Die 300 Besetzer schienen aus dem Nichts gekommen zu sein. Als sie am 15. April die Oberbaumbrücke, eine der wichtigsten Brücken Berlins, blockierten, hatten nur wenige ihren Namen in Deutschland schon einmal gehört: Extinction Rebellion (XR). Sie saßen mitten auf der Straße, die Polizei sperrte die Brücke, Autofahrer mussten sich einen anderen Weg suchen. Das Motto der Aktivisten: „Rebellion für das Leben.“ Polizisten trugen einen Aktivisten nach dem anderen weg. Nach zweieinhalb Stunden konnten wieder Autos über die Spree fahren.
Zur gleichen Zeit in London: die Kreuzungen am Marble Arch, am Oxford Circus, am Piccadilly Circus, die Waterloo Bridge über die Themse und der Platz vor dem Parlament. Alle besetzt, alle gesperrt von tausenden Aktivisten, fast zwei Wochen lang. Die Bilder der Pressefotografen zeigen Mütter, Clowns, Trommler, Klavierspieler, einen Mann mit Hängematte in einem Baum und Demonstranten, die sich an ein pinkes Boot gekettet haben.
Immer wieder verhaftet die britische Polizei Aktivisten: Mehr als 300 sind es nach drei Tagen, mehr als 1.000 nach neun Tagen. Am Samstag, den 27. April, finden auf der ganzen Welt „Die-ins“ statt: In Glasgow etwa gehen Aktivisten in das Naturkundemuseum und legen sich unter das mächtige Skelett von „Dippy“, einem Diplodocus-Saurier. Die Aktivisten wollen sagen: Als nächstes sind wir Menschen dran – wenn wir so weitermachen wie bisher.
Sie wollen wiederkommen, immer wieder
Als die Demonstranten ihre Aktionen beenden, wischen sie ihre Slogans von den Mauern, fegen die Straßen. Nur wenige Tage später verkünden die Nachrichten Schlagzeilen wie diese: „Proteste führen zu einem starken Anstieg des Webtraffics zum Thema ‚Klimawandel‘“, „Wales erklärt den Klimanotstand“. Und: „Labour will eine Abstimmung über die Ausrufung des ‚Klimanotstands‘ in England erzwingen.“
Die Aktivisten in Deutschland, Großbritannien und mindestens 31 anderen Ländern haben zwar zusammengepackt. Aber nur für kurze Zeit. Sie wollen wiederkommen. Immer wieder. So lange, bis die Regierungen die Klimakrise ernst nehmen. Sie glauben, um es mit den Worten von Roger Hallam, einem der Vordenker von Extinction Rebellion, zu sagen: „We are fucked.“
Ich schreibe hier über Extinction Rebellion, weil mir selbst bewusst geworden ist, dass wir die Folgen des Klimawandels für die Menschen völlig unterschätzen. Ja, die Meere werden Städte überspülen, ja die Stürme werden heftiger, ja, die Dürren dauern länger. Aber sprechen wir wirklich offen darüber, was das für unsere Gesellschaft bedeutet? Darüber, dass ein zusammenbrechendes Klima auch unsere politischen Ordnungen erschüttern wird und so kein Themenfeld unberührt lassen wird?
In meinem letzten Artikel habe ich deswegen geschrieben, dass die Klimakrise von vielen wichtigen Themen das wichtigste ist: „Alle Fortschritte, die Aktivisten in den vergangenen Jahrzehnten erkämpft haben, stehen wieder auf dem Spiel in einer Welt, die beständig mit dem Notstand operieren muss.“ Nachdem der Text erschienen war, haben mich einige Menschen gefragt, was sie selbst nun tun können.
Wir haben bei Krautreporter schon begonnen, genau darüber zu schreiben. Theresa Bäuerlein hat abgewogen, ob unsere persönlichen Konsumentscheidungen überhaupt etwas bewirken können, Krautreporter-Mitglied Stefan Krüger hat uns gezeigt, wie man mit Tüftelei und Erfindungsgeist seinen CO2-Ausstoß um 80 Prozent senken kann und einige aus der Krautreporter-Community haben eine Liste mit kleinen Ideen für jeden zusammengestellt. Aber bei all diesen Dingen ist immer klar: Nur, wenn alle an einem Strang ziehen, kann der Klimazusammenbruch verhindert werden, und das bedeutet: Es braucht politische Entscheidungen. Ideen gibt es genug: CO2-Steuer einführen, Subventionen für Öl und Gas streichen, Verkehrswende einleiten, große Aufforstungsprogramme beginnen.
Ein Wohnzimmer im Berliner Stadtteil Wedding. Um mich herum sitzen drei Aktivistinnen von Extinction Rebellion, alle älter als dreißig, eine von ihnen hat einen Säugling auf dem Schoß. Sie heißt Anna Herzog und sagt: „Greta Thunbergs Rede in Davos hat mich als Mutter erwischt. Es ist zu krass, dass ein junges Mädchen vernünftiger ist als die Erwachsenen.“ Ihr gegenüber sitzt Elena Jentsch: „Bevor ich bei Extinction Rebellion mitgemacht habe, hatte ich schon immer viel gespendet. Aber das reichte mir nicht mehr.“ Daneben Friederike Schmitz: „Im vergangenen Herbst habe ich von den Aktionen von Extinction Rebellion im Guardian gelesen. Ein Text hat mich sehr beeindruckt: ‚Hunderte sind bereit, ins Gefängnis zu gehen‘“
Die drei machen bei Extinction Rebellion mit, weil sie, klar, deutlich zu alt für einen Schulstreik wie bei Fridays for Future sind. Aber sie eint noch mehr: „Die Bereitschaft, selbst Nachteile zu erleben“, sagt Anna Herzog. Extinction Rebellion setzt konsequent auf Aktionen des zivilen Ungehorsams: Brücken besetzen, Kreuzungen blockieren, Zugverbindungen unterbrechen. Dabei kann es durchaus passieren, dass man einmal festgenommen wird.
Was Extinction Rebellion von Fridays for Future unterscheidet
Wer ein politisches Ziel erreichen will und keinen Zugang zu staatlicher Macht hat (Parlamente, Ministerien), muss Druck von unten aufbauen. Die klassischen Methoden kennt jeder: Unterschriften sammeln, Demonstrationen organisieren. Aber ziviler Ungehorsam funktioniert etwas anders: Die Regeln zu brechen, ist hier Teil des Kalküls, deswegen ist dieser Protest ungehorsam. Die Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren in den USA begann mit einer schwarzen Frau, die sich weigerte, gemäß der damaligen Regeln ihren Sitz für weiße Passagiere zu räumen. Die Mauer fiel, weil Hunderttausende DDR-Bürger demonstrierten, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen.
Allerdings ist dieser Protest nicht nur ungehorsam, sondern auch zivil. Die drei Aktivistinnen von Extinction Rebellion, die ich getroffen habe, wären nicht bei dieser Bewegung dabei, wenn sie militant wäre, also gewalttätig.
Während ich mit den Aktivistinnen spreche, liegen auf dem Wohnzimmertisch drei Bücher: ein Sammelband zu „Gewaltfreiem Aktivismus“, eine aktuelle Betrachtung zu Gandhis Methoden und „Why Civil Resistance Works“ – eine großangelegte Studie (110 Jahre, 323 Kampagnen) von Maria J. Stephan und Erica Chenoweth, über die ich vor vier Jahren schrieb: Die Forscherinnen zeigen, dass „überwiegend gewaltfreie Bewegungen erfolgreicher waren als überwiegend gewalttätige. Ihre Chancen sind doppelt so hoch, dass sie ihre Ziele komplett oder teilweise erreichen. Der Grund: Wer friedlich demonstriert, kann viel mehr Menschen dazu bewegen, Widerstand zu leisten und so unmittelbar den Druck auf die Regierung zu erhöhen.“
Ich habe schon einige Aktivisten getroffen, selten lagen bei ihnen komplexe statistische Untersuchungen aus der Sozialwissenschaft auf dem Tisch. Aber als ich zurück in der Redaktion war, erkannte ich, dass das eigentlich nur folgerichtig war. Denn die Aktionen von Extinction Rebellion folgen einem größeren Plan. Diese Bewegung dürfte die erste sein, die konsequent versucht, Erkenntnisse aus der Politikwissenschaft umzusetzen.
Was im Strategiepapier von Extinction Rebellion steht
Einer ihrer Gründer, der britische Politikwissenschaftler und Sozialunternehmer Roger Hallam hat die Blaupause für Extinction Rebellion schon 2015 veröffentlicht. Auf dieses Papier bin ich nach dem Treffen mit den Aktivistinnen gestoßen. Hallam schreibt darin: „Seit über 40 Jahren gibt es konkrete Sozialforschung dazu, wie politisches Handeln wirksamer werden kann. Durch den wissenschaftlichen Vergleich verschiedener Maßnahmen ist es möglich, konkrete Fortschritte zu erzielen, herauszufinden, welche Politiken, Verfahren, Taktiken und Strategien am besten zu weiteren radikalen Zielen führen.“ Wenn Bewegungen dieses Wissen nicht nutzen, scheitern sie, so Hallam. „Wir müssen begreifen, dass clevere Gegner keine Bedenken haben, die neueste sozialwissenschaftliche Forschung zu nutzen, um ihre Erträge zu maximieren und die sozialen und politischen Rechte weiter zu untergraben, die bereits vor unseren Augen verschwinden.“
In dem knapp 50-seitigen Aufsatz hat Hallam skizziert, was eine erfolgreiche Bewegung von weniger erfolgreichen unterscheidet. Es sind mehrere Prinzipien. Etwa die conditional commitments: Hört sich abstrakt an, ist aber ganz einfach. Nehmen wir an, ein Vermieter will ein Haus mit zehn Wohnungen modernisieren, um danach die Mieten kräftig anheben zu können. Sich als Einzelner zu wehren, ist schwierig. Einer der Bewohner könnte in dem Haus von Wohnung zu Wohnung gehen und den anderen eine einfache Frage stellen: „Wärst du bereit, aus Protest keine Mieten zu zahlen, wenn alle anderen auch mitmachen?“ Stimmen alle zu, kann es losgehen. Aus einer versprengten Aktion eines Einzelnen wird eine kollektive.
Vor Extinction Rebellion bauten die britischen Initiatoren um Roger Hallam eine Organisation namens Rising Up! auf, die genau auf diese Art Aktionen des zivilen Ungehorsams organisiert hat. Aktuell kann man sich etwa auch an „kleinen Sabotage-Aktionen“ gegen jene britische Medien engagieren, die 80 Prozent des Marktes beherrschen und fünf Milliardären gehören.
Was aber, wenn man genug Menschen zusammen hat, die sich engagieren wollen? Man plant laut Hallam dilemma actions: Aktionen, die so angelegt sind, dass sie die Autoritäten vor eine schwierige Wahl stellen. Reagieren sie nicht, verlieren sie an Autorität, so wie die SED 1989, deren Ohnmacht mit jeder neuen Montagsdemonstration immer sichtbarer wurde. Reagiert der Staat allerdings mit Härte und verfolgt die Regelbrüche, riskiert er, noch mehr Menschen zu mobilisieren. Rosa Parks, die schwarze Aktivistin, die sich 1955 weigerte, ihren Platz im Bus für einen Weißen freizugeben, wurde verhaftet. Daraufhin begann ein Busboykott, der den Anfang der Bürgerrechtsbewegung markierte.
Die Aktivisten von Extinction Rebellion haben immer wieder solche Dilemmata erschaffen. Die Berliner Oberbaumbrücke friedlich zu blockieren, ist ein Regelverstoß. Ein Naturkundemuseum mit einem „Die-in“ de facto zu besetzen, ist nicht erlaubt. Würde die Polizei darauf allerdings mit dem Einsatz von vermummten Hundertschaften, Tränengas, Knüppelei und Massenverhaftungen reagieren, würden das viele Menschen nicht verstehen. Schließlich haben die Aktivisten selbst ja keine Gewalt angewendet.
Die gleiche Logik greift auch bei Friday for Future: Stellen wir uns vor, dass der Staat die Schulpflicht plötzlich durchsetzen würde, indem Polizisten bei den Demonstrationen alle Schüler aus der Menge herausholen und in die Schule bringen. Was würde dann passieren?
Aber eine Zutat braucht es immer
Auch die cleversten Aktionen nützen aber nichts, so Hallam, wenn niemand davon etwas mitbekommt. Deswegen sucht sich Extinction Rebellion berühmte, zentral gelegene Orte, deswegen betreiben sie eine Medienarbeit, die der von gestandenen politischen Parteien überlegen ist. In den sozialen Medien verbreiten sie jede noch so kleine Aktion, es gibt gute Fotos davon (auch unser Aufmacherbild stammt daher) und die FAQs auf ihrer Webseite sind erschöpfend.
Wie wichtig es tatsächlich ist, sichtbar zu sein, habe ich im Frühling 2017 gezeigt, anhand der beiden Europa-Bewegungen Pulse of Europe und Diem25. Über Pulse of Europe erschienen viele Artikel. Diem 25 hingegen hatte zwar die stabilere Struktur und das ausgefeiltere Programm, aber fast niemand sprach darüber. Warum? Pulse of Europe hatte Demonstrationen, Diem25 nicht. Damals schrieb ich (und das gilt nicht nur für Journalisten, sondern für alle Menschen): „Demos sind für Journalisten ganz wunderbar. Sie sind – bitte missversteht das nicht als Zynismus, sondern als einfache Beschreibung – für einen politischen Journalisten sehr aufregend. Denn plötzlich wird aus dem großen, abstrakten Wesen ‚Politik‘ etwas sehr Konkretes, der Mensch, der da gerade vor mir auf der Straße steht und etwas will.“ Wenn also Extinction Rebellion einen Platz besetzt, besetzen sie gleichzeitig auch unsere Aufmerksamkeit.
Hallam setzt aber noch auf eine dritte Methode: open spaces. Sie sollen „einen sicheren Raum schaffen, in dem die Menschen frei miteinander besprechen können, was sie politisch stört“. Offen über seine Anliegen zu reden und zu sehen, dass andere die gleichen Anliegen teilen, mache Mut, glaubt Hallam. Damit sollen „zwei Dinge geschehen, die oft als widersprüchlich angesehen werden: Kreativität und Empowerment in kleinen Gruppen fördern – und einen Plan für gemeinsame Aktionen beschließen“.
Extinction Rebellion ist um diese Idee herum aufgebaut. Es gibt lokale und nationale Gruppen, die sich wiederum aufspalten in verschiedene Arbeitsgruppen: Outreach, Aktion, Medien, aber auch zum Beispiel ein Team regenerative Kultur, das dafür sorgt, dass die Aktivistinnen untereinander auf ihre Gefühle achten. Für die Berliner Aktivistin Anna Herzog hat das von Anfang an einen Unterschied gemacht: „Das war mir in diesem Zusammenhang neu.“
Extinction Rebellion stammt aus Großbritannien, dort hat sie die meisten Unterstützer und dort haben Roger Hallam und andere die Bewegung aufgebaut. Einige von ihnen waren vorher schon bei anderen Initiativen dabei. Sie versuchen aus den Fehlern von damals zu lernen. Beispiel Occupy, die große Anti-Ungleichheits- und Anti-Wall-Street-Bewegung, die nach der Finanzkrise entstand. Anstatt öffentlichen Plätze dauerhaft zu besetzen und so die Energie der Aktivisten und das Wohlwollen der Öffentlichkeit systematisch zu zermahlen, haben ihre Aktionen immer ein klares Ende.
Wenn wir das alles zusammendenken, wird die Strategie von Extinction Rebellion klar: Den alltäglichen Ablauf unserer Gesellschaft auf friedliche Weise stören, dafür Öffentlichkeit schaffen und so neue Menschen für sich gewinnen, die entweder direkt selbst mitmachen oder wenigstens auf das Klimathema aufmerksam werden. Wenn die Strategie aufgeht, werden bei den nächsten Aktionen, die Extinction Rebellion gerade plant, nicht eine Brücke in Berlin besetzt, sondern zwei. Nicht fünf Plätze in London, sondern vielleicht acht. Das schafft dann wieder Öffentlichkeit, neue Menschen schließen sich an. Es entsteht ein sich selbst verstärkender Kreislauf, der den Druck auf die Regierungen immer weiter erhöht. Wenn die Aktionen friedlich bleiben, das glaubt Extinction Rebellion, muss die Regierung irgendwann nachgeben.
Eine Frage bleibt noch. Ein Leser hatte sie mir vor dem Interview mitgegeben: Braucht es das wirklich? Haben wir mit der Fridays-for-Future-Bewegung, die sich längst schon auf Wissenschaftler, Eltern, Großeltern ausgedehnt hat, nicht schon eine effektive Bewegung in Deutschland? Extinction Rebellion und die anderen Bewegungen ergänzten sich, sagen mir die Aktivistinnen. Viele, die zu ihnen kommen, hätten sich vorher noch gar nicht engagiert, außerdem seien ihre Strategien ja auch unterschiedlich. Aber es gebe auch Gespräche darüber, künftig zusammenzuarbeiten. Denn das Ziel sei das Gleiche: Druck auf die Regierungen zu machen.
In der Gedankenwelt von Extinction Rebellion nehmen drei Zahlen einen entscheidenden Platz ein: 2025, 0 und 3,5 Prozent. 2025 sollen die C02-Emissionen auf null reduziert sein, und die Aktivisten glauben, dass sie die Regierungen nur dazu kriegen, wenn sie ungefähr 3,5 Prozent der Bevölkerung für sich gewinnen. Diese Zahl taucht oft auf, und auch Anna Herzog, Elena Jentsch und Friederike Schmitz zitieren sie. Allein in Berlin wären das 120.000 Menschen, die sich in irgendeiner Form engagieren müssten, in Deutschland 2,87 Millionen.
„Wir haben noch viel Arbeit vor uns“, sagt Friederike Schmitz.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Martin Gommel.