In meinem letzten Artikel hatte ich die Frage aufgeworfen, ob Atomkraft dazu beitragen kann, die Klimakrise zu lösen. Ich wusste, dass dieses Thema für Diskussionen sorgen wird; ich hatte den Text auf eine Weise aufgebaut, die vielen von euch befremdlich erscheinen musste. Auch das war kein Zufall.
Prominent tauchte in dem Artikel mit Anna Veronika Wendland eine Atomkraftbefürworterin auf, ihr stand keine ebenso starke Stimme auf der Gegenseite gegenüber. Aber die Mehrheit von euch lehnt Atomkraft ab, und hat auch gute Argumente für diese Haltung. Das habe ich in den letzten Jahren in Gesprächen und Mail-Wechseln mitbekommen.
Ich hätte also wiederholen können, was Generationen von Journalist:innen vor mir geschrieben haben und viele von euch sowieso schon wissen oder – und das erschien mir reizvoller – ich fordere euch heraus. Mit einer Perspektive, die streitbar ist, nicht so oft vorkommt und auch mich dazu gezwungen hat, meine Einstellung zu Atomkraft zu prüfen.
Weil ich den Text so aufgebaut hatte, haben auch Einige angenommen, dass ich dafür wäre, die Atomkraft wieder einzuführen. Aber wenn ich über eine bestimmte Perspektive berichte oder ihr Raum gebe, heißt das nicht zwangsläufig, dass ich diese Perspektive teile. Ich sehe Wert darin, gerade jenen Ansichten besondere Aufmerksamkeit zu schenken, die ich nicht teile oder von denen ich weiß, dass sie viele in meinem Publikum nicht teilen.
Denn, das behaupte ich jetzt einfach, noch nie hat jemand morgens selbstzufrieden in den Spiegel geschaut und einen Geistesblitz gehabt, der die Welt verändert. Nein, es gilt eher für alle, was der Zoologe Konrad Lorenz mal über Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sagte: „Die beste Morgengymnastik für einen Forscher ist es, jeden Tag vor dem Frühstück eine Lieblingshypothese über Bord zu werfen.“
Dieser Text ist ein Newsletter von Rico Grimm. Parallel zu unseren langen Magazin-Texten verschicken unsere Reporter:innen immer wieder kurze Analysen, Lesetipps und Rechercheskizzen, die einen Blick in ihre Arbeit hinter den langen Stücken ermöglichen sollen. Manche der Newsletter sind Kickstarter für anschließende, tiefere Recherchen. Und manche halten wir für interessant auch für Leser:innen, die die einzelnen Newsletter gar nicht abonnieren. Deswegen holen wir sie ab und an auf die Seite.
In diesem Sinne werde ich versuchen, uns immer wieder herauszufordern. Denn ja, auch ich halte Atomkraft für nichts, was uns in der Klimakrise weiterhilft. Allerdings ist meine Meinung durch die Recherche nuancierter geworden.
Der Atomausstieg war schlecht gemacht
Die Klimakrise drängt. Deswegen sind hilfreiche Lösungen nur welche, die wir relativ zügig einsetzen können. In diesem Sinne war der Atomausstieg Deutschlands im Jahr 2011 ein großer Fehler, nur konnte das damals noch niemand wissen.
Denn es hätte auch sein können, dass mit dem Atomausstieg die damalige schwarz-gelbe Regierung beginnt, mit Nachdruck die Erneuerbaren Energie auszubauen. Hat sie aber nicht, im Gegenteil. Mit immer neuen Gesetzen haben die Regierungen seit 2011 den Ausbau verschleppt und die Energiewende verwässert. So liefen die klimapolitisch katastrophalen Kohlekraftwerke weiter, klimapolitisch nur etwas weniger katastrophale Gaskraftwerke bauten die Regierungen hinzu und bereits gebaute, klimapolitisch akzeptable Atomkraftwerke, die wirklich zügig hätten helfen können, schalteten sie ab. Es gibt das Argument, dass das nötig gewesen sei, um den Raum zu schaffen für Erneuerbare. Praktisch ist das aber eben nicht geschehen.
Allerdings fordern Befürworter:innen auch, neue AKWs zu bauen. Hier sind in meinen Augen drei Faktoren wichtig, die schon vor der Diskussion der emotionalen Aspekte die Frage beantworten, ob Atomkraft in der Klimakrise helfen kann: Zeit, Kosten und Wille.
Von der Planung bis zum Anlaufen können bei einem AKW – überbordend optimistisch formuliert – zehn Jahre vergehen. Sehr oft dauert es viel länger, gerne auch mal zehn Jahre länger als gedacht, wie etwa beim Reaktor in Flammanville, Frankreich (bei zudem nicht klar ist, ob er jemals anlaufen wird). Befürworter:innen wie Anna Veronika Wendland argumentieren, dass zum einen auch die Energiewende sehr langsam abläuft und zum anderen Regierungen den Bau von Atomkraftwerken beschleunigen könnten, wenn sie denn wollten. Sie gab im Gespräch mit mir das Beispiel einer EU-Schweißnorm, die geändert wurde und so den Bau verzögerte.
Das berührt den zweiten Faktor: Kosten. Erneuerbare Energien, speziell Solarkraftwerke, werden (noch) mit exponentieller Geschwindigkeit billiger. Diese Entwicklung unterschätzt zum Beispiel auch ein Bill Gates. Den Rekord hält ein Solarpark in Portugal, der für einen Grundpreis von 0,011 Euro pro Kilowattstunde Strom produzieren kann. Zum Vergleich: Atomstrom kostet je nach Rechnung das Dreizehnfache. In diesem Preis sind noch nicht die Kosten für Endlagerung und Entsorgung des Atommülls enthalten.
Ich hatte es im Artikel angedeutet: Während AKWs mit jedem Jahr relativ gesehen unwirtschaftlicher werden und von Regierungen häufig aus Prestigegründen und militärpolitischen Erwägungen gebaut werden, werden Erneuerbare Energien immer billiger. Man muss keinen Master in BWL haben, um Atomkraft dann für einen schlechten Deal zu halten. Vor diesem Hintergrund neue AKWs zu bauen, wäre genauso ein klimapolitischer Irrsinn wie der vorzeitige und schlecht umgesetzte Atomausstieg im Jahr 2011.
Der dritte Faktor: politischer Wille. Wer politische Verantwortung trägt, definiert Politik gerne als die „Kunst des Möglichen“. Damit wollen die Politiker:innen darauf hinweisen, dass es einen Unterschied macht, Pläne am Schreibtisch zu schmieden oder für diese Pläne Mehrheiten zu organisieren. Dazu braucht es das berühmte politische Kapital. Je größer das Reformvorhaben, desto mehr Überzeugungsarbeit ist nötig.
Wie anstrengend solche Reformen sein können, zeigen die jahrzehntelangen Konflikte um Atomkraft und Erneuerbare selbst: Straßenschlachten, Bürgerbegehren, Klagen. Und das ist nur das Sichtbare außerhalb der Parlamente. In den Regierungsfraktionen winken die Kolleg:innen auch nicht einfach alles durch. Warum sollte bei dieser Sachlage eine Regierung ihr politisches Kapital in den Wiedereinstieg in die Atomkraft stecken? Denn wenn eine Regierung Schweißnormen ändern und die Auflagen für AKWs so reformieren könnte, dass sie schneller gebaut werden, könnte sie dann nicht auch dafür sorgen, dass die Energiewende endlich vollendet wird?
Wir vererben strahlenden Müll – und einen heißeren Planeten
Es sind diese drei Punkte, die Atomkraft in der Klimakrise zu keiner Alternative machen – völlig unabhängig von prinzipiellen Erwägungen. Die Frage nach dem Atommüll tauchte deswegen auch nicht in meinem Artikel auf, sie ist in meinen Augen bei der klimapolitischen Frage ein nachgelagertes Problem, ein vergleichsweise unwichtiges. Ja, Atommüll lässt sich nicht recyceln, er muss nach aktuellem technischen Stand 25.000 Jahre sicher aufbewahrt werden. Wir vererben ihn an die nachfolgenden Generationen. Allerdings vererben wir den nachfolgenden Generationen auch einen sich immer schneller erhitzenden Planeten.
Wo der Atommüll landet und wie er aufbewahrt werden sollte, ist aus diesem Blickwinkel ein lokales Problem, die Klimakrise aber ein globales. Wenn Atomkraft wirklich eine echte Lösung wäre, um Milliarden Menschen die Zukunft auf dem Planeten zu sichern, wäre das Atommüllproblem so gesehen akzeptabel. Zumal es Ideen gäbe, diese Frage zumindest aus technischer Sicht deutlich zu vereinfachen. Mit dem Verfahren der Transmutation etwa ließe sich die Halbwertszeit des Atommülls deutlich verkürzen, auf „nur“ noch 500 bis 1.000 Jahre. Dieses Verfahren ist, mit Ausnahme eines Reaktors in Russland, noch nicht praxisreif – genauso wenig wie alle anderen technischen Ideen für neue AKW-Modelle. Es sind keine Vorschläge, die in der Klimakrise weiterhelfen. Bill Gates Atom-Start-Up Terra Power etwa muss die Anlagendesigns im Computer modellieren, weil es keine Genehmigung für deren Bau bekommt.
Prinzipiell ähnlich sehe ich die Frage bei einem Reaktorunglück: Kernschmelzen sind verhältnismäßig selten. Wenn AKWs eine Lösung in der Klimakrise wären, müsste man hier das Wohl aller auf dem Planeten abwägen gegen das Wohl der AKW-Anwohner:innen. Speziell bei den AKWs, die in den dicht besiedelten Regionen Mitteleuropas stehen, wäre der Kreis der AKW-Anwohner:innen dabei allerdings sehr groß, was einen Einfluss auf die Abwägung haben müsste. Radioaktiv verseuchte Zonen wären ein möglicher Preis für die Lösung der Klimakrise.
Das Lokal-global-Argument vom größten Gemeinwohl greift allerdings bei einem Aspekt nicht: der Frage der Atomwaffen. Es ist zwar richtig, was Atomkraftbefürworter:innen sagen („Wer die Bombe will, findet einen Weg, auch ohne AKWs“), aber die Verbindung ist dennoch deutlich und wichtig – wie ich ja auch in meinem Artikel am Beispiel Frankreich und Großbritannien gezeigt hatte. Atomwaffen stellen genauso ein globales Problem dar wie die Klimakrise. Überspitzt gesagt: Wenn AKWs die Klimakrise zügig aufhalten könnten (was sie nicht können!), deren Bau aber gleichzeitig bedeuten würde, dass noch mehr Staaten noch mehr Atomwaffen bekämen, wäre nicht viel gewonnen.
Das Urteil ist eigentlich eindeutig
Unterm Strich fällt das Urteil in meinen Augen eindeutig aus: AKWs sind teuer, haben ewig lange Vorlaufzeiten, müssen gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt werden und schaffen mit Atommüll, Atomwaffen und der Gefahr eines GAUs Probleme, die nicht allein technisch-betriebswirtschaftlicher Qualität sind. Dem gegenüber steht mit Solar- und Windkraft sowie Energiespeichern (Batterien, Wasserstoff) und Computersteuerung ein System, bei dem absehbar ist, dass es funktionieren kann – mit politischem Willen.
Allerdings hielte ich es auch für falsch, deswegen die Forschung an Atomenergie komplett zu beenden. „Die Budgets für Forschung an neuen Reaktortypen sollten gestrichen werden“, schrieben etwa Autor:innen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin in einem Kommentar. Praktisch würde das bedeuten, dass Deutschland zwar die Forschung einstellt, aber viele andere Länder der Welt weiter entwickeln und bauen. Als Land ohne besondere atompolitische Expertise könnte Deutschland auf solche Forschung keinen Einfluss mehr nehmen.
Gleichzeitig kann niemand sagen, das hat Wissenschaft so an sich, ob nicht doch eines Tages zum Beispiel der Durchbruch käme beim fast schon sagenumwobenen Fusionsreaktor, der sehr große Mengen Energie produzieren könnte, aber seit Jahrzehnten auf sich warten lässt. Oder sich eine neue Technologie zur Atommüll-Aufbereitung durchsetzt. Die Physik-Nobelpreisträger:innen von 2018, Gérard Mourou und Donna Strickland, etwa haben eine Laser-Technologie mitentwickelt, die in der Theorie Atommüll unschädlich machen könnte. Ob das in der Praxis funktioniert, ist nicht klar. Auf jeden Fall wird es Deutschland ohne gute Atomphysiker:innen nicht herausfinden können.
Redaktion und Schlussredaktion: Bent Freiwald, Fotoredaktion: Till Rimmele.