Der lange Tod eines Eisgiganten
Klimakrise und Lösungen

Der lange Tod eines Eisgiganten

Vor Kurzem ist in der Antarktis einer der größten jemals registrierten Eisberge abgebrochen. Was passiert jetzt?

Profilbild von von Polarmeerforscher Mark Brandon

Man vergisst nie das erste Mal, wenn man einen Eisberg sieht. Der Horizont eines Schiffes auf dem Meer ist zweidimensional, und es ist schon eine besondere Sache, ein dreidimensionales Eisstück erscheinen zu sehen. Aber in Wirklichkeit ist der erste Eisberg, den man sieht, wahrscheinlich klein. Die meisten Eisberge, die nördlich der Antarktis eine Gefahr für die Schifffahrt darstellen, sind oft viele Jahre alt und am Ende ihrer Existenz. Sie sind kleine Bruchstücke von dem, was einmal den Kontinent verließ.

Hin und wieder bricht jedoch ein Monster vom Rand der Antarktis los und treibt weg. Diese zig Kilometer langen Berge können vielleicht 100 Meter über dem Meerspiegel emporragen und mehrere hundert Meter unter der Oberfläche erreichen. Diese Monster werden als Tafeleisberge bezeichnet – und während Menschen selten etwas von solchem Ausmaß sehen, sind sie Teil des normalen Zyklus von Gletschereis in der Antarktis.

Jeder weiß, dass die Antarktis ein eisbedeckter Kontinent ist, aber das Eis ist nicht statisch. Für einen Wissenschaftler ist es eine dynamische Umgebung – es ist nur eine Frage des Zeitmaßes, das man anlegt. Schnee fällt auf dem Kontinent, mit der Zeit bilden sich dadurch Eisschichten, die sich in Gletschern in Richtung Küste bewegen.

Beim Erreichen des Meeres brechen diese Gletscher entzwei, setzen Eisberge frei (“kalben”) oder bilden große Flächen von treibendem Eis, die sogenannten Eisschelfe. An einigen speziellen Orten können sich Gletscher über Dutzende von Kilometer in den Ozean erstrecken – riesige Eisfinger, mehrere hundert Meter dick, ragen dann in das Meer.

Genau wie eine Wand schützen sie alles, was sich in ihrem Windschatten befindet. Statt von Meereisschollen bedeckt zu werden, kann der Ozean während des ganzen Jahres offenbleiben, um eine sogenannte Polynya zu bilden – das ist eine eisfreie Fläche auf sonst zugefrorenen Gewässern. Zwar friert der Ozean trotzdem, aber das Eis wird von den vorherrschenden Winden ständig weggedrückt. Offenes Wasser während des Winters hilft Robben und Pinguinen zu überleben und regt die Produktion von Phytoplankton wie Algen und Bakterien an.

Wie können wir verfolgen, ob ein neuer Eisberg entsteht?

Ein neuer Artikel in der Zeitschrift Nature Communications, verfasst von einer in der Antarktis arbeitenden Gruppe französischer Forscher, befasst sich mit der 250 Jahre alten Geschichte der Polynya im Windschatten des Mertz-Gletschers. Dieser Gletscher bildet einen dieser Eisfinger, die vom Kontinent reichen, und die Polynya in seinem Windschatten ist bis zu 6.000 Quadratkilometer groß.

Die Gletscherzunge (blau) im Sommer und Winter. Die Polynya ist gelb unterlegt. Campagne et al.

Die Gletscherzunge (blau) im Sommer und Winter. Die Polynya ist gelb unterlegt. Campagne et al.

Sie nahmen Bohrproben in den Ablagerungen am Meeresgrund in der Lee-Region (der rote Stern in den Bildern oben) und gingen in der Zeit zurück, indem sie sogenannte Klimaproxys wie etwa den Titangehalt bestimmten. Was sind Klimaproxys? Das sind indirekte Anzeiger des Klimas, wie sie in natürlichen Archiven wie Baumringen, Eisbohrkernen oder Ozeansedimenten zu finden sind. Titan zum Beispiel zeigt an, wie viel der Ablagerung vom Land stammt.

Diese Proxys verraten uns aber auch, welche Planktonarten in einer bestimmten Periode in der Region vorherrschten: Wenn die Ablagerung von Arten dominiert wird, die im offenen Wasser leben, dann können die Forscher schlussfolgern, dass die Polynya existierte und der Mertz-Gletscher folglich eine lange Zunge hatte, die sich nach Norden ausdehnte. Wenn die Ablagerung von Arten dominiert wird, die im Meereis leben, dann existierten die Polynya und die Gletscherzunge nicht. Es ist eine ziemlich elegante Methode, die Gletscherbewegung zu untersuchen.

Ein Rieseneisberg (rechts) schiebt sich langsam auf die "Zunge" des Mertz-Gletschers zu.

Ein Rieseneisberg (rechts) schiebt sich langsam auf die “Zunge” des Mertz-Gletschers zu. Neal Young / Australian Antarctic Division

Was die Forscher entdeckten, war, dass es etwa alle 70 Jahre für einen Zeitraum von Dutzenden von Jahren keine Mertz-Polynya gibt. Angesichts der Tatsache, dass der Gletscher ungefähr einen Kilometer pro Jahr vorankommt, heißt das, dass sich regelmäßig in dieser Region ein riesiger Eisberg von einer Länge von Dutzenden von Kilometern bildet.

Heutzutage können wir dank der Satellitenbilder nahezu in Echtzeit erleben, wie dies geschieht. So brach im Februar 2010 ein Eisberg los, der fast 900 Milliarden Tonnen Süßwasser enthielt.

Was passiert mit einem abgebrochenen Rieseneisberg?

Eigentlich erwarten wir, dass er nach Norden treibt, weg vom Kontinent. Aber Eisberge von dieser Größe schwimmen nicht einfach davon. Sie stoßen zusammen und schaben entlang jeder relativ flachen Region am Meeresboden entlang und nehmen alles mit, was ihnen in den Weg kommt. Die meisten Menschen wissen, dass die Schleppnetzfischerei dem Meeresboden schadet; stellen Sie sich die Schneise der Zerstörung vor, die 900 Milliarden Tonnen Eis, die am Meeresboden entlang kratzen, hinterlassen können.

B09B kollidiert mit der Mertz-Gletscherzunge, die abbricht – ein neuer Eisberg entsteht

B09B kollidiert mit der Mertz-Gletscherzunge, die abbricht – ein neuer Eisberg entsteht NASA/Goddard/Jeff Schmaltz

Sehr große Eisberge erhalten Erkennungscodes; dieser wurde C28 genannt, da es der 28. Eisberg aus diesem Teil der Antarktis war. Es dauerte zwei Monate, bis C28 das tiefe Wasser erreichte. Dann zerbrach er in zwei immer noch massive Stücke (C28A und C28B, wenn Sie danach fragen). Sie trieben beide weiter, um neue Eisberge hervorzubringen, indem sie im Laufe der nächsten Jahre in immer kleinere Stücke zerbrachen.

Diese riesigen Eisberge sind, wenn sie sich immer noch nah an der Küste befinden, eine schlechte Nachricht für Pinguine, die plötzlich viel weiter wandern müssen – nämlich um den Eisberg herum –, um das offene Meer und ihre Nahrung zu finden. Pech haben Küken, die in der Nähe eines massiven Eisbergs aufwachsen, sie können verhungern. Einige Kolonien sterben vollständig aus.

Während sie wegtreiben, schaffen diese riesigen Eisberge ihren eigenen Lebensraum. Sie kühlen das Meer ab, sorgen für kalte Strömungen und bringen Eisen als Nährstoff in die Ozeane ein. Das bedeutet mehr Algen und Plankton an abgelegenen Orten wie etwa Südgeorgien, rund 3.700 Kilometer vom Südpol entfernt. Dort werden die Eisberge an den Strand gespült und tauen weg.

Im Lauf der vergangenen etwa 50 Jahre ist der robuste Kreislauf aus Wachstum und Verfall im Mertz-Gletscher zusammengebrochen. Die Forscher glauben, dies könne auf große Veränderungen in dem System zurückgeführt werden, wie der Wind über der Antarktis zirkuliert – den sogenannten Southern Annular Mode, kurz SAM. Studien haben uns gezeigt, dass die Art und Weise, wie sich dieser SAM in den letzten Jahrzehnten verändert hat, auf einen vom Menschen hinterlassenen Fußabdruck schließen lässt, Stichwort Klimawandel. Offensichtlich können wir selbst in der Antarktis die Auswirkungen des Menschen auf jahrtausendalte klimatische Vorgänge feststellen.


Diesen Artikel veröffentlichte in Englisch The Conversation. Hier könnt Ihr den Originalartikel lesen. Das Aufmacherbild hat Martin Gommel ausgesucht: NASA

The Conversation