Was bedeutet Wachstum wirklich?
Wer heute „Wachstum“ sagt, meint oft: Wirtschaftswachstum. Das zeigt schon, wie „natürlich“ die Verbindung von Wachstum und Wirtschaft für viele Menschen ist. Wirtschaftswachstum im engeren Sinne sagt aus, dass ein Land in einem Jahr mehr Waren produziert und Dienstleistungen verkauft hat als im Jahr davor. Die Statistiker:innen messen das Wirtschaftswachstum mit dem sogenannten Bruttoinlandsprodukt (BIP). Dabei ist das BIP noch eine recht junge Idee: Es setzte sich in einer anderen Form im Zweiten Weltkrieg (1939 bis 1945) durch, weil die Regierungen der USA und Großbritanniens wissen wollten, wie viel Geld sie für den Krieg ausgeben konnten. Der Ökonom Simon Kuznets, Vordenker und Mitentwickler des BIP, warnte übrigens schon in den 1930er Jahren davor, die Wirtschaftsaktivitäten auf eine Zahl zu reduzieren und politische Entscheidungen daran auszurichten. Er betonte, dass eine einzelne Zahl nicht alle Aspekte eines komplexen Wirtschaftssystems einfangen könne. Zum Beispiel war es für Kuznets sehr wichtig, auch darauf zu gucken, wie die Einkommen verteilt sind.
1968 sagte Robert Kennedy, der Bruder des US-Präsidenten John F. Kennedy: „Das Bruttoinlandsprodukt misst alles, außer dem, was das Leben lebenswert macht.“ Damit bringt er überspitzt auf den Punkt, was auch viele Ökonom:innen am BIP kritisieren: Politiker:innen orientieren ihre Politik am BIP und nehmen es als Messgröße für Wohlstand. Dabei stimmt der Zusammenhang – je höher das BIP, desto größer der Wohlstand – in vielen Fällen nicht.
Wenn sich zum Beispiel Eltern Zeit für ihre Kinder nehmen und deshalb weniger arbeiten, sinkt das BIP. Wenn sich ein Investmentbanker entscheidet, seinen Beruf aufzugeben, von seinem Ersparten zu leben und ehrenamtlich Menschen im Altersheim zu besuchen, sinkt das BIP. Dabei würden viele zustimmen, dass eine Gesellschaft, in der Eltern ihren Kindern vorlesen und alte Menschen nicht einsam sein müssen, eine gute Gesellschaft ist.
Krautreporter – die besten Texte 🏅
Dieser Text erschien das erste Mal vor fünf Jahren, ist aber immer noch wichtig und interessant. Deswegen haben wir ihn grundlegend aktualisiert.
Nachdem die Flut im Ahrtal das Zuhause von Tausenden Menschen zerstört hatte, stieg das BIP. Denn Handwerker:innen bauten Häuser wieder auf, Menschen kauften neue Möbel. Wenn Menschen kollabieren, weil es immer mehr Hitzewellen gibt, geht es zwar den Menschen schlechter, aber das spiegelt sich kaum im BIP wider. Wenn sie ins Krankenhaus kommen und Infusionen bekommen, steigt das BIP sogar.
Warum wollen so viele immer mehr Wachstum?
Zwischen dem Ende der 1920er Jahre und den 1930er Jahren gab es eine große Wirtschaftskrise. 1933 waren in den USA ein Viertel der Menschen arbeitslos. Auch in Deutschland verloren Millionen Menschen ihren Job. Im Januar 1930 kamen in Köln auf eine offene Stelle zwölf Menschen, die dort arbeiten wollten, im Januar 1932 waren es 101 Menschen. Viele konnten sich die Miete für ihre Wohnung nicht mehr leisten und mussten umziehen oder wurden obdachlos. Rentner:innen bekamen weniger Geld. Ein Bürgermeister sagte damals: „Was gezahlt wird, ist zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben.“ Die Menschen waren wütend auf die Politik, und Adolf Hitler und seine Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) haben stark von dieser Unzufriedenheit profitiert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Menschen nicht nur zerstörte Häuser wieder aufgebaut, Ökonom:innen und Politiker:innen haben auch darüber nachgedacht, wie die Wirtschaft in Zukunft funktionieren soll. Sie wollten auf jeden Fall verhindern, dass es nochmal zu einer Wirtschaftskrise kommt. Deshalb nahmen sie sich vor, die Produktion einfach immer weiter zu steigern. Wenn die Produktion niemals stagniert, dann kann es auch keine Krise geben, so die Idee.
Von da an wurde es also sehr wichtig, dass es der Wirtschaft gut geht. 1967 verabschiedete der Bundestag das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“. Mit dem Gesetz wollte die Bundesregierung unter anderem Vollbeschäftigung und ein „angemessenes“ Wirtschaftswachstum erreichen. Das Gesetz gilt heute noch, auch wenn Politiker:innen es schon lange nicht mehr explizit anwenden. Der Fokus auf Wirtschaftswachstum ist aber immer noch da. Erst im August 2019 hat die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt: „Wir müssen um unser Wirtschaftswachstum kämpfen.“
Das müssen wir – wenn wir vom Kapitalismus ausgehen. Denn wenn die Wirtschaft in unserem jetzigen System stark schrumpft, rutschen wir in eine Rezession. Und die hatten in der Vergangenheit schlimme Auswirkungen für viele Menschen, ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist Griechenland in der Finanz- und Wirtschaftskrise (2007 bis 2010). Viele Menschen verloren ihre Arbeit. Der Staat musste mit weniger Steuereinnahmen auskommen und hat deshalb zum Beispiel die Renten gekürzt, sodass viele ältere Menschen verarmten. So viele wollen also Wachstum, weil wir es momentan brauchen.
Das konnte man auch in der Corona-Pandemie beobachten. Hätte der Staat nicht eingegriffen und mehr Kurzarbeit ermöglicht, Zuschüsse gegeben und Unternehmen wie die Lufthansa gerettet, dann wären viele Millionen Menschen arbeitslos geworden. Sie hätten vielleicht ihre Wohnungen aufgeben müssen, auf jeden Fall aber weniger Dinge gekauft. Dadurch wären noch mehr Unternehmen in Bedrängnis gekommen, noch mehr Menschen ihre Arbeit verloren – du kannst dir vorstellen, wie die Spirale weitergeht.
Seit wann brauchen wir Wachstum?
Eigentlich gibt es den Wachstumsdruck, seit die Menschen sesshaft geworden sind. In „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ beschreibt Yuval Noah Harari, dass der Übergang von einer Gesellschaft als Jäger:innen und Sammler:innen zur Landwirtschaft dazu geführt hat, dass die Bevölkerung gewachsen ist. So kam der Druck, Wachstum zu haben, um alle ernähren zu können.
Seitdem hat sich der Mensch bemüht, sein Leben bequemer zu gestalten. Über viele Jahrtausende war das Wachstum allerdings sehr klein. Unser exponentielles Wachstum ist keine 200 Jahre alt.
Denn über lange Zeit war der Fortschritt immer daran gekoppelt, was ein Mensch leisten konnte. Mit Pflügen und Ochsen konnte man das Feld zwar schneller bearbeiten als mit der Hand. Aber erst mit der Erfindung von Maschinen konnte sich Wachstum komplett von der menschlichen (oder tierischen) Kraft abkoppeln.
Was auch eine wichtige Rolle spielt: Die heutige Form des Kapitalismus würde nicht so gut funktionieren, wenn wir nicht Dinge kaufen würden, die wir nicht brauchen. Ein Mensch, der hier einen großen Einfluss hatte, war der Neffe von Sigmund Freud – Edward Bernays. Er hatte im Krieg gesehen, wie wirkungsvoll Propaganda ist, und fragte sich, ob man sie auch in Friedenszeiten nutzen könnte. Weil der Begriff „Propaganda“ aus dem Krieg negativ konnotiert war, nannte er es „public relations“ und machte Werbekampagnen für große Kunden. Richard Gunderman schreibt in einem Artikel über Edward Bernays für The Conversation: „Indem er Menschen überzeugte, dass sie etwas wollen, was sie nicht brauchen, wollte er Bürger:innen und Nachbar:innen zu Konsument:innen machen.“ Heute prasselt überall Werbung auf uns ein, auf Youtube, Instagram, der Straße. Und wir merken oft gar nicht, wie sie uns immer neue Wünsche einpflanzt.
Harald Welzer schreibt in „Mehr geht nicht! Der Postwachstums-Reader“, dass wir den Drang, immer produktiver zu werden, auch auf unser persönliches Leben übertragen. „Die Zwänge zur permanenten Fortentwicklung und Selbstoptimierung“, schreibt Welzer, „sind uns längst und unbemerkt zum Selbstzwang geworden.“
Was ist schlecht an Wachstum?
Wissenschaftler:innen wie Kate Raworth, Tim Jackson, Jason Hickel oder Julia Steinberger kritisieren unseren Fokus auf Wachstum. Die wahrscheinlich bekannteste Begründung: Eine endlos wachsende Wirtschaft, die auf endlichen Ressourcen basiert, kann auf Dauer nicht funktionieren. Das globale Wirtschaftswachstum war bisher immer mit einem höheren CO2-Ausstoß verbunden. Dass die Welt hier ihre Grenzen erreicht, zeigt die globale Klima- und Umweltkrise. Ausführlich sind wir auf diese Frage im ersten Text dieser Serie eingegangen.
Vielleicht weniger bekannt, aber mindestens genauso wichtig: Kapitalismus und Wirtschaftswachstum beruhen auf Ausbeutung. Der globale Norden beutet Rohstoffe und Menschen im globalen Süden aus und profitiert massiv davon. Nehmen wir einmal an, wir schaffen es, unsere weiter wachsende Wirtschaft so umzubauen, dass sie keine Treibhausgasemissionen mehr verursacht – und das auch noch schnell genug, um die Grenze des Pariser Klimaabkommens einzuhalten. Dann bräuchten wir weiterhin immer mehr Rohstoffe, um immer mehr Windräder, E-Autos und grünen Stahl zu produzieren. Dabei zerstört etwa der Lithium-Abbau in Chile jetzt schon den Lebensraum von indigenen Menschen, Pflanzen und Tieren (Lithium brauchen wir für E-Auto-Batterien).
Farhana Sultana, eine bangladeschisch-US-amerikanische Geografin, kritisierte bei einer Konferenz im EU-Parlament: „Die Weltwirtschaft stützt sich weiterhin auf die Ausbeutung von Ressourcen und Menschen aus marginalisierten Gemeinschaften, als ob dies die Norm und nichts anderes vorstellbar wäre.”
Dazu kommt, dass die Vermögen und Einkommen sehr ungleich verteilt sind. Nach Daten der World Inequality Database haben die reichsten zehn Prozent in Deutschland einen Anteil von knapp 40 Prozent am gesamten Einkommen, die ärmere Hälfte nur etwa 20 Prozent. Wenn man sich die Vermögensverteilung anschaut, sind die Unterschiede noch krasser: Die reichsten zehn Prozent sitzen auf etwa 60 Prozent des Vermögens, auf die ärmere Hälfte kommen gerade einmal drei Prozent.
Aber brauchen arme Länder nicht Wachstum, um ihre Bürger:innen aus der Armut zu holen?
Dieser Text bezieht sich vor allem auf Deutschland und Gesellschaften mit einem ähnlich hohen Wohlstandsniveau. In Ländern mit einem niedrigen Wohlstandsniveau und hoher Armut hat Wirtschaftswachstum noch eine andere Bedeutung als bei uns.
Der Ökonom Jagdish Bhagwati sagt im Interview der Taz: „Es gibt kein effektiveres Mittel, um Armut in Entwicklungsländern zu bekämpfen als Wachstum.“ Wirtschaftswachstum hat in der Vergangenheit Milliarden Menschen aus der Armut geholt.
Wirtschaftsanthropologe Jason Hickel schreibt in seinem Buch „Less is more“ allerdings, dass nicht das Wirtschaftswachstum an sich dafür sorgt, dass Menschen besser leben können. Sondern nur Teile davon, nämlich Investitionen in das öffentliche Gemeinwohl wie sanitäre Einrichtungen, eine öffentliche, kostenlose Gesundheitsversorgung, Zugang zu Bildung, Arbeitslosenversicherung, Rentensysteme und so weiter.
Und es gibt auch Menschen, wie den ecuadorianischen Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Alberto Acosta oder den indischen Umweltaktivisten Ashish Kothari, die das klassische Wachstumsmodell nicht als beste Lösung für Länder im globalen Süden sehen. Alberto Acosta ist der Meinung: Die große Aufgabe ist es, „den Respekt und die Harmonie gegenüber unserer Mutter Erde wieder herzustellen.“ Das sei die einzige Möglichkeit, wie die Menschheit auf diesem Planeten überleben kann.
Hilfreich für diese Frage ist auch das Modell der Donut-Ökonomie von Kate Raworth, das soziale und ökologische Grenzen zusammendenkt. Im Loch des Donuts liegen die sozialen Grenzen: In diesen Bereich fallen Menschen, wenn sie nicht genug zu essen bekommen oder keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung haben, wenn sie nicht zur Schule gehen können. Außerhalb des Donuts sind aber die ökologischen Grenzen des Planeten überschritten, wie das unsere immer wachsende Wirtschaft verursacht: In Form der Klimakrise, von Luftverschmutzung und Versauerung der Meere. „Wir wollen in den Doughnut“, sagt Kate Raworth. Denn dort sind die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen gestillt, ohne das wir die Erde zerstören.
Wie würde eine Wirtschaft ohne Wachstum funktionieren?
Damit unsere Wirtschaft ohne Wachstum funktioniert, müssten wir ziemlich viel umbauen. Als Erstes müssten wir dafür sorgen, dass nicht Tausende Menschen ihre Lebensgrundlage verlieren, wenn wir uns als Gesellschaft entscheiden, dass nicht mehr jeder zweite Mensch ein eigenes Auto braucht.
Dafür gibt es verschiedene Vorschläge. Einer davon ist die Idee einer bedingungslosen Grundversorgung. Der Grundgedanke: Jeder Mensch soll das haben, was er zum Leben braucht. Während der Staat beim bedingungslosen Grundeinkommen Geld an alle verteilt, würde die bedingungslose Grundversorgung dazu führen, dass alle weniger Geld brauchen. Weil sie ihre Wohnung günstiger mieten können und kein Geld für Wasser, Strom oder Internet zahlen. Wie das konkret aussehen könnte, erkläre ich in diesem Text.
Jason Hickel schlägt außerdem eine staatliche Jobgarantie vor. Die Jobs gäbe es in Bereichen, die wir als Gesellschaft dringend brauchen: Wärmepumpen einbauen, Häuser dämmen, alte Menschen versorgen, Kinder betreuen. Die Regierung würde diese Jobs fair bezahlen und gute Arbeitsbedingungen garantieren. Dadurch, dass sich alle jederzeit für so einen staatlich garantierten Job entscheiden könnten, würde das auch den Druck auf private Arbeitgeber erhöhen, ihren Mitarbeitenden gute Konditionen zu bieten.
Mit dieser Basis könnten wir dann als Gesellschaft darüber sprechen, welche Branchen wir weiterhin brauchen und welche wir uns leisten können, wenn wir zurück in den Donut, in die planetaren Grenzen kommen wollen. Matthias Schmelzer und Andrea Vetter nennen in ihrem Buch „Degrowth/Postwachstum zur Einführung“ zum Beispiel die Kohle-, Öl- und Gasindustrie, die Autoproduktion, Flugverkehr, Massentierhaltung, Werbung, Lobbyismus und große Teile der Finanzindustrie als Branchen, über die wir sprechen sollten.
Du merkst schon, das sind viele Branchen, an denen sehr viele Jobs hängen. Deshalb gibt es einen weiteren Vorschlag aus der Degrowth-Bewegung, der vielen gefallen dürfte: kürzere Arbeitszeiten. Wenn wir alle weniger arbeiten, wäre dann immer noch genug Arbeit für alle da. Und weil sich weniger zu arbeiten gerade nur manche Menschen leisten können, kommt eine weitere Forderung ins Spiel: Umverteilung.
Die Soziologin Silke van Dyk sagt im Interview der Wochenzeitung Der Freitag: „In einer Ökonomie, die nicht mehr oder nur noch gering wächst – und Letzteres ist in den Ländern des globalen Nordens längst Realität –, braucht es radikale Umverteilung.“
In einem Vortrag vergleicht van Dyk den Wirtschaftsboom der Nachkriegsjahre mit einer Fahrt auf einer Rolltreppe. Die Einkommen sind in dieser Zeit stark gestiegen, alle Menschen sind also mit der Rolltreppe nach oben gefahren. Aber sie haben auf der Rolltreppe nicht ihre Plätze gewechselt. Die Verteilung blieb also relativ gleich. „Es musste denen oben nichts genommen werden, um denen unten deutlich mehr geben zu können“, sagt van Dyk.
In einer Postwachstums-Ökonomie würde die Rolltreppe vielleicht sogar ein Stück nach unten fahren, und dann wird es noch viel wichtiger, wer wo auf der Rolltreppe steht. Die Verteilung ist entscheidend dafür, ob etwa eine Arbeitszeitverkürzung umsetzbar ist.
Vorschläge, um Einkommen und Vermögen gerechter zu verteilen, sind etwa eine höhere Erbschaftssteuer oder zusätzlich zum Mindestlohn auch ein Maximaleinkommen.
Wenn wir ein System schaffen würden, das nicht mehr auf Wirtschaftswachstum angewiesen ist, würde auch das BIP als Indikator keinen Sinn mehr machen. Eventuell würden andere Indikatoren wichtiger werden, wie der „Happy Planet Index“ oder der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI), in den auch die Einkommensverteilung einfließt, sowie ehrenamtliche Tätigkeiten und Ausgaben für Bildung und Gesundheit (Rechnet man so, ging es Deutschland übrigens 1999 am besten.)
Wie würde mein Leben dann aussehen?
Auch wenn Wirtschaftswachstum oft mit Glück in Zusammenhang gebracht wird: In Deutschland ist die durchschnittliche Lebenszufriedenheit in den vergangenen Jahrzehnten relativ konstant geblieben, während die Wirtschaft weiter gewachsen ist. Ein kleineres BIP bedeutet nicht automatisch, dass wir weniger zufrieden sind.
Wie stark sich dein Leben verändern würde, kommt natürlich darauf an, wie du jetzt lebst. Eine bedingungslose Grundversorgung würde dafür sorgen, dass arme Menschen deutlich mehr haben als jetzt. Reiche hätten insgesamt weniger, weil sie höhere Steuern zahlen würden.
Wer weniger arbeitet und weniger Geld verdient, würde wohl auch weniger konsumieren. Und wahrscheinlich seltener Dinge aus einem schnellen Impuls heraus kaufen, ohne zu überlegen, ob man sie wirklich braucht. Laut einer Studie von Greenpeace ziehen die Menschen in Deutschland im Schnitt ein Fünftel ihrer Kleidungsstücke fast nie an. In einer Degrowth-Gesellschaft hätten wir weniger Kleidung und würden sie regelmäßig anziehen.
Weil wir weniger arbeiten würden, hätten wir mehr Zeit für Freund:innen, die Familie, zum Plauschen mit den Nachbar:innen und, um uns ehrenamtlich oder politisch zu engagieren. Wenn insbesondere Männer die frei gewordene Zeit nutzen würden, um sich mehr um ihre Kinder, Haustiere und den Haushalt zu kümmern, könnte die Care-Arbeit insgesamt gleicher verteilt sein.
Eventuell, wenn wir uns wirklich mehr mit unseren Nachbar:innen unterhalten würden, würden wir uns wieder trauen, Dinge zu teilen, wie Schlagbohrer, Rasenmäher, Waschmaschinen.
Wir würden sauberere Luft atmen. Statt parkenden Autos am Straßenrand gäbe es mehr Grün, Bänke zum Sitzen, Platz, um mit Straßenkreide auf den Boden zu malen. Wir würden ein Wirtschaftssystem schaffen, in dem wir nicht mehr drei Erden verbrauchen würden, sondern nur noch so viel nutzen, wie die Erde in einem Jahr regenerieren kann.
Um das zu schaffen, müssten wir unseren CO2-Fußabdruck drastisch senken. Wobei „wir” viel zu stark verallgemeinert. 2019 haben die ärmsten zehn Prozent der Menschen in Deutschland im Schnitt etwa drei Tonnen CO2 verursacht, die reichsten zehn Prozent etwa 33 Tonnen.
Gäbe es dann noch Unternehmen?
Natürlich. Aber, wie gesagt, es gäbe weniger Arbeit. Das könnte heißen, dass Unternehmen weniger Mitarbeiter:innen einstellen oder genauso viele Mitarbeiter:innen für eine kürzere Zeit beschäftigen. Als VW in den 1990er Jahren deutlich weniger Autos verkaufte, entschied das Unternehmen, die Vier-Tage-Woche für alle Mitarbeiter:innen einzuführen. Dadurch musste VW keine Mitarbeiter:innen entlassen. Ein Unternehmen, das schon jetzt nach dem Postwachstums-Gedanken handelt – und trotzdem wächst – stellen wir euch hier vor.
Wenn wir in einer Wirtschaft leben, die faire Löhne und ökologische Produkte mehr belohnt (zum Beispiel durch ein verändertes Steuersystem), würden Unternehmen vielleicht andere Schwerpunkte haben. Unternehmer:innen würden mehr Wert darauf legen, dass Produkte möglichst lange halten und leicht zu reparieren sind. Unternehmen könnten Waschmaschinen vermieten, anstatt sie zu verkaufen. Und viele Unternehmen würde es so nicht mehr geben. Wenn U-Bahnfahren kostenlos wäre und Parkplätze immer teurer, würden sich wohl weniger Menschen ein Auto kaufen. Autohersteller würden pleitegehen, sich verkleinern, neue Geschäftsmodelle suchen. Und wer für diese Unternehmen arbeitet, müsste Unterstützung bei einer Umschulung bekommen.
Viele Modegeschäfte wie H&M oder Zara oder Schuhhersteller wie Nike setzen darauf, dass wir uns jedes Jahr neue Kleidung kaufen, weil sich die Mode ändert, oder neue Schuhe, weil sie modern sind. Werbeagenturen leben davon, dass Unternehmen immer neue Produkte verkaufen wollen. Wenn sich die Prioritäten von wohlhabenden Menschen verschieben und sie lieber mit Freund:innen an den See gehen, anstatt noch länger zu arbeiten, um das dritte Paar Sneaker oder eine Smartwatch zu kaufen, würden viele Unternehmen nicht überleben.
Aber, wie gesagt: Der Staat würde bei Umschulungen unterstützen und es könnte eine Jobgarantie geben.
Kann Deutschland eine Degrowth-Gesellschaft überhaupt im Alleingang umsetzen, wenn die Welt nicht mitzieht?
In Ansätzen auf jeden Fall. Deutschland hatte für drei Monate das 9-Euro-Ticket, was schon fast eine bedingungslose Grundversorgung beim öffentlichen Verkehr war. Solche Einzelmaßnahmen kann man ausweiten. Kürzere Arbeitszeit für alle, höhere Erbschaftssteuern, schnellerer Kohleausstieg – das alles ließe sich umsetzen.
In unserer globalisierten Welt können aber natürlich Unternehmen und Menschen (wenn sie einen Pass aus dem richtigen Land besitzen und genug Geld haben) einfach abwandern, wenn ihnen die Bedingungen nicht gefallen. Außerdem: Wenn wir als Menschheit das Ziel haben, so zu leben, dass wir die Grenzen des Planeten nicht überschreiten, dann klappt das nur, wenn alle mitziehen. Trotzdem kann ein einzelnes Land einen Anfang machen, genau wie einzelne Menschen und Unternehmen Vorreiter für eine nationale Postwachstums-Ökonomie sein können.
Aber geht nicht auch beides: wachsen und gleichzeitig Klima und Umwelt schützen?
Green New Deal, Grünes Wachstum, Qualitatives Wachstum. Viele Politiker:innen und Ökonom:innen wollen das Problem lösen, indem sie vorschlagen, dass wir anders wachsen. Das klingt für viele verlockend. Es klingt wie ein Weg, das Klima zu retten, ohne dass wir unseren Lebensstil groß verändern müssen.
Zu wachsen, ohne der Umwelt zu schaden, würde aber bedeuten, dass Wachstum ohne Ressourcenverbrauch und ohne CO2-Emissionen funktionieren müsste. In dem Buch „Wohlstand ohne Wachstum“ beschreibt Tim Jackson die sogenannte IPAT-Gleichung. IPAT steht für: Impacts on Ecosystems = Population * Affluence * Technology. Sie sagt also aus, dass die Umweltauswirkungen von dem, was Menschen tun, von drei Faktoren abhängen: der Zahl der Menschen, dem Einkommen pro Person und dem Technologiefaktor, der misst, welche Auswirkungen jeder ausgegebene Dollar oder Euro auf die Umwelt hat.
Konzentrieren wir uns einmal nur auf die CO2-Emissionen, nicht auf die anderen Umweltauswirkungen. Tim Jackson schreibt: „Seit 1990 ist die Kohlenstoffintensität im Durchschnitt um 0,6 Prozent (pro Jahr) gesunken.“ (Kohlenstoffintensität heißt, wie viel Kohlenstoff jeder ausgegebene Dollar oder Euro verursacht.) „Das ist gut, aber nicht gut genug. Die Bevölkerung hat mit einer Rate von 1,3 Prozent zugenommen. Und das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen (inflationsbereinigt) hat im gleichen Zeitraum um 1,3 Prozent zugenommen. Die Wachstumsrate der Kohlenstoffemissionen beträgt also 1,3 + 1,3 - 0,6 = 2 Prozent pro Jahr.“
Wenn wir den CO2-Ausstoß bis 2050 so sehr reduzieren wollen, dass wir die Klimakrise stoppen können, müsste die Kohlenstoffintensität jedes Jahr um über acht Prozent sinken – mehr als zehnmal so schnell wie jetzt, schreibt Jackson. Die Rechnung gilt, wenn wir davon ausgehen, dass dann 9,7 Milliarden Menschen auf der Erde leben und das Pro-Kopf-Einkommen weiter wächst wie bisher.
Wenn in den letzten 30 Jahren die Kohlenstoffintensität im Schnitt jedes Jahr um 0,6 Prozent abgenommen hat – wie soll sie plötzlich zehnmal so schnell sinken? Klar können wir darauf hoffen, dass die wundersame Erfindung kommt, die das möglich macht. Aber das ist sehr unwahrscheinlich.
Aber in Deutschland sinken doch die Emissionen, während die Wirtschaft weiter wächst!
Das stimmt. Fachleute sprechen dabei von „absoluter Entkopplung“. Die lässt sich in einigen Ländern beobachten, vor allem in reichen, die schon sehr viele Treibhausgasemissionen verursachen. In einer Studie haben sich Forschende genau diese Länder angesehen, in denen es über einen längeren Zeitraum so eine absolute Entkopplung gab, in denen also das BIP gestiegen ist, während die Emissionen gesunken sind. Außerdem haben sie die Emissionsrückgänge in diesen Ländern mit dem verglichen, was nötig wäre, um das Pariser Klimaabkommen einzuhalten. Das Ergebnis: Kein Land hat die starken Rückgänge erreicht, die für die 1,5-Grad-Grenze notwendig wären. In manchen Ländern gehen die Emissionen in manchen Jahren so stark zurück, dass es reichen würde, um die 2-Grad-Grenze nicht zu überschreiten – aber nicht konsistent über lange Zeiträume.
Wir leben jetzt in einer Wachstumsgesellschaft. Der Umbruch hin zu einer Post-Wachstumsgesellschaft wäre doch gigantisch. Wie soll das gelingen?
Bisher dreht sich die Degrowth-Debatte in Deutschland sehr stark um Verzicht: Weniger Kleidung kaufen, kein Fleisch essen, nicht mehr fliegen. Das könnte auch damit zusammenhängen, dass der Ökonom Niko Paech lange der bekannteste Postwachstums-Vertreter in Deutschland war. Wenn ich an Paech denke, denke ich unter anderem an sein Sakko. 2012 schrieb die Zeit in einem Text über Paech: „Wenn er in seinen Vorträgen die Notwendigkeit betont, weniger zu konsumieren, kommt er gerne auf sein Sakko zu sprechen. ,Das habe ich auf dem Flohmarkt gekauft und von einer Änderungsschneiderei anpassen lassen.“ Und der Spiegel 2013: „Er selbst trägt sein braun-gestreiftes Sakko schon seit 25 Jahren.“
Ich kaufe mir gerne ab und zu eine Jacke, eine Jeans, ein Paar Schuhe, einfach, weil ich sie schön finde. Zugegeben, meistens Secondhand, aber das ist nicht für alle Menschen gut möglich. Und ich glaube, Menschen ein schlechtes Gewissen zu machen, ist nicht der beste Weg, um sie mit neuen Vorschlägen zu erreichen.
Dabei geht es bei Degrowth um viel mehr, und der Vorschlag einer bedingungslosen Grundversorgung hat für die meisten Menschen nichts mit Verzicht zu tun. Viele Menschen würden in einer Degrowth-Gesellschaft besser leben als heute. Jason Hickel fordert zum Beispiel, dass sich die Klimabewegung mit Gewerkschaften zusammentun sollte und Sozialpolitik stärker in den Vordergrund rücken.
Gleichzeitig findet es die Autobranche nicht gut, wenn sie sich verkleinern soll. Und nicht alle reichen Menschen wollen gerne abgeben. Das haben wir an den Diskussionen gesehen, ob es legitim ist, wenn Paare mit 150.000 Euro zu versteuerndem Jahreseinkommen kein Elterngeld mehr bekommen.
Bei so einem starken Umbruch gibt es Machtkämpfe. Viel wird aber auch davon abhängen, wie die Degrowth-Bewegung in Zukunft kommuniziert und welche Bündnisse entstehen.
Welche politischen Parteien unterstützen Postwachstum?
Das Konzeptwerk Neue Ökonomie hat sich zur Bundestagswahl 2021 die Wahlprogramme von CDU/CSU, Grünen, SPD, Linken und FDP angeschaut, mit der Frage: „Ist Klimagerechtigkeit wählbar?“ Die meisten Degrowth-Ansätze fanden sich im Programm der Linken, zum Beispiel plädierte die Partei für einen sozialökologischen Systemwechsel weg vom Kapitalismus mit einer absoluten Begrenzung des Ressourcenverbrauchs. Weitere Beispiele sind die Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten und einer Jobgarantie.
Ansonsten gab es noch am ehesten im Wahlprogramm der Grünen Ansätze in Richtung Degrowth. Zum Beispiel die Forderung, stärker in öffentliche Infrastrukturen zu investieren oder die Pflegearbeit durch eine 35-Stunden-Woche aufzuwerten.
Wenig überraschend gibt es im Koalitionsvertrag der Ampel keine Forderungen nach Degrowth und die Parteien betonen mehrmals, dass sie das Wirtschaftswachstum sicherstellen wollen.
Hat so ein Umbruch jemals in der Vergangenheit funktioniert?
In einem Arbeitspapier für das Kolleg Postwachstums-Gesellschaften schreibt Frank Adler, dass es in der Geschichte keinen Vergleich gibt, etwas wie einen bewussten Übergang zu einer Postwachstums-Gesellschaft.
Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann nennt in ihrem Buch „Das Ende des Kapitalismus“ die britische Kriegswirtschaft als Beispiel. Da war zwar nicht Degrowth das Ziel, aber die Brit:innen hatten den Zweiten Weltkrieg nicht kommen sehen und mussten schnell die Rüstungsproduktion hochfahren, sodass weniger Kapazität für die restliche Wirtschaft blieb. Daraufhin gab der Staat vor, was produziert werden sollte, die Unternehmen blieben aber weiterhin privat. Einige Lebensmittel waren so knapp, dass der Staat sie rationierte. Aber Herrmann schreibt: „Die staatlich verordnete Gleichmacherei erwies sich als ein Segen: Ausgerechnet im Krieg waren die unteren Schichten besser versorgt als je zuvor.“
Darüber, ob die britische Kriegswirtschaft ein attraktives Beispiel ist, kann man streiten. Es zeigt aber, was möglich ist, wenn wir Krisen als Chancen begreifen. Und dafür brauchen wir auch gar nicht so weit in die Vergangenheit zu gehen. Erst in der Corona-Pandemie haben wir gesehen, was Regierungen alles verändern können, wenn wir anerkennen, wie groß die Bedrohung ist. Und was den meisten in der Corona-Pandemie wohl am stärksten gefehlt hat, gäbe es in einer Degrowth-Gesellschaft noch mehr als heute: Besuche bei guten Freund:innen, Spieleabende, Umarmungen und Partys.
Danke an alle, die uns ihre Fragen geschickt haben! Und Danke an Dominik Heißler, Jakob Kandler und Leonie Sontheimer für ihren Input zum Text.
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Susan Mücke; Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert