„Ich lebte in den 60er Jahren in Südengland, und jedes Mal, wenn ein Wind aus Osteuropa herüberwehte, wurde die Luft so seltsam diesig. Man konnte nicht mehr klar sehen, nicht weiter als ein paar hundert Meter. FCKW waren damals zwar bekannt – aber niemand wusste über die Auswirkungen Bescheid. Es sind sehr kleine Komponenten; die Leute erwarteten nicht, dass sie eine solch verheerende Wirkung haben könnten. Ich auch nicht. Aber ich fragte mich: Was ist wohl der Grund für die diesige Luft?“ – Jim Lovelock
In diesem Text geht es um ein Stück Weltgeschichte. Nämlich um das sogenannte Montreal Protokoll (MP), das manche Stimmen als das wichtigste Umweltabkommen überhaupt bezeichnen; ein vergleichbares hat es weder davor noch danach noch einmal gegeben.
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Dieser Text erschien das erste Mal vor fünf Jahren, ist aber immer noch wichtig und interessant. Deswegen haben wir ihn grundlegend aktualisiert. KR-Botschafter Benni empfiehlt ihn als „großartiges Beispiel für Constructive Journalism, wunderbar recherchiert, hätte man so wahrscheinlich nirgendwo anders gelesen. Hatte das Gefühl wahnsinnig viel Neues zu lernen.“
Als das Abkommen am 16. September 1987 verabschiedet wurde, hatten es 24 Länder unterzeichnet – heute sind es 196. Das MP verbot schrittweise und in einem langjährigen Prozess die Produktion von Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) und anderen Chemikalien, die das Ozonloch verursacht hatten. Zahlreiche Organisationen waren an der Entstehung des Abkommens beteiligt. Das MP führte dazu, dass bis heute mehr als 99 Prozent aller ozonschädigenden Substanzen verboten wurden und sich die Ozonschicht um die Erde langsam erholt. Das ist ein schleichender Prozess, der jährlichen Schwankungen unterliegt, doch in einem Zeitraum von 50 bis 100 Jahren, davon gehen Wissenschaftler:innen raus, wird das Ozonloch wieder intakt sein.
Ich habe dessen Entdeckung und die Erfolgsgeschichte des Montreal Protokolls rekonstruiert – und dafür mehrere Wochen lang rund um den Globus telefoniert, unter anderem nach Mexiko-City, Seattle, Brüssel, Washington, Hamburg, Bonn, Cambridge, Philadelphia, Vermont, London und Texas. Weil ich wissen wollte: Wie kam es zu dieser Erfolgsgeschichte? Könnte es ein vergleichbares Abkommen heute wieder geben, Stichwort Klimakrise? Und was haben die Macht des Zufalls, ein verhängnisvoller Fehler der NASA, ein Nobelpreisträger und tote Hamster mit dem Montreal Protokoll zu tun?
Kapitel I
Ein Erfinder reist auf einem Schiff in die Antarktis. Kleine Teilchen werden zur großen Bedrohung.
Jim Lovelock, 99, Chemiker und Mediziner, wies mit einem selbst erfundenen Detektor als erster Fluorchlorkohlenwasserstoffe in der Atmosphäre nach:
Lassen Sie mich eine kleine Geschichte erzählen: 1954, als ich am National Institute for Medical Research in London forschte, arbeitete ich an einem etwas seltsamen Projekt: Ich fror Tiere ein, um sie anschließend wieder aufzutauen und zum Leben zu erwecken. Was aber nur bei Hamstern funktionierte. Jedenfalls wollte ich herausfinden, wie Lipide in den Zellmembranen lebender Zellen bei diesem Vorgang beschädigt werden. Am Institut waren zwei Kollegen, die als Analysemethode die Gaschromatographie erfunden hatten, mit der man chemische Gemische untersuchen kann. Ich ging also zu einem meiner Kollegen und fragte: „Kannst du meine Proben für mich analysieren?“ Er sagte: „Klar, wie viel ist es denn?“ Ich: „Nur ein paar hundert Mikrogramm.“ „Das kann ich nicht analysieren, da bräuchte ich mindestens das Hundertfache“, sagte mein Kollege.“ Und dann sah er mich an, lachte und sagte: „Oder du erfindest einfach ein sensibleres Gerät, dann könnten wir es natürlich analysieren.“ Das war eine Herausforderng. Ich liebe Herausforderungen.
Mario Molina, 76: Chemiker, entwickelte mit seinem Kollegen Sherwood Rowland in den 1970er-Jahren jene Theorie, die in den USA eine öffentliche Diskussion über FCKW auslöste. Er erhielt für seine Forschung 1995 den Nobelpreis:
Jim Lovelock war als Wissenschaftler ein Spezialfall: Er arbeitete frei, war nicht an eine Universität angebunden, was sehr unüblich ist. Er entwickelte damals den Elektroneneinfangdetektor, mit dem man Umweltschadstoffe nachweisen kann.
Jim Lovelock, Erfinder des Elektroneneinfangdetektors:
Innerhalb von zwei Wochen hatte ich den Argon-Detektor erfunden, und 1956 den Elektroneneinfangdetektor (ECD). Das Gerät basiert auf der Interaktion eines Stoffes mit Elektronen. Der ECD macht es vergleichsweise einfach, auch kleinste Mengen verschiedener Komponenten nachzuweisen – darunter auch FCKW.
Mack McFarland, 71, Atmosphärenforscher, arbeitete ab 1983 für den amerikanischen Chemiekonzern DuPont, dem weltweit größten FCKW-Produzenten, gilt als wichtige Schlüsselfigur auf Seiten der amerikanischen Industrie, was einen Richtungswechsel im Umgang mit FCKW betraf:
Thomas Midgley hatte die Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) in den Zwanzigern entwickelt, 1928 oder 1929, das weiß ich nicht mehr ganz genau. Die FCKW machten einen guten Job und waren als Chemikalie sehr erfolgreich: Sie waren einfach zu benutzen, nicht entflammbar, und sie ersetzten toxische Stoffe. Deswegen konnte man sie gut in der Kältetechnik einsetzen, in Klimaanlagen, Kühlschränken, als Lösemittel oder als Aerosole in Spraydosen. DuPont führte die ersten FCKW in den 1930ern ein.
Jim Lovelock, Erfinder des Elektroneneinfangdetektors:
Man dachte, vielleicht lag der Grund für die diesige Luft über dem Süden Englands an irgendeinem Gas, das aus dem Boden kam. Ich machte ein paar Analysen, danach war mir klar: Nein, aus dem Boden konnte es nicht kommen. Wenig später habe ich dann herausgefunden, dass die ganze Sache mit den FCKW zusammenhängen musste. Besonders überrascht hat mich das nicht. Ich wusste, dass die FCKW in der Luft waren; mit diesen Spraydosen, bei denen man nur auf den Knopf drücken musste, und schon kamen die FCKW raus. Überall auf der Welt benutzten die Leute diese Spraydosen.
Mario Molina, Nobelpreisträger:
Damals wusste niemand von einem Ozonloch – und niemand ahnte, dass es so etwas geben könnte.
Jim Lovelock, Erfinder des Elektroneneinfangdetektors:
Nachdem ich meine ersten Messungen zu Hause in England gemacht hatte, wollte ich wissen, ob sich FCKW auch an anderen Stellen in der Atmosphäre finden würden, und wenn ja, in welcher Menge. Also dachte ich: „Es wäre eine gute Sache, die FCKW in der Luft rund um den Globus zu messen!“ Um das zu schaffen, überlegte ich weiter, wäre es sinnvoll, auf einem Schiff mitzureisen, das von England aus so weit wie möglich fahren würde, und über den Verlauf der ganzen Reise den FCKW in der Luft nachzuspüren. Genau das habe ich dann gemacht, 1971. Es war meine erste Reise an den Südpol. Ich bin gern auf kleinen Schiffen unterwegs, und die Shackelton war ein sehr schönes kleines Schiff; sehr komfortabel, bequeme Betten. Seekrank wurde ich nicht, damit habe ich keine Probleme. Ich blieb drei bis vier Wochen an Bord, das reichte, um meine Messungen mit dem ECD durchzuführen. Das Ungewöhnliche an meinen Ergebnissen war: Die Mengen an FCKW, die der ECD in der Atmosphäre nachweisen konnte, waren fast gleich mit der Menge dessen, was weltweit jährlich produziert wurde. Mit anderen Worten: Diese Gase sammelten sich in der Atmosphäre, die die Erde umgibt, und blieben dort, ohne zu verschwinden – oder sie verschwanden nur sehr langsam.
Kapitel II
Zwei Wissenschaftler entwickeln eine wichtige Theorie. Die Amerikaner wollen keine Spraydosen mehr kaufen.
Mario Molina, Nobelpreisträger:
1972 veröffentlichte die renommierte Fachzeitschrift Nature einen Bericht von Lovelock mit seinen Ergebnissen. Er postulierte, dass FCKW an verschiedenen Stellen in der Atmosphäre gefunden werden konnten. Es waren diese Ergebnisse, die Sherwood Rowland und mir als Grundlage für unsere Arbeit dienten. Denn jetzt stellte sich die Frage: Was passiert mit den FCKW in der Atmosphäre? Ist ihre Existenz dort ein Problem? Sogar, wenn sie nur in sehr kleinen Konzentrationen vorkommen? Diese Fragen wollten wir beantworten. Weil wir dachten, damit etwas Sinnvolles für die Gesellschaft zu tun. Was uns antrieb, war wissenschaftliche Neugierde, wir hatten ja nicht gezielt nach einem Umweltproblem Ausschau gehalten – weder Rowland noch ich waren Experten auf dem Gebiet der Atmosphärenforschung. Ich hatte gerade meinen PhD an der University of California in Berkeley abgeschlossen, Rowland war an der Universität in Irvine. Die Szene der Leute, die sich mit diesem Thema auskannten, war damals sehr klein und überschaubar. Als wir am Anfang mit unserer Theorie um die Ecke kamen, glaubte Lovelock uns nicht.
Jim Lovelock, Erfinder des Elektroneneinfangdetektors:
Molina und Rowland hatten ja keine Messungen. Alles, was sie hatten, war eine Theorie.
Mario Molina, Nobelpreisträger:
Unsere Theorie sah folgendermaßen aus: Die FCKW können in der Erdatmosphäre gemessen werden. Und weil sie sehr stabil sind, können sie in der Stratosphäre, also in der zweiten Schicht der Erdatmosphäre, landen. Wenn die FCKW in Höhen über der Ozonschicht gelangen – die unsere Erde vor ultravioletter Strahlung schützt – dann werden sie dort durch die Strahlung in ihre Bestandteile zerlegt. Im Zuge dessen werden Chlor-Atome freigesetzt, freie Radikale. Die sind sehr reaktionsfreudig und reagieren schnell mit Ozonmolekülen. Ausgehend von dem, was wir damals wussten, postulierten wir, dass es sich um einen katalytischen Effekt handeln könnte. Was nichts anderes bedeutet, als dass ein einzelnes Chlor-Atom Zehntausende Ozon-Moleküle zerstören kann. Das war der zentrale Teil unserer Idee: Dass schon sehr kleine Mengen von FCKW einen sehr großen Effekt haben könnten, aufgrund einer katalytischen Reaktion. Eine erschreckende Vorstellung.
Jim Lovelock, Erfinder des Elektroneneinfangdetektors:
Nachdem Molina und Rowland ihren Fachartikel 1974 veröffentlicht hatten, flog ich mit einem Militärflugzeug in die Stratosphäre in etwa 15 Kilometer Höhe und führte Messungen des FCKW-Anteils durch, was Molinas und Rowlands These stützte. Aber ich bin niemand, der schnell Angst bekommt. Das ist nicht mein Stil. Obwohl ich schon damals dachte, dass die FCKW auf lange Sicht wohl verboten werden sollten.
Mario Molina, Nobelpreisträger:
Nachdem unsere Theorie veröffentlicht worden war, beschlossen Rowland und ich: Wir müssen das unter die Leute bringen, unsere Ergebnisse der breiten Masse zugänglich machen. Denn die Ozonschicht schützt die Erde vor einer zu hohen UV-Einstrahlung, also vor Strahlenschäden, und wenn diese Schicht zu stark abgebaut wird, ist das ein Problem. Wir starteten öffentliche Anhörungen in verschiedenen Bundesstaaten der USA. Und erklärten den Leuten, dass das, was wir mit unserer Theorie annahmen, ein sehr großes Risiko für die Gesellschaft bedeutete. Auch wenn wir unseren Kritikern recht gaben, dass weitere Messungen unbedingt erforderlich waren. Viele unserer Kollegen dachten zunächst, wir würden übertreiben. Und schon, als wir das erste Mal mit der Presse sprachen, dämmerte uns, dass es nicht einfach war, unser Problem zu beschreiben. Wir sprachen ja von einem unsichtbaren Gas, das unsere Erde vor unsichtbaren Strahlungswellen schützte, die wiederum eine unsichtbare Schicht zerstören konnten. Und das alles mussten wir den Leuten irgendwie erklären. „Das braucht viel Geduld“, dachte ich ganz am Anfang. Damals konnten wir ja noch nicht ahnen, dass wir für unsere Forschung zur Ozonschicht einmal den Nobelpreis bekommen würden!
Alan Miller, Jurist, leitete für die amerikanische NGO Natural Resources Defense Council (NRDC) 1983 die erste Klage gegen die amerikanische Umweltschutzbehörde EPA ein, woraufhin diese gezwungen war, Regularien zum Schutz der Ozonschicht zu erarbeiten:
Am Anfang, als Rowland und Molina ihre These von der Zerstörung des Ozons aufgestellt hatten, interessierte sich niemand dafür. Ich glaube mich erinnern zu können, dass es lediglich einen einzigen Zeitungsartikel dazu gab. Aber etwas später, nach der Veröffentlichung ihres Artikels 1972, war die öffentliche Resonanz bemerkenswert schnell. Das ging so weit, dass die Leute freiwillig aufhörten, Spraydosen zu kaufen, die FCKW enthielten, etwa Deos oder Haarspray. Und es gab eine Firma, SC Johnson, die Produkte auf den Markt brachte, auf denen stand: „Ohne FCKW!“ Das war noch weit vor der offiziellen Regulierung.
Susan Solomon, 69, Atmosphärenchemikerin, lieferte in den 80er Jahren essenzielle Erkenntnisse zum Verständnis des Ozonlochs über der Antarktis:
Was in den 70ern in den USA passierte, nachdem Rowland und Molina ihre Theorie veröffentlicht hatten, war, dass die Öffentlichkeit tatsächlich ein immenses Interesse an diesem Thema bekam. Weil der Schwund der Ozonschicht, so glaube ich, ein sehr persönliches Thema war; alle hatten Angst, dass sie aufgrund einer dünneren Ozonschicht Strahlungsschäden erleiden könnten – die letztlich Hautkrebs auslösen können. Also beschlossen viele Konsumenten, auf Spraydosen mit FCKW zu verzichten. In Deutschland gab es eine ähnliche Entwicklung damals noch nicht.
Wolfgang Lohbeck, 74, Jahrzehnte lang bei Greenpeace Deutschland aktiv, entwickelte Ende der 80er die erste große Anti-FCKW-Kampagne von Greenpeace in Deutschland:
In Deutschland kam das Interesse nur sehr zögerlich. Bei uns war in dieser Zeit das Waldsterben das Thema, das alles überlagerte. Obwohl der Ozonschwund auch international schon ein Dauerbrenner war – und die Amerikaner FCKW in Sprühdosen 1978 verboten hatten. Aber Deutschland zählte mit Frankreich und England zu den Hauptstandorten der FCKW-Produktion in der Europäischen Gemeinschaft, bei uns saßen die Firmen Hoechst und Kali Chemie. Wir waren damals mit Greenpeace in Deutschland auch nicht wirklich schnell, da haben wir uns nicht sonderlich mit Ruhm bekleckert. Muss man schon sagen: Mit den FCKW haben wir uns schwergetan, weil es eine Zeit lang so ein bisschen auf uns wirkte wie eine „Spezialität“ aus Amerika. Rückblickend muss ich mich wundern, weil das Ozonproblem ja schon seit Mitte der 70er Jahre bekannt war.
Susan Solomon, Atmosphärenforscherin:
Den Konsumenten in den USA fiel es nicht schwer, auf die FCKW in Aerosolform zu verzichten; man konnte ja zum Beispiel statt eines Deo-Sprays einfach ein Deo-Roller benutzen – ich mache das heute immer noch. In den 70ern war der amerikanische Konsument sehr umweltbewusst; das war generell eine Zeit in den USA, in der das ökologische Bewusstsein erwachte und erste umweltpolitische Maßnahmen ergriffen wurden.
Kapitel III
In den USA erwacht der Umweltaktivismus. Ein Überschallflugzeug wird zum internationalen Problem.
Alan Miller, Jurist und Umweltlobbyist:
Es gibt einen großen Unterschied in der Zeit damals und heute: In den 70ern hatte die Umweltbewegung gerade erst begonnen, auch die Umweltwissenschaften. Der erste Tag der Erde 1970 oder der Clean Air Act, beides waren Nachfolgen großer Katastrophen gewesen. Es war eine Zeit, in der die Umweltschutzbewegung in den USA ihren Höhepunkt erlebte und sich wichtige Organisationen wie der Natural Resources Defense Council (NRDC) oder die amerikanische Umweltschutzbehörde EPA bildeten.
Stephen Andersen, 71, arbeitete von 1986 bis 2009 für die amerikanische Umweltschutzbehörde EPA, war außerdem Co-Chair des Technology and Economic Assessment Panel des Montreal Protokolls:
Ich studierte an der Universität of California in Berkely. Die Zeit, als ich an die Uni kam, war die Zeit der Anti-Kriegs-Bewegung für Vietnam, der Frauenrechts- und Bürgerbewegung – und ich war bei allem dabei. Ich sah aus wie ein Hippie; trug lange Haare, coole Klamotten. Berkeley war eine wundervolle Universität, aber auch ein Ort des Aktivismus, es war wirklich eine großartige Zeit! 1976 begann ich, am Environmental Law Institute zu arbeiten, dort habe ich auch Alan Miller kennengelernt. ch muss so etwa 23 Jahre gewesen sein. Wir diskutierten viel damals, unter anderem über das Überschallflugzeug. Einer meiner Professoren hatte einen Vertrag vom United States Government bekommen, seit 1974 untersuchte ich die Auswirkungen von Überschallflugzeugen auf die Ozonschicht, dabei war das Projekt in den USA damals schon am Auslaufen. Aufgrund von Forschungsergebnissen, die einen negativen Einfluss auf die Umwelt zeigten, hatten sich die Amerikaner aus dem Projekt zurückgezogen. Das war sowohl für Frankreich als auch für Großbritannien eine große Enttäuschung.
Susan Solomon, Atmosphärenforscherin:
In den 70ern hatten Großbritannien und Frankreich beschlossen, dass sie zusammen die Concorde bauen wollten und die Flugzeuge in der Stratosphäre fliegen würden. Die USA waren anfangs ebenfalls interessiert, entschieden sich aber am Ende dagegen. Die Amerikaner hatten noch überlegt, ihr eigenes Überschallflugzeug zu bauen, aber Boeing sagte, dass das nicht profitabel sei. Großbritannien und Frankreich waren wirklich verärgert, als die USA sich aus dem Projekt zurückzogen, sie sagten: „Wir wollen das machen!“ Und die USA sagten: „Es ist aber aus ökologischen Gründen ein Risiko“ – in diesem Fall bot die Wissenschaft eine, wie ich es nenne, „bequeme Wahrheit“ an: Die USA wollten an dem Projekt eigentlich aus wirtschaftlichen Gründen nicht mitwirken, und die Wissenschaft bot ihnen einen gutes Argument für den Ausstieg, weil das Überschallflugzeug die Ozonschicht beschädigen könnte. Vor diesem Hintergrund wurde das FCKW-Problem anfangs in diplomatischen Kreisen diskutiert. Die Sache mit dem Überschallflugzeug führte zu einem enormen Konflikt zwischen Großbritannien/Frankreich auf der einen und den USA auf der anderen Seite. Und das wurde wiederum zum Problem bei den späteren Verhandlungen im Rahmen des Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht und des Montreal Protokolls.
Alan Miller, Jurist und Umweltlobbyist
Die umweltpolitische Szene entwickelte sich in Europa um einiges langsamer als in den USA, anfangs gab es in Europa viel Skepsis. Aber 1978 lud das deutsche Umweltbundesamt im Rahmen der OECD zu einem zweiten internationalen Meeting rund um die FCKW nach München ein. Wenn man das von heute aus betrachtet und an die großen Konferenzen zum Thema Klimawandel denkt, an denen Tausende Menschen teilnehmen, war es ein wirklich sehr kleines Treffen, vielleicht 100 Leute. Keine Presse, keine Wissenschaftler. Ich arbeitete damals für den NRDC, weswegen ich an dem Treffen in München teilnahm. Die Stimmung dort war nicht gerade freundlich; Großbritannien und Frankreich warfen den USA „ökologischen Extremismus“ vor, weil sie sich gegen das Projekt Überschallflugzeug entschieden hatten. Deutschland stand irgendwie zwischen diesen Fronten und begnügte sich mit der Rolle des Gastgebers, verhielt sich sonst eher passiv. Ich erinnere mich außerdem noch, wie verwundert ich darüber war, dass bei der Konferenz als Repräsentanten der europäischen Delegationen hauptsächlich Vertreter der Industrie zugegen waren.
Kapitel IV
Die Industrie spielt auf Zeit. Ein Mann entdeckt in der Atmosphäre über der Antarktis ein Loch.
Susan Solomon, Atmosphärenforscherin:
Lassen Sie es mich so sagen: Die Industrie in den USA war zu dieser Zeit schon stark unter Druck geraten. Wegen der Konsumenten, die keine FCKW mehr kaufen wollten. Also hatte sich der Markt für FCKW-Produkte verschlechtert, was in Europa so nicht passiert war. Einige Firmen in den USA hatten bereits begonnen, an Alternativen zu forschen. Ich würde nicht sagen, dass die Industrie in den USA ganz vorne mit dabei war, dass sie also einen Wandel vorantrieb. Das ist ein falsches Gerücht. Aber sie hatte Grund, sich um Alternativen zu bemühen – weil sie ihre Produkte nicht mehr unter die Konsumenten bringen konnte.
Alan Miller, Jurist und Umweltlobbyist:
Die Patente liefen zu dieser Zeit sowieso aus, auch das führte zu einem wirtschaftlichen Druck, nach Alternativen zu den FCKW zu forschen. Aber ein paar Typen aus der Industrie, auch von der Firma DuPont, die damals weltweit der führende Produzent von FCKW war, waren wirklich aggressiv. Sie attackierten mich, sie attackierten Rowland. Wann immer ich einen öffentlichen Auftritt hatte zum Thema Ozonschwund und FCKW oder einen Artikel dazu schrieb, waren sie an Ort und Stelle und stellten meine Aussagen infrage. Für mich war das nicht so sehr ein Problem, aber für Rowland zum Beispiel schon; er verlor dadurch Forschungsgelder und Einladungen zu Konferenzen. Der Industrie war schlicht jedes Argument recht, um einen Wandel hinauszuzögern; sie spielten auf Zeit, zweifelten Rowlands und Molinas Hypothese öffentlich an, engagierten eigene Forscher. Zum Glück gab es aber auch Leute bei DuPont wie Mack McFarland. Mit ihm habe ich mich später angefreundet, einen Artikel haben wir auch mal gemeinsam geschrieben.
Mack McFarland, DuPont:
Wissen Sie, ich sehe das anders: Wenn die Industrie angeblich so zögerlich war, wieso hat sie dann damals Millionen von Dollar in die Erforschung der Auswirkungen von FCKW auf die Ozonschicht investiert? Wenn man nicht glaubt, dass an der ganzen Sache etwas dran ist, wieso sollte man dann so viel Geld ausgeben, um die Sache verstehen zu wollen? Als ich 1983 bei DuPont einstieg, gab es schon regelmäßige wissenschaftliche Zusammenfassungen zum Thema Ozon für die Führungsebene des Managements. Außerdem forschte man zu dieser Zeit ja bereits an Alternativen zu den FCKW. DuPont und auch andere Firmen hatten nach Erscheinen der Rowland- und Molina-Theorie damit angefangen.
Jim Lovelock, Erfinder des Elektroneneinfangdetektors:
Ich bedaure, sagen zu müssen, dass es sich um eine stark politisierte Angelegenheit handelte. Tatsächlich zeigt die Geschwindigkeit, mit der die FCKW-Emissionen zurückgingen, dass die Industrie klug und vernünftig reagierte.
Susan Solomon, Atmosphärenforscherin:
Ich persönlich hatte nie ein Problem damit, wie die Industrie sich verhalten hat. Sie war tough, stellte eine Menge guter, schwieriger Fragen, aber zumindest auf der amerikanischen Produzenten-Seite war es so: Sobald die Forschungsergebnisse eindeutig waren, hat sich die Industrie vernünftig verhalten. Und ich möchte noch eine Sache hinzufügen, die ich für sehr wichtig erachte und die meiner Meinung nach einen großen Unterschied darstellt zur Industrie der fossilen Brennstoffe von heute: Die Industrie beschäftigte damals gute Wissenschaftler – ich wünschte, sie hätten heute auch so gute Leute!
Mack McFarland, DuPont:
Mit der Zeit kamen immer mehr Forschungsergebnisse über das Ozon in der Stratosphäre zusammen, aber 1980 erschien ein Bericht der NASA, der nahelegte, dass es aufgrund eines steigenden Methananteils in der Atmosphäre zu einem leicht ansteigenden Ozonanteil kommen könnte. Ich habe gehört, dass DuPont Briefe an die amerikanische Umweltschutzbehörde geschrieben haben soll, in denen stand, dass die Firma aufgrund dieses Berichts nicht mehr weiter an Alternativen zu FCKW forschen würde, weil diese teurer seien als Fluorkohlenwasserstoffe und auch kein adäquater Ersatz. Erst 1986, nachdem man das eigentliche Ozonloch entdeckt hatte, nahmen sie die Forschungen wieder auf.
Susan Solomon, Atmosphärenforscherin:
Nein, ich habe das Ozonloch nicht entdeckt, das waren Farman, Gardiner und Shanklin vom British Antarctic Survey. Ihre Entdeckung hat mich ja erst zu meinen Überlegungen geführt.
Kapitel V
Der NASA unterläuft ein verhängnisvoller Fehler. Zwei wichtige Briefe erreichen ihre Empfänger nicht.
Jonathan Shanklin, Entdecker des Ozonlochs, Wissenschaftler am British Arctic Survey, dem Polarforschungsprogramm Großbritanniens:
In vieler Hinsicht waren unsere Erkenntnisse ein Unfall. Als ich von der Universität in Cambridge kam, stellte mich das Polarforschungsprogramm British Antarctic Survey als Physiker an, 1977 war das. Ich hatte eigentlich Astronom werden wollen, das war mein Traum gewesen, aber ich war einfach zu schlecht in Mathe. Nun war mein Job, die Daten zu überwachen, die von Halley Bay aus der Antarktis zu uns gesendet wurden. Die Forschungsstation war 1956 von der Royal Society für das Internationale Geophysikalische Jahr eingerichtet worden, um die Erdatmosphäre zu erforschen. Von der Halley-Bay-Station erreichten uns riesige Mengen an Rohdaten, unser sogenanntes Backlog: haufenweise Papiere mit Nummern drauf, die man aber erst einmal in die entsprechenden Ozonwerte umrechnen musste. Per Hand – und so wurde es noch gemacht, kurz bevor ich meine Stelle antrat – brauchte man zehn Minuten für eine einzige Umrechnung! Und es gab Dutzende solcher Rechenschritte. Als die Computer aufkamen, war der naheliegende Schritt natürlich, auf ein Computersystem umzusteigen. Aber das war einfacher gesagt als getan. Ich fing meinen Job genau in dieser Übergangsphase an. Es war genau die die richtige Zeit, denn ohne die Übergangsphase hätten wir unsere Entdeckung vielleicht gar nicht gemacht. Weil diese Umstellung bedeutete, dass ich mich wirklich in die ganzen Rohdaten reingraben musste. Ich sichtete Daten aus 20 Jahren Aufzeichnungen, und daraus ergab sich ein klarer Trend, was die Entwicklung der Ozonwerte betraf. Einfach nur die Tatsache, dass ich mir statt der gemittelten Werte die niedrigsten ansah, ergab einen anderen Blickwinkel. Das hatte aber zuvor niemand gemacht.
Paul Newman, Wissenschaftlicher Leiter der Abteilung Earth Sciences der NASA sowie Co-Vorsitzender des Scientific Assessment Panels für das Montreal Protokoll:
Meine Kollegen bei der NASA wussten bereits, dass die Ozonwerte seltsam niedrig waren. Auch schon, bevor die Kollegen vom British Antarctic Survey ihre Erkenntnisse in einem Fachartikel 1985 veröffentlichten, etwa ab 1983/84. Wir hatten einen Satelliten oben, Nimbus 7. War einer der frühen amerikanischen Satellitensysteme. Und Nimbus 7 trug zwei Ozonmesssysteme. Aber wir hatten eben keine Ahnung, warum die Werte so aussahen.
Jonathan Shanklin, Entdecker des Ozonlochs:
Eine der ersten Erkenntnisse, die die Ozon-Messungen schon sehr früh geliefert hatten: Die Atmosphäre über der Arktis unterscheidet sich sehr von der über der Antarktis. In der Arktis finden sich höhere Ozonwerte. Als Wissenschaftler dann zuerst die Werte aus Halley Bay bekamen, dachten sie, etwas stimmte nicht mit den Messungen, weil die Werte, die sie aus der Arktis bekamen, viel höher lagen. Man muss dazu wissen, dass es über der Antarktis den sogenannten Polarwirbel gibt. Das ist ein Windsystem in der oberen Atmosphäre. Ein bisschen kann man sich diese Windströme vorstellen wie Wasser, das in der Badewanne in den Abfluss fließt und dabei solche Spiralen bildet. Genau das passiert in der Stratosphäre der Antarktis, was dazu führt, dass sich die Ozonschicht dort im Winter bis auf minus 78 Grad Celsius abkühlt. Und das wiederum führt zu der Bildung von Eiswolken im Zentrum der Ozonschicht. Es stellte sich heraus, dass es diese Wolken sind, weswegen das Ozonloch über der Antarktis überhaupt entstehen konnte. Weil sich an der Oberfläche dieser Wolken eine chemische Reaktion abspielt: Das Chlor aus den FCKW wird zu Chlormonoxid, das dann wiederum mit Ozonmolekülen reagiert, wenn im Frühling die Sonneneinstrahlung stärker wird. Und diese Reaktion führt letztlich zum Abbau von Ozon.
Mario Molina, Nobelpreisträger:
Wir hatten hier eine völlig neue Situation, denn durch die Eiswolken beschleunigte sich diese Reaktion sogar noch. Das war sehr unüblich; normalerweise verlaufen in der Chemie Reaktionen schneller bei steigenden Temperaturen, nicht bei solchen Minusgraden.
Susan Solomon, Atmosphärenforscherin:
Wie ich schon sagte: Ich habe das Ozonloch ja nicht entdeckt, aber ich denke, es ist fair zu sagen, dass ich damals eine Erklärung lieferte, warum es ausgerechnet in der Antarktis existierte. Es war meine Idee, dass das Besondere an der Stratosphäre über der Antarktis die Stratosphärischen Wolken sein könnten, und dass sich dort eine Oberflächenchemie abspielt, mit der wir die 20 Jahre zuvor nicht gerechnet hatten. Tatsächlich konnte man die Stratosphärischen Wolken im Winter und Frühling mit bloßem Auge sehen, wunderschön sind sie, sehr spektakulär! Es ist nicht dasselbe wie das Polarlicht, falls Sie das denken, aber die Wolken sind auch gefärbt. Wirklich absolut unglaublich! Meine Theorie zur Oberflächenchemie in den Eiswolken wurde sehr wichtig, ich veröffentlichte sie 1985. Ein Jahr später leitete ich dann die nationale Ozon-Expedition an der McMurdo-Forschungsstation in der Antarktis, und wir machten ein paar wichtige Messungen, die eindeutig zeigten, dass die FCKW wirklich das fundamentale Problem beim Ozonanbbau waren.
Jonathan Shanklin, Entdecker des Ozonlochs:
Als ich die Messwerte aus dem Backlog meinem Boss zeigte, brauchte es sehr lange, um ihn davon zu überzeugen, dass die Werte und auch meine Interpretation richtig waren, dass es sich hier nicht um einen Fehler des Messinstruments handelte. Damals war ich seit etwa vier, fünf Jahren beim British Arctic Survey. Mein Boss sagte zunächst: „Warte es ab, nächstes Jahr werden die Ozonwerte wieder auf ihrem normalen Level sein, und wir müssen uns keine Sorgen machen.“ Mich beruhigte das nicht wirklich – aber er war ja der Experte, nicht ich. Tja, bloß waren dann die Werte im nächsten Jahr noch niedriger. Und weil ich ja die Daten aus dem Backlog hatte, konnte ich zeigen, dass in den sinkenden Werten eine Systematik lag: Jedes Jahr waren die Ozonwerte ein bisschen niedriger als in dem Jahr davor. Wir teilten das auch den Leuten von der NASA mit, die mittels Satelliten Messungen durchführten, aber vielleicht haben die NASA-Leute ihre Daten nicht richtig nachgeschaut. Wenn die Leute von der NASA ihre Daten früher ausgewertet hätten, hätten sie das Ozonloch entdeckt und nicht wir.
Paul Newman, NASA:
Es gibt dieses Gerücht, dass meine Kollegen bei der NASA damals ihre Daten aus den Satellitenmessungen weggeworfen hätten, aber das stimmt natürlich nicht. Sie hatten theoretische Kalkulationen erhoben, wie die Ozonwerte bei unterschiedlichen Wellenlängen hätten sein sollen, aber die Werte, die sie dann aus ihren Satellitenmessungen erhielten, waren sehr niedrig. Viel niedriger, als sie angenommen hatten. Am Anfang dachten sie: „Vielleicht stimmt etwas mit unseren Instrumenten nicht, vielleicht ist da was kaputt“ – aber es stellte sich dann heraus, dass das Unmögliche tatsächlich korrekt war. Sie müssen auch bedenken: All das spielte sich vor dem Internetzeitalter ab; wenn man sich mit anderen Wissenschaftlern austauschen wollte, schickte man Briefe hin und her! Und genau das tat Jonathan Shanklin: Er schickte einen Brief an die NASA.
Jonathan Shanklin, Entdecker des Ozonlochs:
Ich schrieb damals zwei Briefe. Der eine ging an eine Arbeitsgruppe, mit der wir zuvor kooperiert hatten. Den anderen schickte ich an das Satellite Ozone Analysis Centre (SOAC). Die Frage war, ob eine von beiden Gruppen unsere niedrigen Ozonwerte verifizieren konnte, und falls ja, ob sie diese vielleicht mit vulkanischen Aktivitäten in Zusammenhang brachten.
Paul Newman, NASA:
Man darf nicht vergessen: Die NASA ist eine riesige Organisation – allein hier im Goddard Space Flight Center arbeiten 10.000 Leute. Jims Briefe erreichten einfach nicht die richtige Person! Und dann ist da noch ein zweites Element der ganzen Geschichte: In den frühen 80ern gab es das World Ozon Data Center (WODC) und jeden Monat oder alle zwei wurden diese roten kleinen Bücher verschickt, die die Atmosphärenforscher dann in ihren Regalen stehen hatten und wo alle Ozonwerte der verschiedenen Messstationen eingetragen wurden. Ganze Reihen von Daten hatten die Leute dann in ihren Büros rumstehen! Ich weiß auch nicht, warum, aber die britischen Kollegen hatte ihre Daten nicht eingetragen. Die Werte der Halley-Bay-Station waren nicht in den roten Büchern! Also wussten wir auch nicht, was los war. Die Daten, die von der Amundsen-Scott-Station kamen, ebenfalls aus der Antarktis, waren in den roten Büchern. Und diese Daten sagten aus, dass die Ozonwerte im Normalbereich lagen. Die Werte waren okay. Daher war der naheliegende Gedanken, als die NASA-Kollegen zunächst die niedrigen Ozonwerte entdeckten, die über Satellit hereinkamen: „Da muss etwas mit unserem Messinstrument nicht stimmen.“ Also zogen die NASA-Leute das Fazit: „Unsere Daten müssen falsch sein.“ Die Kollegen kamen schlicht nicht auf den Gedanken, dass ihre Messwerte stimmen könnten.
Jonathan Shanklin, Entdecker des Ozonlochs:
Kurz nachdem unser Fachartikel im Mai 1985 erschienen war, schauten sich die Leute von der NASA ihren Datensatz an und sagten sich wohl: „Ups, Ihr habt recht!“ Da merkten sie, dass sie etwas sehr Wichtiges übersehen hatten. Fairerweise muss man aber sagen: Zu diesem Zeitpunkt war die Leistung von Computern noch lange nicht so gut wie heute; um aus den Satelliten-Daten, die die NASA zum Ozon sammelte, eine grafische Auswertung zu machen, brauchte man sehr viel Computer-Power.
Paul Newman, NASA:
1986 hatten wir zum ersten Mal Bilder des Ozonlochs. Wir wissen nicht genau, wer dem Phänomen des Ozonschwunds den Namen „Ozonloch“ gegeben hat. Es wird spekuliert, dass es entweder Sherry Rowland gewesen sein muss, der den Begriff in einem Gespräch mit einem Reporter der New York Times äußerte, oder dass die New York Times selbst mit dem Betriff um die Ecke kam. Als die Bilder zum ersten Mal öffentlich gezeigt wurden, schlug das in Wissenschaftskreisen ein wie eine Bombe. Aber auch bei der Industrie und in der breiten Öffentlichkeit.
Kapitel VI
Die Wissenschaft findet eindeutige Beweise. Und die Welt ist schockiert über das Loch in der Atmosphäre.
Stephen Andersen, amerikanische Umweltschutzbehörde EPA:
Als ich vom Ozonloch hörte, blieb mir das Herz stehen. Wenn ich mich recht erinnere, hörte ich zum ersten Mal davon in den Fernsehnachrichten. Mir machte das schreckliche Angst. Bevor ich in den 70ern die Auswirkungen des geplanten Überschallflugzeugs untersucht hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Menschen den Planeten nachhaltig schädigen könnten. Ich dachte, solche Schäden könnten höchstens temporär und lokal sein, dass die Erde sich immer erholen würde. Es war mir einfach nicht in den Sinn gekommen, dass wir als Menschen den Planeten verletzen könnten.
Susan Solomon, Atmosphärenforscherin
Das Ozonloch stellte das dar, was man in der Soziologie eine „harte Krise“ nennt, wir kennen das zum Beispiel von Ebola. Die Öffentlichkeit zeigte damals so ein großes Interesse am Ozonloch, weil es so dramatisch war: Plötzlich war da dieses Loch, mit dem niemand gerechnet hatte, von dem auch die Wissenschaftler schockiert waren. Und die Bilder dazu waren auch noch sehr eingängig. Das Ozonloch vereinigt drei Kriterien, die ich die „Theorie der drei Ps“ nenne: Es hatte durch die Hautkrebsgefahr einen persönlichen Bezug zu jedem einzelnen (personal), es war spürbar (perceptable) und es gab praktische Lösungen (practical solutions). Das sind meiner Meinung nach die Umstände, unter denen die Öffentlichkeit wissenschaftliche Erkenntnisse am einfachsten aufnimmt – und die konkrete Handlungen nach sich ziehen.
Jonathan Shanklin, Entdecker des Ozonlochs
Nachdem die Leute von der NASA ihren Fehler realisiert hatten, flogen sie 1987 mit einem ER-2- und DC-8-Flugzeug von Punta Arenas in Chile direkt in den antarktischen Vortex. Ihre Messungen konnten nachweisen, dass die Ozonwerte sehr klar sanken, wenn die Chlor-Monoxid-Werte stiegen. Und das legte wirklich den Finger in die Wunde: Es war das Chlor aus den FCKW. Ab diesem Punkt war die Sache klar. Die Wissenschaft konnte nicht mehr anders als zu dem Schluss kommen: „Ja, das ist die Erklärung für das, was wir hier sehen.“
Mack McFarland, DuPont
1987, als der Ozon Trends Panel-Report zusammengestellt wurde, bat Bob Watson, der damals bei der NASA das sogenannte upper atmosphere research-programme leitete und das Panel organisierte, alle Beteiligten, nicht über den Bericht zu sprechen bis zu jenem Tag der Veröffentlichung. Aber einige Senatoren schrieben im Frühjahr 1988 in einem Brief an DuPont: „Ihr habt Euch in früheren Jahren dazu verpflichtet, dass Ihr die FCKW ausschleichen werdet, sobald ein handfester wissenschaftlicher Beweis vorliegt, dass ein Schwund der Ozonschicht eine Gefahr für Mensch, Landwirtschaft und Umwelt darstellt. Mit den neuen Messungen, die jetzt vorliegen: Werdet Ihr die Produktion von FCKW stoppen?“ Ich wusste exakt, was in dem Bericht stand, aber ich durfte ja nicht darüber sprechen, bis die offizielle Zusammenfassung veröffentlicht wurde. Ich habe die Antwortbriefe von DuPont nie gesehen, aber mir wurde berichtet, was in ihnen stand: „Wir sehen keinen Beweis.“ Und dann, weniger als einen Monat später, wurde die Zusammenfassung des Ozon Trends Panels schließlich publiziert, das war an einem Dienstag – drei Tage später, am darauffolgenden Freitag, fuhr ich mit meinem Abteilungsleiter in den neunten Stock des DuPont-Gebäudes. Wir gingen ins Büro des Executive Committee von DuPont und hielten eine Präsentation über die neuen Erkenntnisse. Das war der Tag, an dem die Firma einen radikalen Kurswechsel beschloss, der beinhaltete, die FCKW auszuschleichen.
Kapitel VII
Das Montreal Protokoll wird verabschiedet. Eine Erfolgsgeschichte beginnt.
Paul Newman, NASA:
Das Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht, aus dem das Montreal Protokoll hervorging, wurde 1985 verabschiedet – im selben Jahr also, als die Welt vom Ozonloch erfuhr. Manche Stimmen sagen, das MP habe es nur wegen der Entdeckung des Ozonlochs gegeben, aber das stimmt nicht. Die Verhandlungen zum Wiener Übereinkommen und auch zum MP hatten Monate, ja Jahre zuvor begonnen. Die Menschen waren beunruhigt damals, auch schon vor 1985. Jeder war beunruhigt, ich auch. Man wusste über den Ozonabbau Bescheid.
Mack McFarland, DuPont:
Die Industrie in Europa hat sehr lange gebraucht, was ein Umdenken betrifft. Ich weiß nicht, wieso. Aber es gab ja auch unterschiedliche Positionen in den diplomatischen Kreisen.
Paul Newman, NASA:
Das Wiener Übereinkommen kam zustande, noch bevor die Kollegen vom British Arctic Survey ihre Daten veröffentlicht hatten, und es betonte, dass der Ozonabbau ein globales Problem war, um das die Menschheit sich kümmern musste. Aber das Wiener Übereinkommen hatte noch keine Kontroll- und Regulationsmechanismen. Man kann sagen, dass die Entdeckung des Ozonlochs die Verhandlungen beschleunigte. Es war wie ein Motor – oder wie ein Ausrufezeichen.
Susan Solomon, Atmosphärenforscherin:
Bei den Verhandlungen zum Montreal Protokoll war eine große Herausforderung, die Entwicklungsländer mit ins Boot zu bekommen. Die OECD-Länder waren ja die Hauptproduzenten von FCKW, weswegen unter den Entwicklungsländern anfänglich der Gedanke vorherrschte: „Rich men’s problem – rich men’s solution!“ Sie waren außerdem besorgt darüber, dass die Ersatzstoffe viel teurer sein würden. Für die Entwicklungsländer war der Einsatz von FCKW in der Kältetechnik oder in Aerosolen auch deswegen so essenziell, weil die Stoffe nicht teuer waren. Und in dieser Situation kam das MP mit einer hervorragenden Idee um die Ecke: dem Multilateral Fund. Geberländer speisten Geld in diesen Fond ein, der die Entwicklungsländer kompensierte und ihnen bei der Umstrukturierung helfen sollte. Das funktionierte extrem gut und war gar nicht mal so teuer; ein paar Milliarden Dollar reichten, um den Planeten zu retten! Unglaublich! Gleichzeitig wurde vorsichtig eine Regelung verhandelt und verabschiedet, die den Entwicklungsländern zehn Jahre mehr Zeit ließ, die FCKW auszuschleichen und zu ersetzen. Zu dem Zeitpunkt, als diese Frist dann abgelaufen war, waren die Ersatzstoffe schon billig geworden. Man kann also sagen, das MP war ein Triumph auf verschiedenen Ebenen: auf der technischen, der diplomatischen, der wissenschaftlichen. Es war eine Win-Win-Win-Situation für die ganze Welt.
Paul Newman, NASA:
Das Montreal Protokoll hat mich zu einem großen Optimisten gemacht. In meinen zynischen Zeiten, als ich noch an der Universität war, dachte ich: „Wir Menschen verursachen all diese massiven Probleme, und nichts wird getan, um sie zu lösen, blablaba!“ Ich war wirklich ein schrecklicher Zyniker! Aber tatsächlich ist das MP ja der beste Beweis dafür, dass man etwas tun kann – und dass es funktioniert. Jedes Land dieser Erde hat das MP unterzeichnet, sogar der Vatikan! Das ist doch unglaublich! Menschen sind kreativ. Sie können Lösungen finden – und sie werden welche finden.
Susan Solomon, Atmosphärenforscherin:
Wir können tatsächlich eine Veränderung in der Größe und Tiefe des Ozonlochs feststellen. Das schwankt im Zuge der jahreszeitlichen Wetterveränderungen, aber wir können sehen, dass das Ozonloch kleiner wird. Es erholt sich langsam. Und das ist nach all den Jahren wirklich fantastisch!
Jonathan Shanklin, Entdecker des Ozonlochs:
Es wird noch etwa 50 Jahre dauern, bis das Ozonloch Geschichte sein wird – vorausgesetzt, es werden wirklich nirgendwo mehr FCKW produziert und dass sich die Atmosphäre nicht durch andere Einflüsse stark verändert.
Susan Solomon, Atmosphärenforscherin:
Wenn man sich unsere Situation heutzutage anschaut, vor dem Hintergrund des Klimawandels, ist es einfach und verführerisch zu sagen: „So etwas wie das MP könnte wahrscheinlich heute nicht mehr zustande kommen“ – aber so etwas kann immer noch zustande kommen. Man darf nicht so pessimistisch sein. Die Frage ist nur: Was müsste passieren, damit wir ein ähnliches Abkommen auch in Bezug auf den Klimawandel hinbekämen?
Dieser Text wurde am 19. Juli 2023 aktualisiert
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Illustration: Peter Gericke; Bildredaktion: Martin Gommel; Audioversion: Iris Hochberger.
Die wichtigsten Quellen, die mir neben den Orginalinterviews bei meiner Recherche geholfen, findest du hier