – und die liegt in der Wüste. Ein Tag nach dem Rekord, es war der 30. Juni 2021, fuhr ein Zug in die Stadt ein und als er bremste, sprühten die Funken auf das ausgetrocknete Gras. Die Flammen rasten durch die Stadt: Nicht mal 15 Minuten hatten Chris und seine Frau, um vor ihnen zu fliehen. Seitdem war Chris nicht mehr in seiner Heimat.
Lytton war der Auftakt zur wahrscheinlich heftigsten Brandsaison, die Kanada bisher erlebt hat – und sie ist noch nicht vorbei. Zwei Menschen starben, 4,2 Millionen Hektar Land brannten ab, das ist mehr als die Hälfte der Fläche Bayerns. Der Zehn-Jahres-Schnitt liegt bei 2,6 Millionen Hektar. Wald, Tiere, Häuser, Zeugs schweben nur noch als Kohlenstoffatome in der Atmosphäre. Lytton ist nun ein geflügeltes Wort für die Klimakrise geworden, sogar für Premierminister Justin Trudeau.
Chris ist da anderer Meinung. Als ich das erste Mal mit ihm sprach, sagte er: „Klimawandel? Ein Haufen Bullshit ist das! Die Wälder sind hier schon immer abgebrannt und hier war es schon immer heiß. Das ist alles nur Ablenkung, weil die Regierung versagt hat.“
Davon will er mich überzeugen. Deshalb will er sogar zum ersten Mal seit seiner Flucht wieder nach Lytton, will mir seine Heimat zeigen, damit mal ordentlich berichtet werde. Drei gemeinsame Tage im Auto, 1800 Kilometer quer durch British Columbia sind geplant. Der Klimakrisenleugner und ich, der, nun ja, wie immer man das Gegenteil davon nennt – Realist vielleicht?
Jetzt, da ich in sein Auto steige, wirkt Chris weit verlebter als in unserem Zoom-Gespräch. Die Falten sind tiefer, die Haut aschfahl vom Rauchen. In einer beneidenswerten Beiläufigkeit schnippt Chris die Asche seiner Zigaretten in den Innenraum des Autos. Sie schwebt durch den Innenraum und landet auf seiner fleckigen Kleidung, die er die kommenden vier Tage nicht wechseln wird. „Stört es dich, wenn ich rauche?“, fragt er den Nicht-Raucher. Und ich sage nein, weil ich weiß, dass ich nicht Ja sagen kann.
Wir plaudern locker herum, er erzählt von Schnäppchen, die er irgendwo aufgegabelt hat. Geld ist wichtig für ihn, jede Quittung muss aufgehoben werden, fein säuberlich sortiert. Auch die von „Tim Hortons“, einer Kaffee-Kette. Wir halten bei fast jeder Filiale. Ich muss immer holen, denn Chris sitzt im Rollstuhl, seit er vor zwei Jahren sein linkes Bein verlor. Diabetes. Wir essen rohe Würste von der Tankstelle, weil es “die Besten” sein sollen und sprechen über seine Liebe für den Broadway („Wenn ich alles Geld der Welt hätte, wäre ich jeden Tag in einem anderen Stück“).
An diesem Tag, es ist schon dunkel und wir haben noch 70 Kilometer vor uns, passieren wir auch Camp Hope. Das indigene Bibel-Camp ist noch immer Heimat für ein paar Dutzend Menschen aus Lytton, die von den Flammen vertrieben wurden. Einige werden noch länger bleiben. Nicht nur ihre Häuser, ihr Besitz, ihre Erinnerungen sind weg, sondern natürlich auch ihre Jobs.
Chris ist inzwischen Rentner, hatte eine gute Versicherung. So gut, dass er und seine Frau sich nach fast 30 Jahren im Einverständnis trennen konnten. Kein Haus mehr, kein Besitz, über den man sich streiten muss. Dazu verblasste Erinnerungen. Einfacher wird’s nicht mehr, das Trennen.
„Das Feuer ist etwas Natürliches hier. Es war schon immer da.“
Jetzt teilt sich Chris ein Motelzimmer mit einem Journalisten. Schlafen will er aber nicht – weil er nie länger als drei Stunden schläft. „Schlaf ist für Loser“, sagt er, gibt mir aber großzügigerweise sechs Stunden, in denen er mit seinem Rollstuhl im Raum herumwuselt. Durchschlafen ist nicht. Meinen Jetlag vertreibt erst der Frühstücks-Kaffee in Fat Jack’s Diner. Sein Essen rührt Chris kaum an, Wasser trinkt er nur zu seinen Pillen. In den folgenden Tagen stattdessen: Chips und Pepsi.
Nun schlängeln wir uns entlang des Thompson River, wir kommen Lytton immer näher. Keine Industriehallen mehr, keine Blaubeerfelder, die die Umgebung von Vancouver ausmachten. Die dicht bewaldeten Hügel des Flusstals knicken so steil und klar ab, als wären sie von Holzfällern mit einer gewaltigen Axt in die Landschaft gehauen worden. Tatsächlich prägte die Holzindustrie lange das hiesige Land. Heute geht es dieser Industrie immer schlechter, noch aber säumen die Holzfällercamps die Straßenränder, von denen aus sie über Jahrhunderte die kanadische Wirtschaft aufbauten.
Keine 15 Autominuten vor Lytton sitzen wir für den nächsten Kaffee zwischen Brennholz– und Reifenstapeln auf Plastikstühlen im Garten von Chris’ Schwägerin und blicken auf die Wälder vor Lytton. Chris hatte sie direkt nach dem Diner angerufen, um zu fragen, ob sie nicht einen Kaffee für uns aufsetzen wolle.
Chris: „Siehst du die hellgrünen Flecken im Wald? Das ist alles junges Holz. Vor zehn Jahren hat der ganze Hügel hier gebrannt.“
Schwägerin: „Wir haben hier gesessen, auf gepackten Koffern, haben den Flammen zugeschaut und gehofft, dass sie nicht über den Hügel springen.“
Chris: „Alles ist wieder zugewachsen. Das Feuer ist etwas Natürliches hier. Es war schon immer da.“
Einen Tag bevor Lytton abbrannte, rief die Vancouver Sun bei den O’Connors an. Die Stadt hatte da schon an zwei Tagen hintereinander einen neuen kanadischen Hitze-Rekord aufgestellt und gleich wieder übertroffen – erst 46,6, dann 47,9 Grad Celsius. Der Bürgermeister, Chris’ Nach-Nachfolger, wird zitiert: „Die Leute hier sind hohe Temperaturen gewöhnt.“ Und dennoch gab es Kühl-Zentren in der Stadt, in der die Menschen sich retten konnten.
Ich: „Hier wird es immer heißer und trockener und dadurch brennt es früher, öfter und immer mehr. Dieses Jahr ist ein Hitzerekordjahr und ein paar Millionen Hektar Wald sind einfach weg.“
Chris: „Ach, hier war es schon immer heiß und trocken. Der alte Rekord für British Columbia war aus den 1940ern (44,4 Grad Celsius im Jahr 1941). Rekorde sind da, um gebrochen zu werden.“
Ich: „Aber an drei Tagen hintereinander und um gleich fünf Grad? Hitzerekorde werden vielleicht um ein Zehntel Grad gebrochen, vielleicht ein halbes. Und ist es nicht komisch, dass der Rekord von vor 80 Jahren jetzt fast jeden Sommer gebrochen wird?“
Chris: „Es ist halt eine Phase. Die Welt funktioniert in Kreisläufen. Es wird wieder kälter werden.“
Ich: „Und dass Lytton niedergebrannt ist, weil alles so trocken war: Das berührt dich nicht?“
Chris: „Lytton ist schon mal niedergebrannt, ebenfalls in den 40ern. Da wurde es wieder aufgebaut. So werden wir es jetzt wieder machen. Besser als zuvor. Wir sind der heißeste Punkt Kanadas. Was soll man da erwarten?“
Und dann endlich: Lytton. Auf dem Ortsschild haben sie tatsächlich eine riesige Sonne gemalt: „Canada’s Hot Spot“. Chris hatte auf dem Weg noch erzählt, wie sie sich im Fernsehen jahrelang eine Show-Rivalität mit einem anderen, ebenfalls sehr heißen, Dorf geliefert hatten. „Die beste PR, die es geben kann“, sagt er.
Ich denke an den Frosch im Wasserglas, anhand dem mir in der sechsten Klasse die Lahmarschigkeit im Kampf gegen die Klimakrise erklärt worden war: Schmeißt man den Frosch in heißes Wasser, springt er sofort raus. Schmeißt man ihn in warmes Wasser und erhitzt es, stirbt er langsam – oder versucht, die Rekorde zu Geld zu machen.
„Jemand muss dafür bezahlen“ - nur wer?
Wir biegen vom Highway in die Stadt, unter der Eisenbahnlinie hindurch, die Lytton durchschneidet. Chris fährt nun zum ersten Mal seit er vor den Flammen fliehen musste durch das, was von seiner Heimat noch übrig ist. „Wie im Kriegsgebiet“, sagt er. Und doch beschreibt er das Szenario scheinbar unbeeindruckt: Da stand das Krankenhaus, da die Feuerwache und sein Haus direkt daneben. Feuertreppen und Kamine stehen noch dort, als sei es ein makaberes Kunstprojekt. Ein paar Papiere, Klamotten, Fotos, seinen Computer und sein linkes Bein – die Protese – hätten sie retten können, erzählt Chris. Dann sind seine Frau und er abgehauen, so schnell wie möglich.
Ich: „Wo war denn die Feuerwehr, als es brannte?”
Chris: „Im Norden brannte der Wald, die waren alle dort. Ihnen kann man keinen Vorwurf machen.“
Wem er aber einen Vorwurf macht, ist der Eisenbahngesellschaft. Kilometerlange Züge fahren durch Lytton, immer mal wieder landet auch ein Waggon im Thompson River, vor 15 Jahren waren es auch mal 800 Tonnen Hüttenkohle. Jetzt verklagen Chris und einige Lyttoner Bürger die Zuggesellschaft. Ob man bremsenden Zügen einen Funken vorwerfen kann? „Jemand muss dafür bezahlen“, sagt Chris.
Langsam kriechen wir die Hügel um Lytton hoch, immer den engen Holzfällerwegen nach, die Chris 35 Jahre lang gebaut hat – und so gut kennt, als wäre es gerade erst gewesen. Wir tun erst einmal das, was wir beide eigentlich nicht können: schweigen. Vor uns liegen ganze Bergseiten, die abgebrannt sind. Dort, wo einmal Natur, wo einmal Leben war, sind jetzt nur noch verbrannte Erde und schwarze, nackte Stämme übrig. Kilometerweit.
„Ich kann es verfickt noch mal nicht glauben”, sagt Chris. „Die scheiß Regierung, nichts haben sie stoppen können. So viele Wälder, 35 Jahre Arbeit: weg.“
Vor vielen Jahren hat Chris in Vancouver studiert. Im Labor der Universität von British Columbia fütterte er Papageien für seine Uni-Abschlussarbeit in Zoologie. Er hatte Vorlesungen in Biochemie und Biologie und einer seiner Dozenten war David Suzuki, einer der bekanntesten Umweltaktivisten der Welt. Doch herumsitzen war nicht seins, damals und eigentlich noch immer. Jobs in der Natur gab es in dieser Zeit aber vor allem in einer Branche: der Holzindustrie. Also heuerte er bei der Regierung an, um die Abholzungen rund um Lytton zu koordinieren.
Das Sägewerk in Lytton warb ihn ab, Chris verliebte sich in die Tochter des Eigentümers, heiratete sie, bekam ein Kind mit ihr. „Jeden Wald, den wir gefällt haben, haben wir neu gepflanzt. Damit die Generation meiner Tochter und die Generation nach ihr wieder davon leben kann“, sagt Chris.
Der Feldweg wird immer zugewachsener, Äste schlagen auf das Auto wie Putzlappen in einer Waschstraße. Chris möchte mir den Wald zeigen, den er gepflanzt hat. Wobei, genau genommen nicht er, sondern „Hippies, irgendwelche Naturschützer“, die Chris organisiert hat. „Sie haben uns gesagt, dass wir nicht mehr fällen dürfen, dass wir die Umwelt zerstören würden. Für die war der Wald tot. Aber jetzt schau ihn dir an.“ All die Bäume, hauptsächlich Nadelbäume, die er die seinen nennt, sind noch da. „Wenigstens die“, sagt er immer wieder. „Das ist es, auf was ich stolz bin.“
Fast am Gipfel angekommen, setzen wir uns vor einen Haufen Kiefer-Reste, der fast so groß ist, wie ein Einfamilienhaus. Auf Baumstümpfen sitzend schauen wir über die abgebrannte Schlucht. „Früher hätten wir das alles retten können“, sagt er.
Das alte Feuerbekämpfungssystem, Ranger-System nennt er es, habe so funktioniert: Sobald dem Ranger ein Feuer gemeldet wurde, egal ob Mittag oder Mitternacht, habe man alle im Dorf verfügbaren Ressourcen – Männer, Trucks, Bulldozer, Maschinen – auf das Feuer „geworfen“. Sie haben Schneisen in die Wälder geschlagen, damit die Funken nichts mehr zum Überspringen hatten. Haben alles an Wasser drauf geworfen, haben selbst Feuer angezündet, damit sich beide Feuer gegenseitig aufhoben. Alles sollte so schnell wie möglich unter Kontrolle sein. „Bis zehn Uhr morgens“, sagt er. Das sei die Regel gewesen, weil es danach zu heiß wurde und die Flammen nicht mehr eindämmbar waren.
Wenn Chris über die verbrannten Bäume spricht, meint er verbranntes Geld. Wenn ich über verbrannte Bäume spreche, meine ich verbranntes Leben.
Brennbares, Sauerstoff, Hitze/Energie. „Damit ein Feuer entsteht, braucht es diese drei Dinge“, sagt Chris und schreibt die Worte auf Papier. Dann verbindet er die drei Punkte mit Linien zu einem Dreieck und streicht eine durch. „Man muss nur eines der drei Dinge abschneiden, dann hat man das Feuer unter Kontrolle.“
Ich: „Ich lese das Dreieck so: Wenn es immer heißer wird und immer trockener, ist die Wahrscheinlichkeit für Brände doch einfach höher, die Brände sind heftiger und Reaktionszeit zum Löschen kürzer? Wäre das nicht ein Argument für die Klimakrise?“
Chris: „Sie haben das Löschsystem gewechselt. Jetzt gibt es nur noch professionelle Einsatzteams. Eine Handvoll, die überall verteilt sind. Die kommen teilweise nicht mal vor zehn Uhr an und fliegen nur mit ihren Helikoptern herum.“
Ich: „Sind die nicht sehr effektiv?“
Chris: „Ich habe mal ein Feuer gemeldet. Da sind sie zwei Stunden mit Helikoptern drüber geflogen und nichts ist passiert. Dann sind die Männer gekommen und in 15 Minuten war das Feuer unter Kontrolle. Männer löschen Feuer, nicht Maschinen.“
Ich: „Warum wurde das System gewechselt?“
Chris: „Es war ihnen wohl zu gefährlich, dass normale Leute das Feuer löschen. Aber ich sage dir, was noch gefährlicher ist: Waldbrände.“
Ich: „Warum kann es nicht beides sein? Klimakrise und der Systemwechsel?“
Chris: „Die Zerbrechlichkeit der Natur ist ein Mythos.“
Ich: „Stimmt schon. Aber wir fordern diese Naturgewalt doch heraus, indem wir den Treibhauseffekt noch anheizen.“
Chris: „Ich sage doch: Wir Menschen sind so klein, wir können so etwas gar nicht auslösen.“
Ich: „Aber so groß, dass wir alles aufhalten sollen, sind wir dann schon, oder wie?“
Chris: „Ich bin Teil der Natur, der Top-Predator. Ich bin die Spitze der Pyramide. Und wenn ich auf der Spitze sitze, dann muss ich auf die Basis Acht geben, sonst kann ich nicht mehr oben sitzen. In unserer Gesellschaft sollte es genauso sein. Aber unsere Reichen kümmern sich nicht um die Basis, sondern fliegen ins Weltall.“
Ich: „Aber das ist doch mein Punkt: Wir sind die Milliardäre der Natur, wortwörtlich. Wir kümmern uns nicht.“
Chris: „Ich sage nicht, dass wir gar keinen Einfluss haben. Fünf Prozent, vielleicht.“
Ein kleiner Erfolg für mich. Fünf Prozent, immerhin.
Für Chris war die Natur eine direkte ökonomische Lebensgrundlage. Bäume zu fällen, hat seine Familie, seine Stadt, hat ihn ernährt. Sie war gut zu ihm. Im Gegenzug setzt er sich gegen Verschwendung ein, hat als Feuerwehrmann die Wälder über Jahrzehnte beschützt. Doch er hat dabei nicht nur an die Natur selbst gedacht, sondern sie als ökonomische Lebensgrundlage verstanden. Wenn er über die verbrannten Bäume spricht, meint er verbranntes Geld. Wenn ich über verbrannte Bäume spreche, meine ich verbranntes Leben.
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Chris ist ein verdammt stolzer Mensch. Zu hören, dass etwas, was Jahrhunderte lang als richtig, als gut galt, jetzt plötzlich falsch sei: Das ist schwer zu ertragen. Als wäre das ganze Leben eine Lüge gewesen. Also verdrängt er es, so gut es eben geht – oder schiebt die Schuld auf andere. Im Fall von Lytton auf die Eisenbahngesellschaft. Im Fall der größer werdenden Waldbrände auf die Regierung.
Lori Daniels ist Professorin für Waldkonservierung an Chris’ alter Universität, der Universität für British Columbia. „Im letzten Jahrhundert haben wir den Wald sehr wirtschaftlich betrachtet“, sagt Daniels. „Dadurch haben wir einen sehr unglücklichen Sturm kreiert.“ Den Wald, den man heute in British Columbia sehe, das sei nicht der von vor hundert Jahren. Das meiste davon sei abgeholzt und durch wirtschaftlichere aber leichter brennbare Sorten, oft Monokulturen, wie etwa Kiefern, ersetzt worden. Der Wald, auf dessen Pflanzung Chris so stolz ist, ist Teil des Problems. “Natürliche Barrieren wie Läubbäume sind kaum mehr vorhanden”, sagt Daniels.
Inzwischen, sagt Daniels, sei man so machtlos gegen die heftigen Brände, dass man vor zehn Jahren die Strategie umgestellt hat. Man konzentriert sich auf den Schutz der Städte und der Infrastruktur. Und damit sich bessere Wälder bilden – Wälder, die mehr CO2 binden und Waldbrände aufhalten – lässt man die bestehenden Wälder abbrennen. Chris’ Wälder.
Chris hatte also Recht. Die Regierung hat die Feuer nicht gestoppt. Aber nicht nur, weil sie nicht konnte. Sie wollte es auch nicht.
Unsere Reise endet nicht in Lytton. Chris und ich fahren weiter, denn ich möchte Logan Lake besuchen – eine Stadt, die sich gerade noch vor dem Feuer retten konnte. Und Chris? Chris ist noch immer überzeugt davon, mich überzeugen zu können, wenn er es nur lange genug versucht.
Manche Bewohner trauen der Feuerwehr nicht – sie glauben, sie könnten ihre Häuser selbst retten
Tags darauf fahren Chris und ich in Logan Lake ein. Auf der linken Straßenseite am Ortseingang zu Logan Lake: Wald. Auf der rechten: abgebrannte Stumpen. Die Straße ist die Feuergrenze. Vor wenigen Tagen stand die Stadt kurz davor, abzubrennen. Der Geruch von eben gelöschtem Lagerfeuer liegt noch immer in der Luft. Die Flammen kamen bis in die Gärten, ein paar Holzhäuser – hier gibt es nur Häuser aus Holz – haben Brandflecken. „Es war sehr knapp“, sagt Doug Wilson, Chef der freiwilligen Feuerwehr.
Hat die Regierung versagt?
„Nein, gar nicht“, sagt er. „Die Regierung stellt viel Geld zur Verfügung, viel Beratung, wie man die Stadt feuersicher macht.” Fire Smart heiße das Programm und Logan Lake sei die erste Fire Smart-Stadt Kanadas. „Das hat uns gerettet.“
Wir fahren durch seine Stadt und Wilson zeigt, mit welchen Maßnahmen sie die Brände aufhalten konnten. Am stolzesten ist Wilson auf die kleinen Sprinkler auf den Dächern, die eine Art Wasser-Dom über dem Dach bilden. Funken können so nicht von den umliegenden Bäumen überspringen. Außerdem hat Wilson viele Leute überzeugen können, ihre Öl-Tanks ins Haus oder in eine Hütte zu stellen, die Reifen und den Müll in den Vorgärten wegzuräumen und die Dächer mit Blech zu verkleiden, damit sie kein Feuer fangen können. Aber alle konnte er nicht überzeugen.
Mitten im abgebrannten Wald steht ein angekokeltes Haus. Wilson erzählt, wie sich der Bewohner geweigert habe, es zu verlassen. Er habe der Feuerwehr nicht vertraut, dachte, dass er das Feuer alleine löschen könne. „Er war von Flammen umstellt. Wir mussten ihn und seine beiden Töchter mit einem Helikopter rausholen.“
22 Feuerwehren und 176 freiwillige Feuerwehrleute aus der ganzen Provinz hätten geholfen. Dazu die professionellen Teams des Wildfire Service, dem Waldbrand-Notfallteam der Regierung. Wilson zeigt mir die Schneisen, die sie mit Baggern gegraben haben, damit das Feuer keine Nahrung mehr findet. „Niemand dachte, dass wir eine Chance hätten. Aber wird haben es hingekriegt.“
Auf dem Weg nach Lake Louise halten Chris und ich noch einmal im Drive-In von „Tim Hortons“. Chris möchte sich Kaffee in eine Thermoskanne füllen lassen – aber die Mitarbeiterin macht nicht mit. Schließlich kaufen wir drei große Kaffeebecher. „Füll sie ein”, sagt Chris und hält mir seine Thermoskanne entgegen. Es ist keine Bitte. Hinter uns hupen die Autos. Wir stehen noch immer im Drive-In. Diese Erwartungshaltung, denke ich, die kenne ich. Das ist es, was ich auch bei vielen anderen Menschen beobachtet habe, die sich die Klimakrise einfach nicht eingestehen wollen: das sture Verharren auf vermeintlichem Recht, auch wenn es anderen schadet. Der Kaffee direkt in die Thermoskanne, das Kreuzfahrtschiff, der Flug von München nach Frankfurt…
Ich: „Du hast gesagt, du hättest den gesamten IPCC-Bericht gelesen.“
Chris: „Sogar ausgedruckt habe ich ihn.“
Ich: „Was stört dich daran?“
Chris: „Die Modelle. Die IPCC kann einen Scheiß vorhersagen. Nicht mal, wann Vulkane ausbrechen. Wenn Vulkane in keinem Modell drin sind, dann ist das Modell für den Arsch.“
Ich: „Was sollen denn Vulkane mit einem Klimamodell verloren haben?“
Chris: „Vulkane können alles ändern. Die Ausbrüche sind gewaltig. Bei dem Ausbruch in Island war ganz Europa dunkel.“
Ich: „Das hat doch null miteinander zu tun. Es geht doch darum, wie sich das Klima verändert und warum.“
Chris: „Wenn die IPCC mir vorschreiben will, wie ich zu leben habe, dann sollten besser ihre verdammten Modelle auch alle Faktoren drin haben.“
Ich: „Das ist doch gar nicht möglich.“
Chris: „Deswegen wette ich lieber auf meine Erfahrung und nicht auf irgendwelche Wissenschaftler. Die sind eh alle gekauft. Ich habe einen Freund, einen Wissenschaftler. Der hat mir gesagt, dass er gar kein Geld mehr dafür bekommt, um Forschung gegen die Klimawandel-Theorie zu machen.“
Ich: „Weißt du denn genau, wieso sein Antrag abgelehnt wurde?“
Er weiß es nicht. Aber holt schon wieder aus. Dieses Mal bin ich der Schuldige.
Chris: „Ihr Medien habt die Ökos die ganze Zeit hofiert. Ihr Journalisten wollt den Leuten nur Angst machen, dass ihr eure scheiß Zeitungen verkauft. Ihr macht perfekt funktionierende Industrien kaputt.“
Ich versuche, etwas zu sagen, aber Chris lässt mich kaum einen Satz beenden.
Chris: „Der Stickstoff-Kreislauf wird bei IPCC überhaupt nicht erwähnt. Kein Wort steht über Stickstoff da drinnen. Die Modelle sind scheiße.“
Das kann ich nicht unbeantwortet lassen:
Ich: „Das ist doch grundfalsch. Das steht da dutzende Male drin.“
Ich google es kurz, zeige ihm die im PDF markierten Stellen. Aber dass das hier alles nichts mehr bringt, merke ich wenig später, als ich versuche mit Chris über den Treibhausgaseffekt zu sprechen. Ich sage, ich hätte über den Effekt schon in der Schule gelernt. Chris sagt, das sei nur ein Zeichen dafür, wie früh wir Deutschen indoktriniert werden würden.
Chris wird immer lauter, ich immer verzweifelter. Was ich als Fakten verstehe, tut er als „Bullshit“ ab. Ich muss an einen Satz denken, den erst Mark Twain und später Jürgen Klopp sagte: „Wir ziehen die Gegner auf unser Niveau herunter und schlagen sie dort mit unserer Erfahrung.“
Zu viel CO2 in der Atmosphäre!
„Kohlenstoff ist doch natürlich, es ist nichts schlechtes.“
Weltweit kaputte Ökosysteme durch die Abholzung über die vergangenen 150 Jahre!
„Es gibt hier doch genug Wald. Das siehst du doch.“
Der umgekippte Regenwald, der inzwischen mehr CO2 ausstößt, als er bindet!
„Algen im Meer sind riesige Sauerstoff-Produzenten.“
Mein letzter, wichtigster Punkt ist der der Hitzeglocke. Wind entsteht durch Temperaturunterschied, hatte mir Gregor Teutsch vom Helmholtz Zentrum für Umweltforschung wenige Wochen zuvor erklärt. Dadurch, dass sich die Temperaturen im Norden und Süden der Welt angleichen, wird der Nordstream schwächer, das Wetter stagniert länger. Anstatt eines Hitzerekordes an einem Ort werden es dann – wie in Lytton – drei hintereinander. Die Wälder werden trockener, die Gräser und Wiesen auch, weil die Hitze steht. So entstehen die Bedingungen, unter denen ein Funken von einem Zug eine ganze Stadt abbrennen lassen kann.
Chris: „Du sagst es doch selbst: Der Zug ist schuld.“
Ich wisse einen Scheiß, sagt Chris. Er habe Biochemie an der Universität gehabt. Ich könne ihm gar nichts erzählen. Gegen Mitternacht, nach drei, vier oder fünf Stunden Diskussion – reißt bei Chris dann alles.
„Ihr fucking Millenials. Ihr glaubt immer, ihr wüsstet alles! Einen Scheiß wisst ihr! Vor 40 Jahren habe ich schon mit den verfickten Ökos gestritten. Ich töte die Wälder, haben sie gesagt. Aber du hast meine Wälder gesehen. Und du glaubst das, was sie sagen? Du bist genauso voller Scheiße wie die.“
Er hört und hört nicht auf, bis ich mit der flachen Hand auf das Armaturenbrett schlage. Mehrmals. „Es reicht!”
Chris O’Connor ist ein herzlicher, ein großzügiger Mensch. Er hat gerade fast alles verloren und teilt doch die verbliebenen Reste. Chris hat seine Familie versorgt, hat sicher so viele Bäume gerettet und gepflanzt, wie er geschlagen hat. Er ist ein Kümmerer, einer der Probleme durch Handanlegen löst. Doch die Lösungen von gestern haben die Probleme von heute und die Krisen von morgen geschaffen.
Vielleicht ist das Grund, weshalb die Alten nicht auf die Jungen hören wollen. Weshalb sie erst recht nicht zuhören können, wenn Greta “How dare you” sagt. Weil die meisten ihr Bestes gegeben haben. Sie haben versucht, das Leben ihrer Kinder zu einem Schönen zu machen und dabei das ihrer Enkel und Urenkel gefährdet. Das lasse dir mal von einem sagen, der sich noch nicht mal einen Vollbart wachsen lassen kann.
Die Nacht verbringen wir im Auto. Chris schläft auf dem Vordersitz, ich zwischen Sperrholz, Benzinkanister und Rollstuhl im Kofferraum. Ich schlafe zum ersten Mal durch. Am nächsten Morgen schauen wir uns den Sonnenaufgang über Lake Louise an. Die Sonne scheint lauf eine Felswand, die das lilafarbene Licht aufs Wasser reflektiert. Wir schweigen.
Als wir wieder im Auto sitzen, erzählt Chris von seiner Idee, Lytton seinen ursprünglichen, indigenen Namen wiederzugeben, sollte es wieder aufgebaut sein. Aus Solidarität, sagt er. „Eine schöne Idee”, sage ich. Am Busbahnhof von Red Deer lässt Chris mich raus, wie verabredet.
„Hat Spaß gemacht“, sagt er und umarmt mich zum Abschied.
Ich glaube, er meint es so.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Thembi Wolf, Fotoredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert