Im Sommer 2017 ist vom Larsen-C-Schelfeis in der Antarktis einer der größten je registrierten Eisberge abgebrochen. Ich leite seit einigen Jahren ein Team, das dieses Schelfeis erforscht und Änderungen verfolgt. Wir haben viele Wochen lang auf dem Eis gecampt, um Schmelztümpel an der Oberfläche und deren Auswirkungen zu untersuchen – und wir haben verzweifelt versucht, bei der dünnen Ozonschicht keinen Sonnenbrand zu bekommen. Im Wesentlichen bestand unsere Vorgehensweise aber darin, das Schelfeis mithilfe von Satelliten im Auge zu behalten.
Was uns überrascht, ist das große Interesse an diesem zwar seltenen, aber durchaus natürlichen Vorkommnis. Denn trotz aller medialen und öffentlichen Begeisterung: Der Riss in Larsen C und das sogenannte Kalben des Eisbergs ist kein unmittelbares Warnzeichen für einen Anstieg des Meeresspiegels, und es besteht keineswegs ein direkter Zusammenhang mit dem Klimawandel. Gleichwohl stellt das Ereignis eine spektakuläre Episode in der jüngeren Geschichte des antarktischen Schelfeises dar, treten hier doch Kräfte zutage, die jedes menschliche Maß übersteigen, an einem Ort, wo nur wenige von uns gewesen sind; ein Ereignis, das die Geografie dieser Region von Grund auf verändern wird.
Schelfeis befindet sich dort, wo Gletscher auf das Meer treffen und das Klima kalt genug ist, um das Eis nicht schmelzen zu lassen, wenn dieses zu schwimmen beginnt. Die Hunderte Meter dicken Eisplatten bilden natürliche Barrieren, die das Abfließen von Gletschern in den Ozean verlangsamen und so den Anstieg des Meeresspiegels regulieren. In Zeiten der globalen Erwärmung ist das Schelfeis von besonderem wissenschaftlichem Interesse, weil es einer doppelten Erwärmung ausgesetzt ist: von oben durch die Atmosphäre, von unten durch das Meer.
In den 1890er-Jahren segelte der norwegische Forscher Carl Anton Larsen längs der Antarktischen Halbinsel nach Süden. Die Halbinsel ragt aus dem antarktischen Kontinent heraus 1.000 Kilometer weit in Richtung Südamerika. Entlang der Ostküste entdeckte Larsen das gewaltige Eisschelf, das nach ihm benannt wurde.
Im darauffolgenden 20. Jahrhundert blieb das Schelfeis – oder vielmehr das, was wir als eine Gruppe von verschiedenen Eisschelfen kennen (Larsen A, B, C und D) – ziemlich stabil. Erst der plötzliche Zusammenbruch von Larsen A (1995) und Larsen B (2002) sowie die anhaltende Beschleunigung der sie speisenden Gletscher lenkte die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler auf den viel größeren Nachbarn Larsen C, das viertgrößte Eisschelf der Antarktis.
Also begann ich 2014 mit Kollegen zu erforschen, welchen Einfluss die Schmelzfläche auf die Stabilität dieses Eisschelfs hat. Schon bald nach Beginn des Projekts hatten wir ein zweites, ebenso bedeutsames Forschungsobjekt, als unsere Kollegin Daniela Jansen einen schnell wachsenden Riss entdeckte, der sich durch Larsen C zieht.
Es ist normal, dass Risse entstehen und Eisberge sich lösen
Dass Risse entstehen und Eisberge sich lösen, gehört zum natürlichen Zyklus der Eisschelfe. Was diesen Eisberg aber so außergewöhnlich macht, ist seine Größe: rund 5.800 Quadratkilometer, die Fläche eines kleinen Bundesstaates der USA. Darüber hinaus gibt es Bedenken, dass die Reste von Larsen C das Schicksal von Larsen B teilen und nahezu vollständig zusammenbrechen könnten.
Mit unserer Arbeit konnten wir nachweisen, dass es signifikante Ähnlichkeiten zwischen dem früheren Verhalten von Larsen B und den aktuellen Entwicklungen bei Larsen C gibt. Wir haben außerdem gezeigt, dass die Stabilität beeinträchtigt sein könnte. Andere Wissenschaftler sind hingegen zuversichtlich, dass Larsen C stabil bleiben wird.
Die Wissenschaftler bestreiten nicht, dass es etliche Jahre dauern wird, bis wir wissen, was mit den Überresten von Larsen C passiert, sobald das Eisschelf beginnt, sich an seine neue Form anzupassen, und wenn der Eisberg allmählich wegtreibt und abbricht. Einen Zusammenbruch wird es in nächster Zeit gewiss nicht geben, zweifellos auch keine direkte Auswirkung auf den Meeresspiegel, denn der Eisberg schwimmt bereits und verdrängt sein eigenes Gewicht im Meerwasser.
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Trotz allerlei Spekulation bedeutet dies, dass das Eis von Larsen C – wenn überhaupt – erst nach Jahren einen nennenswerten Beitrag zum Anstieg des Meeresspiegels leisten wird. 1995 kam es bei Larsen B zu einem ähnlichen Ereignis, als sich ein gewaltiger Eisberg ablöste. Dennoch dauerte es noch sieben Jahre, bis das Eisschelf wegen der allmählichen Erosion der Eisfront instabil genug war, um zusammenzubrechen, sodass die zurückgehaltenen Gletscher beschleunigen konnten. Und selbst hier könnte der Zusammenbruch auf die Schmelztümpel auf der Eisoberfläche zurückzuführen sein.
https://twitter.com/adrian_luckman/status/885169985181667329
Selbst wenn der verbleibende Teil von Larsen C irgendwann einmal – in vielen Jahren – zusammenbrechen sollte, so wird der mögliche Anstieg des Meeresspiegels recht moderat ausfallen. Berücksichtigt man ausschließlich die aufgestaute Wassermenge der Gletscher, die heute in das Larsen-C-Schelfeis fließen, dann dürfte der Anstieg selbst nach Jahrzehnten weniger als einen Zentimeter betragen.
Der Riss war schon auf Bildern aus den 80er Jahren zu erkennen
Das Abbrechen des Eisbergs vom Larsen-C-Schelfeis ist in weiten Teilen, allerdings auf viel zu vereinfachende Weise, mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht worden. Das überrascht nicht, denn nennenswerte Änderungen an den Gletschern der Erde und an den Eisschilden assoziiert man für gewöhnlich mit steigenden Temperaturen. Den Zusammenbruch von Larsen A und B hatte man auf die regionale Erwärmung zurückgeführt, und der jetzt abgebrochene Eisberg verschafft Larsen C in den seit über hundert Jahren bestehenden Aufzeichnungen nur einen hinteren Platz.
Auf Satellitenbildern aus den 1980er-Jahren ist der Riss jedoch als lange etabliertes Merkmal zu erkennen, und es gibt keinen direkten Beweis, dass sein jüngstes Wachstum mit der Erwärmung der Atmosphäre (deren Wärme nicht tief genug in das Eisschelf dringt) oder mit der Erwärmung des Meeres (das als Urheber sehr unwahrscheinlich ist, wenn man bedenkt, dass der größte Teil von Larsen C in letzter Zeit dicker geworden ist) zusammenhängt. Mein Fazit lautet: Es ist wahrscheinlich zu früh, um dieses Ereignis direkt auf einen vom Menschen verursachten Klimawandel zurückzuführen.
Diesen Artikel veröffentlichte in Englisch The Conversation. Hier könnt Ihr den Originalartikel lesen. Das Aufmacherbild hat Martin Gommel ausgesucht: NASA