Das Postwachstums-Unternehmen, das rasant wächst

© EWS Schönau

Klimakrise und Lösungen

Das Postwachstums-Unternehmen, das rasant wächst

Vor 20 Jahren kauften Bürger:innen im Schwarzwald das Stromnetz eines großen Energieunternehmens. Es sollte eine neue Form des Wirtschaftens werden: regional, demokratisch, Postwachstum. Heute wachsen die Elektrizitätswerke Schönau immer schneller. Ist das kein Widerspruch?

Profilbild von Dominik Heißler

Köpfli. Notschrei. Muggenbrunn. Wer sich ansehen möchte, wie Wirtschaft in Zeiten der Klimakrise aussehen könnte, fährt durch grüne Felder und über waldbedeckte Hügel, vorbei an Skiliften und Haltestellen mit urigen Namen. Und dann, gleich hinter Schlechtnau, mitten im Schwarzwald, liegt Schönau.

Dort hat das Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung einen „Postwachstumspionier“ ausgemacht. Das heißt: Diese Unternehmen machen sich frei von Wachstumszwängen und messen ihren Erfolg darin, welchen Dienst sie an der Gesellschaft leisten.

Die Elektrizitätswerke Schönau (EWS) sollen ein solches Unternehmen sein. In dessen Vorstand sitzt Sebastian Sladek. Wir suchen uns einen Platz zum Reden. Im Hof ist es aber zu laut. Ein Bauarbeiter parkt dort gerade einen kleinen Bagger. Hinter einem vierstöckigen Rohbau ragt ein Kran in den Himmel. Sechzig neue Büroplätze entstehen gerade, aber die sind auch schon voll ausgelastet.

2016 hatten die Elektrizitätswerke 110 Mitarbeiter:innen. Heute sind es 160. Sie hatten 180.000 Kund:innen. Heute sind es 200.000. In den vergangenen zwei Jahren ist die Genossenschaft um ein Viertel auf 7.500 Mitglieder gewachsen. Der Umsatz stieg von 175 auf 196 Millionen Euro. Die EWS planen einen neuen Windpark und neue Bürogebäude.

Blick auf Schönau im Schwarzwald

Blick auf Schönau im Schwarzwald

Ein „Postwachstumspionier“. Wie kann das sein?

Sladek und ich finden einen Platz in einem der grauen Container, Übergangsbüros für die Mitarbeiter:innen, die bald in die Neubauten einziehen. Es ist eng hier, aber leiser. Sladek – Sieben-Tage-Bart, graues Poloshirt, Jeans – weiß, dass das rasante Wachsen der EWS ein Widerspruch ist. Und sagt: „Letztlich sind wir einem Ziel verpflichtet. Und das ist der Klimaschutz.“

Nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 gründeten besorgte Eltern – darunter auch die von Sebastian Sladek – die Initiative „Eltern für eine atomfreie Zukunft“. Sie organisierten Stromzähler, veranstalteten Energiesparwettbewerbe und sprachen mit dem örtlichen Energieversorger. Der sagte, sie sollten froh sein, dass er sie nicht wegen Geschäftsschädigung – den Energiesparwettbewerben – verklage. Und provozierte damit Widerstand.

Als ob man die Straßen zurückkaufen würde

Als der Konzessionsvertrag für das Stromnetz der Stadt auslief, legten die Bürger dem Gemeinderat selbst ein Angebot vor. Der lehnte zunächst ab. Zwei knappe Bürgerentscheide brauchte es und eine bundesweite Kampagne, mit der die „Stromrebellen“ die 8,7 Millionen Mark für den Kauf des Netzes zusammenbrachten, die der bisherige Betreiber verlangte. Die Sladeks und andere übernahmen das Netz 1997. „Das war damals so, als würde man die Straßen zurückkaufen“, erinnert sich Krautreporter-Mitglied Ben.

Die EWS bauten ein Solardach auf die Kirche, Windräder auf die Berge rund um Schönau, Minikraftwerke in die Gärten. Sie bauten an der Energiewende, als viele noch nicht einmal ahnten, dass sie einmal notwendig werden würde.

Ein kleines Unternehmen kämpfte gegen Atomkraft, gegen die großen Konzerne. Früher belieferten die EWS ein Dorf mit Strom, heute haben sie Kund:innen in ganz Deutschland. Sie sind einen langen Weg gegangen.

Status quo: Wachstum heißt Erfolg

Im grauen Container sagt Sebastian Sladek: „Ich werde mit 200.000 Kunden mehr wahrgenommen als mit 20.000.“ Wachstum ist ein Mittel, kein Zweck.
Wirtschaftswachstum fühlt sich in unserer Gesellschaft selbstverständlich an. Es ist meist nur ein Thema, wenn es ausbleibt. Das Bruttoinlandsprodukt ist einer der wichtigsten Indikatoren für politisches Handeln. Und für viele Unternehmer:innen ist Wachstum gleichbedeutend mit Erfolg.

Viele halten es gar für überlebensnotwendig. Denn im Kapitalismus gibt es Zwänge: Was, wenn eine große Investition einen Kredit erfordert? Banken erwarten Rendite. Was, wenn eine Rezession droht? Besser für den Notfall sparen. Droht der Konkurrent mit feindlicher Übernahme? Besser selbst größer werden. All diese Bedenken, diese Furcht vor der unsicheren Zukunft sorgt für einen Wachstumsdruck, auch wenn Unternehmen oft nur weiter existieren wollen. In „Alice im Wunderland“ sagt die Rote Königin zu Alice: „Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.“

Doch Wachstum hat auch die Klimakrise, das Artensterben und soziale Ungleichheit gebracht – alles Probleme, die durch noch mehr Wachstum nicht gelöst werden.

Wenn man sich in die Theorie des Postwachstums einliest, stößt man auf begriffliche Unschärfen: Postwachstumsunternehmen sind nicht per se gegen Wachstum. Die Bewegung ist jung, sie nahm erst zur Finanzkrise 2008 Fahrt auf. Ihr Ziel: eine gerechte, nachhaltige Lebensweise für alle.

Es geht um Transformation

Postwachstumsunternehmen möchten unsere Art zu wirtschaften so verändern, dass wir dieses Ziel erreichen können. Dafür ist ein Mechanismus entscheidend: Transformation. Es geht nicht darum, Verbrennungsmotoren durch elektrische zu ersetzen. Sondern darum, Mobilität neu zu denken. Im Energiesektor heißt das: Nicht nur Atom- und Kohlekraft durch Windenergie zu ersetzen, sondern die Art, wie wir Energie produzieren und mit ihr umgehen, neu zu denken. In der Postwachstumstheorie geht es immer um alles: Wachstum. Demokratie. Regionalität. Bewusstseinswandel.

Christian Lautermann vom Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung forscht zu transformativem Unternehmertum. Er findet es „wünschenswert, dass bestimmte Unternehmen wachsen. Aber im gleichen Umfang müssen klassische industriekapitalistische Sektoren reduziert werden.“ Nachhaltige Unternehmen sollen wachsen, nicht-nachhaltige schrumpfen.

Moment mal: Ist das nicht ein Etikettenschwindel? Wachstum, nur in grün? Auch Windräder versiegeln doch Flächen. Auch neue EWS-Büros verbrauchen Ressourcen.

Die EWS verzichten auf Gewinn, wenn es der Sache dient

Die EWS bauen Windräder. Punkt für die Skeptiker. Was die Elektrizitätswerke aber auch tun – und andere Unternehmen nicht: Sie schmälern bewusst und vorsätzlich ihren Gewinn. Denn sie beraten ihre Kund:innen, wie sie Strom sparen. Und machen ihnen bewusst, dass Solarzellen auf dem Dach nicht zu hemmungslosem Stromverbrauch verführen sollten. Damit wirken sie gegen die sogenannten Reboundeffekte, die einen großen Teil der Einsparmöglichkeiten grüner Technologien zunichtemachen.

Sebastian Sladek ist merklich stolz darauf, dass EWS-Kund:innen zu den sparsamsten Stromverbrauchern Deutschlands gehören. Bei der Finanzkrise sei auch ein „großer deutscher Automobilhersteller“ auf die EWS zugekommen. „Wir haben uns gegen eine Zusammenarbeit entschieden, weil sie auch Dinge machen, die uns nicht gefallen. Wir wollten nicht deren Feigenblatt sein.“

Auf Wachstumsoptionen zu verzichten, widerspricht klassischer Managementliteratur. So zu wirtschaften, verlangt von Unternehmen alternative Unternehmensziele und intensive Reflexion. In der EWS diskutieren sie immer wieder darüber, wie und wohin sie gehen wollen.

„Wir könnten auch gar nichts ausschütten“

Bei den Gesellschafterversammlungen etwa schlage immer wieder ein Genosse vor, die Renditeauszahlung zu erhöhen, sagt Alexander Sladek. „Dann stehen aber fünf auf und sagen: Wir könnten auch gar nichts ausschütten.“ Sebastian Sladeks Bruder – er sitzt ebenfalls im Vorstand der EWS – lacht ungläubig bis stolz, als er das am Telefon sagt.

Beide Sladeks sind studierte Ökonomen und Umweltschützer zugleich. Sie betonen unabhängig voneinander, dass „unterm Strich eine schwarze Zahl stehen muss“ – klar, ein Unternehmen, das dauerhaft Miese macht, verschwindet vom Markt. Die Brüder sagen auch, dass einige Projekte „auf der Kante genäht sind“ (Sebastian) oder gar „rote Zahlen“ (Alexander) schrieben. Etwa, wenn die EWS Wärmenetze in kleinen Gemeinden verlegt.

Sebastian Sladek ist überzeugt, dass man tun muss, was man tun kann. Er sagt: „Wir sind ein Bewegungsstromanbieter: Unsere große Stärke ist es, andere zu bewegen, sich zu bewegen.“ Dafür schließen die EWS sich mit anderen Ökostromversorgern zusammen, mit Umwelt- und Klimaschutzverbänden, sie fördern Bürgerenergieprojekte und Start-ups wie etwa das nachhaltige Mobilfunkunternehmen WeTell.

Alle Tarife enthalten zudem einen „Sonnencent“. Damit kamen im vergangenen Jahr 1,6 Millionen Euro zusammen, mit denen die EWS unter anderem Aufklärungsmaßnahmen und die sogenannten „Rebellenkraftwerke“ finanzieren: Das sind private Photovoltaik- beziehungsweise Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen und Brennstoffzellen. 2.850 Anlagen mit einer Leistung von 27.000 Kilowatt sind so bereits entstanden. Auch damit schaden die EWS dem eigenen Geschäft: Wer seinen Strom zu Hause produziert, bezieht ihn nicht von ihnen.

Der Gedanke dahinter: Energieversorgung soll dezentral und regional sein. Aber was passiert, wenn das Unternehmen, das als Rebell begann, zu groß wird?

Es ist wichtig, wie und nicht dass die EWS wachsen

Für Jana Gebauer, Autorin der IÖW-Studie und freie Unternehmensforscherin, ist es wichtig, wie die EWS wachsen. Dass sie ihrem Anspruch, für dezentrale, demokratische, bürgernahe Energieversorgung zu sorgen, treu bleiben.

Aber seit kurzem haben die EWS sogar einen „energiepolitischen Sprecher“ in Berlin: einen Lobbyisten.

„Das ist in gewisser Weise schizophren, weil wir ja kritisieren, dass große Unternehmen bei der Politik gehört werden“, sagt Sebastian Sladek. Doch man müsse den Abgeordneten die Möglichkeit geben, sich alternativ zu informieren. Ihre Lobbyarbeit sei nicht nur für die EWS, sondern „den ganzen bürgerschaftlichen Akteuren, die im Kontext Energiewende engagiert sind“.

Sladek wirkt angespannt und erschöpft. Immer wieder betont er im Gespräch, dass uns im Angesicht der Klimakrise die Zeit fehlt. Diese Dringlichkeit habe er vor einigen Jahren noch nicht verspürt.

Ob die EWS schon zu groß sind? „Eine Grenze gibt es bezugsläufig“, sagt Sladek, der Ökonom. Was er meint: Die EWS können nicht mehr Strom verkaufen, als sie haben. Aber Wachstum bedeutet auch, dass Sladek sich heute mehr mit Papierkram herumschlagen muss als früher.

Doch auf Wachstum zu verzichten, würde ihrem Ziel schaden, die Energiewende voranzubringen. Dazu kommt, dass der Energiemarkt ein starker Verdrängungsmarkt ist: Die Kund:innen wechseln die Anbieter, aber ihre Zahl bleibt insgesamt gleich.

Die Rechtsform kann Wachstum beschränken

Anfangs waren die EWS eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die Mitglieder hafteten mit ihrem Privatvermögen. Seit 2009 sind sie eine Genossenschaft. Das heißt: Die Mitglieder können demokratisch beschließen, ob sie weiter wachsen wollen oder nicht. Jedes Mitglied hat eine Stimme, unabhängig von der Höhe der Einlage.

Bei den EWS haben sie zudem eine „Gierschranke“ eingeführt: Maximal tausend Euro darf jedes Mitglied einzahlen. Auch die Rendite ist seit der Gründung von 6,5 auf 3,5 Prozent gesunken. „Wir wollen lieber viele Mitglieder mit kleinen Beiträgen als ein paar große Platzhirsche“, sagt Sebastian Sladek. Wenn es nach ihm ginge, würde man diese Rendite ganz abschaffen.

In Debatten hört man heute oft von „-wenden“: Energiewenden, Agrarwenden, Verkehrswenden. Viele verlassen sich auf die Politik, die oft zwei Schritte nach vorne zu machen scheint und dann wieder eineinhalb zurückgeht.

Einige kleine und mittelständische Unternehmen und Start-ups warten nicht darauf, dass sich die Politik bewegt. Es gibt sie in allen Wendebereichen. Sie testen auf lokaler Ebene aus, was möglich ist. Sie bauen an den Wenden mit.

Sebastian Sladek weiß, dass so fundamentale Umwälzungen Angst machen können. Doch er sagt auch: „Wenn ich auf die EWS schaue: Es kann auch wahnsinnig Spaß machen, gemeinsam etwas zu erreichen.“


Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.