Als er das Hochbett sah, wurden seine Hände nass vor Schweiß, hinter seiner Stirn wummerte es. Der Raum vor ihm verschwamm mit dem Ort, dem er erst wenige Wochen zuvor entkommen war und den er am liebsten aus seiner Erinnerung auslöschen würde: die Zelle im Staatssicherheitsgefängnis in Lagos, Nigeria.
So erzählt Peter Donatus es heute. Doch der Raum mit dem Hochbett, den er im Herbst 1989 betrat, war mehr als 5000 Kilometer Luftlinie von seiner Heimat Nigeria entfernt. Er war gerade in der Unterkunft für Asylbewerber:innen am Flughafen in Brüssel angekommen. Es war früh am Morgen, er schnappte ein paar Wortfetzen auf, mal Französisch, mal ein merkwürdig klingendes Englisch. Er verstand nichts. Seine Finger, die er wenige Minuten vorher für Abdrücke hergehalten hatte, umschlossen eine Box mit Duschgel, Zahnbürste und Essen. Nach einer langen Reise, die er nie hatte antreten wollen, wartete er auf seinen Asylbescheid.
Peters Widerstand war gescheitert. Wieder einmal. Das hatte er schon oft erlebt. Als Schüler im Internat, der gegen die Maden im Essen protestiert hatte und dem sie trotzdem weiter vorgesetzt wurden. Als Demonstrant, der einen Generalstreik gegen die korrupte Regierung mitorganisiert hatte und der dafür ins Gefängnis gekommen war. Und nun als Vertriebener, der die Umweltkatastrophe und Korruption in seiner Heimat machtlos hinter sich lassen muss.
Der Kampf gegen Shell ist nicht so aussichtslos, wie es scheint
Aber jetzt will er gewinnen. Für sich – und für die Menschen in Nigeria. Denn in seinem Geburtsland fördern Großkonzerne seit mehr als 60 Jahren Erdöl und Erdgas. Dort, wo mal Sümpfe waren, sind heute Raffinerien, Ölleitungen und Tümpel aus Öl, groß wie Fußballfelder. Er, 55 Jahre alt, Geflüchteter, Aktivist und Vater eines Sohnes, will die Ölfirma Royal Dutch Shell, 180 Milliarden Dollar Umsatz, 86.000 Mitarbeiter:innen, einer der mächtigsten Konzerne der Erde, vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag bringen.
Das hört sich aussichtslos an. Ist es aber nicht.
Denn Peter Donatus ist Teil einer immer größer und lauter werdenden Bewegung, die „Ökozid“ zu einem internationalen Verbrechen machen will. Bisher ist die Ölverschmutzung im Nigerdelta noch nicht als international strafbares Verbrechen anerkannt, genauso wenig wie die Abholzung des Amazonas, die Umwandlung von Tropenwald zu Palmölplantagen in Indonesien oder die Müllstrudel im Meer und etliche weitere Umweltkatastrophen. Doch es tut sich etwas.
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag verhandelt erstmals über die Aufnahme von „Ökozid“ als Straftatbestand. Vorsätzliche Umweltverbrechen würden dann auf einer Stufe mit Völkermord und Kriegsverbrechen stehen. Für das mögliche Gesetz hat ein Gremium internationaler Jurist:innen in den vergangenen Monaten eine Definition von „Ökozid“ ausgearbeitet, die im Juni eingereicht wurde. Einige nationale Regierungen, darunter Frankreich und Belgien, haben bereits ihre Unterstützung zugesagt – und sogar der Papst hat sich dafür ausgesprochen.
Bis das internationale Ökozid-Gesetz kommen wird, werden noch ein paar Jahre vergehen, vermutet Peter. Doch die Aufmerksamkeit für das Thema steigt. „Das hat auch damit zu tun, dass viel mehr über das Klima gesprochen wird“, glaubt er. „Der menschengemachte Klimawandel ist Ökozid, man kann das nicht voneinander trennen.“
Sein Blick schweift zu den Kindern, die in der Nachmittagssonne im Innenhof der Alten Feuerwache spielen. Ich sitze mit Peter in Köln, wo er eine neue Heimat gefunden hat. In mehreren Stunden erzählt er mir seine Geschichte, die seiner ersten Heimat, die ihn trotz der neuen noch immer begleitet. Die Kinder spielen Fangen, andere kicken sich einen Ball zu. Wenn er für all das kämpft, denkt er oft an seinen eigenen Sohn.
Mit 13 organisierte Peter seinen ersten Aufstand – im Internat
Als kleines Kind fand er die Pipelines, die sich mehr als 7.000 Kilometer durch die Landschaft ziehen, noch aufregend. Ein riesiger Abenteuerspielplatz, auf dem er sich in den Ferien, wenn er zu Besuch bei seinen Großeltern war, austoben konnte. Für ihn und seine Geschwister ein Kontrast zum dicht bevölkerten Lagos, wo sie aufwuchsen. Bis tief in die Nacht rannten sie mit den anderen Kindern aus dem kleinen Dorf zwischen den Rohren hindurch. Und das Beste daran: Es gab gefühlt kein Ende.
Denn die Gaslampen der Förderanlagen überstrahlten die einsetzende Dämmerung, sodass es keinen Grund mehr gab, sich auf den Weg nach Hause zu machen. Gegen die Moskitos half es, sich das schwarze Erdöl, das aus Lecks herauslief und sich in Pfützen auf dem Boden sammelte, auf die Haut zu schmieren. Erst Jahre später begriff Peter die Umweltkatastrophe dahinter.
Die Förderung und die vielen Öllecks zerstören das Ökosystem und die Lebensgrundlage der Bewohner:innen – auch heute noch. 2013 wurde das Nigerdelta in die „Top 10 der am stärksten verseuchten Gebiete der Erde“ des Blacksmith Institutes aufgenommen. Besonders betroffen ist ein rund 1000 Quadratkilometer großes Gebiet östlich der Stadt Port Harcourt, das Ogoniland. Hier wird das meiste Öl gefördert und die Menschen, die dort leben, haben nachweislich eine zehn Jahre geringere Lebenserwartung als der Rest der Bevölkerung. Ihre Luft, ihr Wasser und ihr Boden sind verseucht.
Seinen ersten Aufstand organisierte Peter mit 13 Jahren. Das war in einem katholischen Internat, das er damals besuchte. „Ich war zwar voll privilegiert, auf so eine Schule gehen zu können – aber die Umstände waren extrem schlecht“, erzählt er. Das Schlimmste waren die Maden im Essen. Er wollte sie nicht länger hinnehmen und trommelte die anderen Jungs zusammen. „Wir haben gestreikt, wir haben demonstriert, wir haben auch Sachen kaputtgemacht.“ Am Ende wurden sie bestraft, statt mit besserem Essen belohnt.
Die Regierung lässt Widerständler verhaften – denn sie gefährden das Ölgeschäft
An der Uni hörte Peter von einem Mann, der sich gegen die Ölförderung einsetzte: dem Bürgerrechtler Ken Saro-Wiwa. Was im Nigerdelta geschah, bezeichnete er in seinen vielen Vorträgen als Genozid. Er rief zum gewaltfreien Widerstand auf. Der von ihm im Jahr 1989 gegründeten Bewegung „Movement for the Survival of the Ogoni People“ schlossen sich erst Tausende, dann Zehntausende, dann Hunderttausende an. Sie forderten, dass die verseuchten Gebiete saniert werden und dass die Bevölkerung an den Ölexporten mitverdient.
Auch Peter landete für seinen Protest im Gefängnis. Er organisierte im Frühjahr 1989 einen Generalstreik mit und verbrachte danach achteinhalb Monate im Staatssicherheitsgefängnis in Lagos, unter Folter und menschenunwürdigen Zuständen. „Das war keine Zelle, das war ein Lager“, sagt er. Er erinnert sich an die tropische Hitze, die sich unter dem Zinkdach der Halle staute. Es gab zwei Hochbetten für 80 Häftlinge und keine Toilette, nur vier Eimer, in jeder Ecke einer.
Als er davon erzählt, lacht er immer wieder. Doch das Lachen erreicht seine Augen nicht, denn es ist nichts weiter als ein Schutzmechanismus. In dem Gefängnis wurden die Leichen von Häftlingen, die an Unterernährung, Infektionen oder den Folgen der Folter gestorben waren, tagelang in der Hitze liegen gelassen. „Nach einem Tag kannst du das nicht mehr aushalten, aber wir haben das ausgehalten, wir mussten“, sagt er. Auf 100 Quadratmetern waren Schwerverbrecher und Mörder untergebracht – und Studenten wie Peter, die zur Gefahr für die nigerianische Regierung geworden waren.
Dass er sich als Student gegen die Ölförderung, aber damit auch gegen die korrupte nigerianische Regierung wandte, war nicht im Sinne seines Vaters. Er hatte für seinen Sohn einen anderen Plan gehabt: Die Schule gut abschließen und dann in Oxford studieren, eine solide Grundlage für ein sicheres Leben schaffen. Doch Peter hatte schon längst etwas entwickelt, zu dem er sich auch heute noch bekennt: Ungehorsam.
Seine Eltern kauften ihn aus dem Gefängnis frei
Im Gefängnis dachte Peter zwischendurch, dass er nicht überleben würde. Dass sein Zustand sich immer weiter verschlechterte und er irgendwann zusammenbrach, war sein Glück.
Denn man ließ ihn, anders als andere, nicht einfach liegen. Er wurde in ein Militärkrankenhaus verlegt, dafür ist im Hintergrund viel Geld von seinen Eltern geflossen. Und dann nochmal, um ihn aus dem Krankenhaus zu holen, in ein Versteck. Die Umstände seiner Flucht sind bis heute einer seiner größten inneren Zwiespälte. Denn letztlich hat ihm die Korruption, gegen die er kämpft, sein Leben gerettet. Er war gleichzeitig Opfer und Profiteur des Systems. „Ich habe lange gebraucht, um das zu begreifen“, sagt er.
Auch in Belgien wartete ein Gefängnis auf Peter, wenn auch in anderer Form. „Das sah ein bisschen aus wie hier“, sagt Peter und zeigt auf die rote Backsteinfassade der Alten Feuerwache. Erst am zweiten Tag erfuhr er, dass seine Asylunterkunft eine ehemalige Haftanstalt ist. Da konnte er nicht mehr. „Ich war vier Tage dort, ich war nur am Schreien“, sagt er. „Die Wunden von der Haft waren immer noch frisch, seelisch wie körperlich.“ Erst das Hochbett, dann das ehemalige Gefängnis – zum zweiten Mal binnen weniger Tage wurde er in sein Trauma zurückkatapultiert. Er schiebt seinen noch halb gefüllten Salatteller von sich, schüttelt langsam seinen Kopf. Es fällt ihm schwer über das, was er erlebt hat, zu sprechen. Aber er tut es trotzdem. Nur das Essen lässt er sich für später einpacken.
In Brüssel blieb Peter nicht lange. Er setzte sich das nahe hinter der Grenze liegende Aachen in den Kopf, organisierte seine illegale Einreise nach Deutschland. Und es funktionierte. Dort hat er Fuß gefasst, fing nochmal an zu studieren und lernte die Mutter seines Sohnes kennen. Doch das reichte ihm nicht.
Sein Leben ging weiter, doch genauso die Korruption und die Ölverschmutzung in seiner Heimat. Nigerias Militärregime ließ den Bürgerrechtler Saro-Wiwa mehrmals verhaften und hielt ihn monatelang im Gefängnis fest – ohne Prozess. Im November 1995 wurden er und acht weitere Bürgerrechtler hingerichtet.
Peter Donatus vernetzte sich mit anderen Aktivist:innen, unterstützte die nigerianische Opposition von Deutschland aus und organisierte 1996 am Jahrestag der Hinrichtung von Ken Saro-Wiwa eine Gedenkwoche in der Alten Feuerwache in Köln.
Plötzlich müssen auch die Menschen in Deutschland um ihre Lebensgrundlage fürchten
Einen knappen Kilometer von der Alten Feuerwache entfernt fließt der Rhein entlang, mit einem deutlich höheren Pegel als sonst. Ein Tiefdruckgebiet hat wenige Tage zuvor für extremen Niederschlag, Sturzfluten und Überschwemmungen gesorgt. Das, was bisher für viele Menschen im globalen Norden weit weg war, ist für den globalen Süden längst Alltag: Naturkatastrophen am eigenen Leib zu spüren. „Ich glaube, dass einige jetzt verstehen, wie es ist, Opfer von Ökoziden zu sein – und dass wir alle im selben Boot sitzen, im selben sinkenden Boot.“
Um den Ökozid auch rechtlich als Verbrechen zu verankern, hat Peter Anfang des Jahres ein deutschlandweites Bündnis gegründet. Gelänge Peter und seinen Mitstreiter:innen ihr Vorhaben, wäre das ein Meilenstein. CEOs könnten plötzlich nach dem Völkerrecht verklagt werden. Und Peter will zu den ersten gehören, die in Den Haag gegen Royal Dutch Shell klagen. „Mir geht es nicht darum, irgendjemanden zu bestrafen – sondern darum, dass dieses Übel und die einseitigen Machtverhältnisse beendet werden“, sagt Peter.
Während Peter das alles in Köln erzählt, stimmt die französische Nationalversammlung für ein neues Klimapaket der Regierung, wenig später folgt der Senat. Darin verankert: der Ökozid als nationaler Straftatbestand. Die Wurzeln dieses Gesetzes liegen in den Gelbwesten-Protesten, aufgrund derer Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einen Klima-Bürgerrat einberief.
Zwar wurden die Forderungen der Bürger:innen stark aufgeweicht. Doch es ist ein kleiner Erfolg. Und, wie Peter es an anderer Stelle schon sagte: „Irgendwo fängt es immer an.“
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Tarek Barkouni; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger