„Libertäre“ – das sind doch die US-Amerikaner, die den Staat verachten, die Bitcoin-Jünger, die Ayn-Rand-Versteher? Libertäre, das sind die, die radikal mehr Freiheit wollen, Eigenverantwortung zum höchsten Gut unserer Zeit machen und den Staat als nur grundsätzlich finstere Macht denken können, oder?
Nun.
Winfried Kretschmann, Sohn eines Volksschullehrers, Oberministrant in jungen Jahren und heutiger Ministerpräsident von Baden-Württemberg, hat sich selbst auch einmal einen Libertären genannt. Er ist einer der Unterzeichner der Gründungserklärung der sogenannten ökolibertären Grünen aus dem Jahr 1984. Es ist ein längeres Manifest, das manchmal scharf im Tonfall ist, aber keineswegs radikal.
Wie passt das zusammen?
Als ich vor ein paar Tagen das erste Mal auf die Gründungserklärung stieß, zog mich die Geschichte der Ökoliberalen in ihren Bann. Grüne und FDP sondieren miteinander, viele fragen sich, ob das gutgehen kann und hier ist ein Text, in dem beide Strömungen ineinandergeflossen sind – schon vor nun bald 40 Jahren. Debatten, die die Bald-Koalitionäre und auch das Land führen werden, zeichnen sich darin schon ab.
Der Text ist eine Erinnerung daran, dass politische Ideologien nicht starr wie Steine sind, sondern eher Wasser gleichen. Sie sind tatsächlich immer Strömungen.
Um zu verstehen, was für ein Dokument wir da vor uns haben, liebe Leser:innen, habe ich mich bei Menschen umgehört, die damals schon bei den Grünen dabei waren. (Vielen Dank an alle, die mir auf Twitter geholfen haben! 💙🟣)
Das Dokument gliedert sich in drei Abschnitte: Die Autor:innen beschreiben, was sie unter ökologischer Politik verstehen, grenzen sich ab von anderen Strömungen und schlagen Politik für die Zukunft vor. Es sind vor allem die letzten zwei Abschnitte, die überraschen. Schließlich waren die Grünen „zwischen 1982 und 1988 eine mehrheitlich linke Partei“, wie mir Gründungsmitglied Jutta Ditfurth am Telefon sagte.
Schlüsselsätze in dem Dokument sind:
- „Der Industrialismus ist der bislang letzte und zerstörerischste Erbe einer Geschichte, in der der Mensch sich zum Herrn der Welt machte und sich das Recht herausnahm, diese allein nach seinen Wünschen und seinen Vorstellungen zu formen.“
- „Weniger Machbarkeit, weniger Staat, weniger Versprechungen, weniger Anwendung des technologisch Möglichen.“
- „Ökologische Politik zielt auf andere Formen sozialer Sicherheit als die sozialstaatlichen.“
- „Und sie setzt nicht einfach auf die Fähigkeit anonymer gesellschaftlicher Kräfte, das Bessere zustandezubringen. Sie ist sich — anders als die Liberalen - darüber im klaren, daß bessere Verhältnisse hergestellt werden müssen.“
In diesen wenigen Zeilen stecken ein paar Überraschungen. Hier sind Libertäre, die sich klar vom „Industrialismus“ und seiner Wachstumssucht abwenden. Das würde ein Christian Lindner nicht unterschreiben und auch die jetzige Grünen-Führung nicht (Wahlkampfslogan: „Klimaschutz mit Wirkung - sichere Arbeitsplätze“).
Genauso wenig wie den Ruf nach „weniger Staat“. Das Grünen-Programm sieht genau das Gegenteil vor, große Investitionsprogramme, um der Klimakrise Herr zu werden – aber natürlich zeichnet sich genau hier die ideologische Schnittstelle zwischen dem grünen und dem liberalen Milieu ab. Winfried Kretschmann gehört zum Sondierungsteam der Grünen; er koaliert in seinem Bundesland gerne mit der CDU.
Gleichzeitig grenzen sich die Unterzeichner:innen sehr deutlich vom Sozialstaatsdenken der sozialdemokratischen Linken ab. Es bleibt im Dokument selbst etwas unklar, was genau sie meinen. Aber deutlich wird, dass sie das alte Modell für überholt halten, bei dem Stücke von einem immer größer werdenden Wohlstandskuchen an die Menschen verteilt werden. Sie wollen die „Verstaatlichung des Sozialen“ wieder rückgängig machen und ein „Maximum an Kompetenz den Menschen selbst zurückgeben“.
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Diese Zeilen erinnerten mich an eine Tabelle, die ich kürzlich gesehen hatte. Die „Stiftung Grundeinkommen“ hat die Wahlprogramme der Parteien nach Grundeinkommens-Freundlichkeit bewertet und eine Schlüsselerkenntnis ist, dass sich da FDP und Grüne näher sind als diese Parteien jeweils der SPD sind. In der genauen Ausgestaltung gäbe es große Unterschiede, aber die Programme weisen in die gleiche Richtung: Soziale Sicherung bedingungslos(er) gewährleisten. Für die Partei der Arbeit, SPD, war es schon immer schwieriger, Einkommen ohne Arbeit zu denken.
Dann wollten die „Ökolibertären“ aber auch vermeiden als „grüne FDP“ zu gelten, als eine Partei, die im Grunde nur dazu da ist, den beiden großen, SPD oder CDU, Macht zu verschaffen. Deswegen grenzen sie sich auch vom deutschen Liberalismus dieser Zeit ab, der damals schon stark in Richtung Neo-Liberalismus zog. Sie plädieren für eine aktive, eingreifende Politik, keine abwartende, die nur Rahmenbedingungen setzt und darauf vertraut, dass der Markt alles regelt. Ihre Grenze allerdings: Die Eigenverantwortung des Menschen. Sie soll das Ziel staatlichen Handelns sein und der Kraftkern, aus dem sich eine neue ökologische Politik speisen soll.
Erst in dieser Abgrenzung zur FDP wird klar, warum die Unterzeichner:innen zu dem etwas merkwürdigen Wort „libertär“ griffen. „Liberal“ war schon besetzt. So einfach.
Zuletzt allerdings behandelt das Manifest noch eine andere Frage, die aktuell ist: Wie viel Bewegungspartei steckt noch in den Grünen? Damals waren es Anti-Atom, Friedensbewegung und die linken Gruppen der späten 1970er Jahre, die die Partei ideologisch und personell speisten – aber auch vor sich hertrieben. Heute sind es Extinction Rebellion, Fridays For Future und die Wachstumskritiker:innen der Degrowth-Bewegung.
Die Autor:innen plädieren für Realpolitik, für Kompromisse, für den parlamentarischen Weg. Das mag heute selbstverständlich sein. Aber in den kommunistischen, westdeutschen Gruppen der 1970er Jahr war es das nicht. Revolution, Warten auf den destruktiven Moment des Kapitalismus’ – all das waren Wege, die ernsthaft diskutiert wurden.
Eine Frage allerdings beantwortet das Manifest nicht: Warum sind überhaupt Menschen wie Winfried Kretschmann zu den Grünen gegangen? Mit seiner Sozialisierung hätte er auch nahtlos in die CDU gepasst.
Die Grünen brachten damals Themen in die Politik ein, die neu waren, die Tabus berührten: Anti-Atomkraft, Widerstand gegen den NATO-Doppelbeschluss, die Ökologie selbst. Und was neu ist, ist attraktiv in einem Land, das bis dato von Sozialdemokrat:innen und Unionspolitiker:innen dominiert wurde. Gleichzeitig, und das zeigt das Gründungsmanifest der Ökolibertären sehr gut, war die Partei noch jung genug, um anschlussfähig zu sein für Milieus, die beim Gang durch die Instiutionen den „Wind der Veränderung“ auch tatsächlich spüren wollten.
Verändern ja, aber nicht radikal. Vielleicht lässt es sich so zusammenfassen.
Hat sich daran 40 Jahre später wirklich etwas geändert?
Schlussredaktion: Susan Mücke und Lisa McMinn, Fotoredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert