Tot sind sie nicht die Ölgiganten, die Shells, Totals, Rosnefts und Exxons. So bald werden sie auch nicht sterben. Trotzdem ist es Zeit für einen Nachruf.
Denn wir dürfen nun einen Mythos zu Grabe tragen, der 100 Jahre die Weltpolitik bestimmte. Der Mythos von „Big Oil“ ist tot. Der selbsthypnotische Glaube an eine Gruppe von Firmen, die so sagenhaft reich, so sagenhaft mächtig, so sagenhaft erfolgreich ist, dass sich ihr niemand in den Weg stellen kann.
Die Todesursache: Akutes Marktversagen. Der Todeszeitpunkt: 17:00 Uhr. April 2020, als an der Rohstoffbörse in Chicago nordamerikanisches Öl zu Minuspreisen gehandelt wurde. Wer ein Fass Öl kaufte, bekam noch knapp 40 Dollar oben drauf. Was Marktbeobachter als technisches Kuriosum abtun wollten, dem niemand weiter Beachtung schenken brauchte, war mehr. (In der Anmerkung mehr zu den technischen Details.)
Um die Minuspreise zu verstehen, muss man verstehen, wie Öl gekauft und verkauft wird. Im Normalfall kauft niemand Öl mit sofortiger Lieferung so wie wir T-Shirts im Kleidungsgeschäft kaufen würden, sondern Öl wird heute gekauft zu einem bestimmten festen Liefertermin. Das Recht, Öl geliefert zu bekommen, wird dann in sogenannten Kontrakten festgelegt. Wer einen Kontrakt besitzt, bekommt dafür Öl.
Es gibt verschiedene Konktrakte für verschiedene Ölsorten und vor allem für verschiedene Lieferdaten. Das ist wichtig! Immer der jeweils nächst auslaufende stellt den aktuellen Ölpreis. Also im Februar wird für März gehandelt, im März für April und im April … für Mai. Die Minuspreise kamen Mitte April. Warum?
Weil mit jedem Konktrakt zwingend auch die tatsächliche physische Abnahme verbunden ist. Das heißt: Wer einen Kontrakt besitzt, sollte Tanker oder Ölspeicher haben, um das Öl dann auch annehmen zu können. Durch Corona ist aber die globale Nachfrage nach Öl in historischem Maß eingebrochen, während gleichzeitig Russland und Saudi-Arabien die Produktion gesteigert haben. Die Folge: eine Ölschwemme und immer weniger Platz, das Öl zu lagern. Mitte April, kurz vor Ende des Kontrakts, begann also, was man am besten mit „Heiße Kartoffel für Ölspekulanten“ beschreiben kann. Kaum jemand wollte derjenige sein, der den Kontrakt am Ende hält, weil kaum jemand wusste, was er mit dem Öl eigentlich anfangen und wo er es lagern sollte. Am Ende dann, als die richtige Panik einsetzte, haben die Spekulanten anderen Geld gezahlt, um ihnen die Kontrakte abzunehmen. Es wäre teurer für sie gewesen, das Öl anzunehmen. Deswegen die Minuspreise.
Minuspreise für Öl! Diese Schlagzeile ging um die Welt und erreichte Menschen, die sich noch nie mit dem Ölmarkt beschäftigt hatten, aber wissen: Was im Kapitalismus verschenkt wird, ist nicht mehr viel wert. „Schwarzes Gold“, aha.
Nun werden einige einwenden, dass es den Ölfirmen herzlich egal sein kann, was Onkel Matthias aus Arnstadt über sie denkt, solange er nur seinen SUV beständig volltankt und fliegt und heizt. Dann wird das Geld schon weiter fließen. Aber das glauben nicht einmal die Ölfirmen selbst.
Der Ölmarkt gleicht einer Arena für Vollkontakt-Kampfsport
Vor wenigen Tagen verkündete der niederländisch-britische Konzern Shell, dass er weniger Geld an seine Aktionäre ausschütten wird. Man würde denken: Völlig logische Entscheidung, wenn die Welt gerade wortwörtlich still steht und kaum noch Öl braucht. Aber diese Ausschüttung war für Shell so etwas wie das „Mia san mia“ für den FC Bayern, der Markenkern.
Lieber hatten die Shell-Manager Investitionen zurückgestellt und Mitarbeiter entlassen, als diese heilige Ausschüttung anzurühren. Es war ein Versprechen an die Investoren: Der Nahe Osten kann im Krieg versinken, das Ölkartell Opec kann den Markt mit Öl fluten, auf den Straßen kann die Bevölkerung in Millionenstärke für mehr Klimaschutz demonstrieren – wir zahlen euch immer mehr Geld aus.
Dieses Versprechen hat Shell nun gebrochen. Die Aktie verlor an einem Tag 10 Prozent ihres Wertes, nachdem sie schon in den ersten Corona-Krisen-Wochen abgestürzt war.
Denn der Ölmarkt gleicht gerade einer Arena für Vollkonkakt-Kampfsport, bei der die versehrten Legenden von gestern nochmal zu einem letzten Duell antreten. Der ultimative Preis: Überleben.
In der einen Ecke haben wir die amerikanischen Unternehmen – Chevron, Exxon – Firmen, die immer noch an eine Zukunft des Öls glauben. In der anderen die Europäer – Shell, BP, Total – die schon verstanden haben, dass es vielleicht unklug wäre, nur auf Öl allein zu setzen, aber noch Probleme haben, sich von den Gewinnspannen im Ölgeschäft gedanklich zu verabschieden.
In der dritten Ecke stehen Länder wie Nigeria oder Kanada, die zwar Öl haben, aber einen sehr hohen Ölpreis brauchen, um es mit Gewinn fördern zu können. Und in der vierten Ecke diejenigen, die diesen Kampf begannen: die Ölproduzenten mit den geringsten Förderkosten der Erde, Russland, Saudi-Arabien.
Russland und Saudi-Arabien haben Anfang März einen Ölpreiskrieg begonnen: Anstatt ihre Produktion angesichts der Corona-Pandemie zu drosseln, begannen sie, so viel zu fördern, wie ihre Pumpen hergeben. Sie wollen die nordamerikanischen Emporkömmlinge, die Fracker und Teersand-Förderer, aus dem Markt drängen. Die brauchen sehr hohe Ölpreise von 35$ bis 60$, um überleben zu können.
Die Strategie von Russland und Saudi-Arabien scheint aufzugehen. Die ersten Fracker müssen Insolvenz anmelden, die Kanadier investieren immer weniger in ihre Teersand-Minen. Gleichzeitig haben Russland und Saudi-Arabien auch die großen westlichen Ölfirmen erwischt, die mit Notfallprogrammen Kosten sparen und Investitionen zurückstellen. Im Falle der norwegischen Equinor wird es das Mutterland Norwegen, das selbsternannte „andere Land“, dazu zwingen, sich neu zu erfinden (sagen Norweger selbst). Aber auch Länder wie Brasilien, Mexiko oder Nigeria, deren Wirtschaft ebenso überproportional vom Ölpreis abhängt, leiden.
Was Saudi-Arabien und Russland im Ölpreiskrieg erreichen wollen
Aber – und das ist die Besonderheit in diesem Vollkontakt-Duell – selbst die beiden Länder leiden, die den Kampf herbeigesehnt haben. Mit jedem Schlag, den sie austeilen, treffen sie auch sich selbst. Saudi-Arabien braucht eigentlich einen Ölpreis von circa 80$, um alle seine Staatsausgaben zu finanzieren. Russland steht etwas besser da, dort sind es 40$. Die Strategie der beiden läuft auf einen Abnutzungskampf hinaus: Können wir die anderen im Ring K.O. schlagen, bevor wir selbst umfallen?
Die Ölindustrie wird auch dann nicht verschwinden, wenn die Welt mit erneuerbarer Energie läuft. Der Beweis liegt in der Küche der Menschen und zu Milliarden Tonnen auf den Müllhaufen. Ölraffinerien liefern die entscheidenden Vorprodukte für Plastik. Der Beweis steht aber auch vielleicht auf deinem Nachtschrank: Kerzen enthalten Paraffin aus Erdöl. Ja, selbst Kaugummis, Grillanzünder, Kosmetik, Kleidung, Reinigungsmittel enthalten Materialien, die direkt mit Erdöl zusammen hängen. Das heißt: Öl wird gebraucht, solange sich Ingenieure keine umweltfreundlicheren Alternativen einfallen lassen.
Die strategische Idee der günstigsten Erdölproduzenten der Erde ist also: Wir überstehen mit unserem Staatsreserven den Preiskrieg und gewinnen den Frieden. Saudi-Arabien und Russland setzen darauf, die letzten Überlebenden in einer postfossilen Welt zu sein, in der die Nachfrage nach Öl für Energie und Verkehr zwar sinkt, aber die Nachfrage nach Öl für Konsummaterialien mindestens gleich bleibt, wenn nicht sogar parallel zur Bevölkerungszahl steigt.
Wie anders aber ist diese Ölwelt, in der es um das nackte Überleben geht, als die Ölwelt des 20. Jahrhunderts? Als ein John D. Rockefeller mit seiner Standard Oil die amerikanische Wirtschaft in den 1910er Jahren in der Hand hatte? Als nach dem zweiten Weltkrieg mit der Wohlstandsexplosion für die Ölriesen nur Wachstum, Wachstum, Wachstum auf dem Programm stand? Als China am Anfang dieses Jahrhunderts auf die Weltbühne trat und den Ölpreis auf 150 Dollar schob?
„Big Oil“ war für Politiker:innen und Investor:innen immer die sicherste Wette, die sich auf die Zukunft der Menschheit abschließen ließ. Nun aber folgt die Welt des „Little Oil“ und irgendwann: Gar kein Oil – außer im Industriemuseum.
Schlussredaktion: Bent Freiwald